Geschichtsvergessen und geschichtsversessen zugleich: Der Gebrauch der Geschichte für die Gegenwart dominiert die politischen Debatten auf der Weltbühne und auf ihrer deutschsprachigen Dependance.
Der alte Cicero sagte, die Geschichte sei die Lehrerin des Lebens (historia magistra vitae), und die junge Bachmann, sagt man, habe darauf geantwortet, dass die Geschichte zwar ständig lehre, aber kaum Schüler finde. Das ist ziemlich gut und könnte auch von Oscar Wilde sein, dem man so gut wie jedes originelle Zitat zuschreibt, es sei denn, man glaubt, es war von Churchill.
Churchill wiederum, heißt es dieser Tage auch, fehlt gerade beim „zweiten Jalta“ in Saudi-Arabien, wo sich demnächst Donald Trump und Wladimir Putin als Wiedergänger von Franklin Delano Roosevelt und Josef Stalin treffen sollen, um dort, wie die „Großen Drei“ im Februar 1945 auf der Krim, die Ordnung der Welt und vor allem Europas nach dem großen Krieg zu skizzieren. Nur eben ohne Churchill, denn Keir Starmer, der britische Regierungschef, ist zwar auch ein Sir, aber doch nicht Winston Churchill, und das Vereinigte Königreich ist weder eine Weltmacht noch Teil der Europäischen Union. Überhaupt scheint es so zu sein, dass wir uns politisch-publizistisch gerade in einer Phase befinden, in der man den historischen Rückgriff ohne große Rücksicht auf Verluste zum Einsatz bringt.
Alles hinkt
Nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich, sagte einmal jemand (Wilde? Churchill? Babler?), und man muss sich doch ein bisschen wundern, mit welcher Wucht hier Geschichtsversessenheit und Geschichtsvergessenheit aneinander vorbeiprallen. Trump als Roosevelt? Echt jetzt? Die republikanische Abrissbirne der amerikanischen Bürokratie als Wiedergänger des demokratischen Verfechters der staatlichen Intervention? Aber auch die Idee, dass Wladimir Putin in den bevorstehenden Gesprächen in der Rolle Stalins agieren könnte, wo er doch eigentlich in den Augen des Westens Hitler und in der eigenen Wahrnehmung Peter der Große ist, erscheint mehr als gewagt.
Vor allem, wenn man bedenkt, dass gerade eine weitere Assoziation in Mode gekommen ist, nämlich die diesjährige Münchner Sicherheitskonferenz mit der Münchener Konferenz und dem gleichnamigen Abkommen aus dem Herbst 1938 zu vergleichen. Auch das geht gehörig schief: Im September 1938 einigten sich Hitler, der britische Premierminister Neville Chamberlain, der französische Ministerpräsident Édouard Daladier und der italienische Diktator Benito Mussolini de facto auf die Aufteilung der Tschechoslowakei, und zwar ohne Beteiligung des betroffenen Staates und dessen Schutzmacht, der Sowjetunion. Es war der Höhepunkt der britisch-französischen „Appeasement“-Politik, die Hitlers Ambitionen nicht in Schach hielt, sondern begünstigte. Was meint man also, wenn man München 1938 mit München 2025 vergleicht? Man kritisiert, dass die Amerikaner jetzt im „neuen Jalta“ vorhaben, was England und Frankreich 1938 in München taten, nämlich einem Aggressor so lange alles zu geben, was er will – bis er alles will.
Und das alles, während man die am kommenden Wochenende stattfindende deutsche Bundestagswahl mit der Wahl von 1932 vergleicht, bei der die NSDAP nur 33 Prozent der Stimmen erhalten hatte, die aber reichten, um Hitlers Machtergreifung im Frühjahr 1933 in die Wege zu leiten. Auch wenn vielleicht sogar das besonders geschichtsversessene Aktivistenkollektiv „Zentrum für Politische Schönheit“ in Berlin mit der Idee fremdelt, sich Alice Weidel als Adolf Hitler vorzustellen, wird angesichts des Erstarkens der AfD mit Anspielungen auf die „dunklen Zeiten“ nicht gespart. Das war auch in Österreich während der fünf Wochen so, in denen es so aussah, als würde das Land mit Herbert Kickl erstmals einen freiheitlichen Bundeskanzler bekommen.
Kleine Hitlers, wohin man schaut, aber der große Hitler heißt eigentlich Putin und spielt gerade Stalin
Man könnte zusammenfassend sagen: Kleine Hitlers, wohin man schaut, aber der große Hitler heißt eigentlich Putin und spielt gerade Stalin. Wie kommt es dazu, dass in dieser politisch aufgeladenen Lage allenthalben zu historischen Vergleichen und Anspielungen gegriffen wird, die hinten und vorne nicht stimmen? Haben wir es mit einem Mangel an historischer Bildung bei den politischen Akteuren und ihren publizistischen Interpreten zu tun? Ist inzwischen einfach alles egal? Kann man sich darauf verlassen, dass ohnehin keiner genauer nachfragt, wenn man Churchill, Hitler, Trump und Stalin in einen großen Buchstabentopf wirft, ein paar Mal kräftig mit dem moralischen Zeigefinger umrührt und die dünne Suppe dann mit großer Geste serviert?
Rudolf Burger hat viel über den Missbrauch der historischen Vernunft nachgedacht und darüber, welche Rolle in diesem Kontext der Begriff des „kollektiven Gedächtnisses“ spielt. Er wurde mitgeprägt von dem französischen -Soziologen Maurice Halbwachs, der im März 1945 im KZ Buchenwald umgebracht wurde. Halbwachs sprach auch vom „Gebrauch der Geschichte“ und darüber, dass jede Generation die Geschichte aufs Neue so interpretiert, dass sie ihren je aktuellen Zielen und Zwecken dient. In den Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges fand das in erster Linie im Kontext der jeweiligen „Erinnerungskulturen“ statt. Jetzt, wo der Krieg nach Europa zurückgekehrt ist, bringt man die Geschichte wieder wechselseitig gegeneinander in Stellung. Welche Zukunft hat eine Generation, die ihre Gegenwart nur durch die Verzerrung der Vergangenheit ertragen kann?
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Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 8/2025 erschienen.