Mit jedem neuen Attentat, das ein abgelehnter Asylwerber, der längst hätte abgeschoben werden müssen, begeht, zeigt sich deutlicher, wie absurd die Idee gewesen ist, die Bewegungsfreiheit innerhalb der Europäischen Union zu garantieren, bevor man ein Konzept für den Schutz ihrer Außengrenze hat: Schengen, eine gescheiterte Illusion.
Franz Josef Strauß, der legendäre bayrische Ministerpräsident und letzte Konservative der alten Schule, den die deutsche Politik hervorgebracht hat, beschrieb einmal die sechs Stufen der handelsüblichen Reaktion auf schlimme Verbrechen: 1. Akt: Es passiert ein schreckliches Verbrechen. 2. Akt: Bestürzung/Empörung. 3. Akt: Ruf nach harten Maßnahmen. 4. Akt: Warnung vor Überreaktion. 5. Akt: gar nix. 6. Akt: Übergang zur Tagesordnung. Das war knapp 40 Jahre vor dem jüngsten Attentat in Solingen, aber die Beschreibung hätte die Reaktion auf ungefähr jedes der Verbrechen, die während der vergangenen zehn Jahre von islamistischen Terroristen in Mitteleuropa begangen wurden, sehr genau erfasst.
Was soll sie denn auch sonst machen, die Politik? Außer Empörung, frommen Sprüchen und ideologischen Positionierungen im Ungefähren bleibt ihr längst nichts mehr zu tun. Diese Zahnpasta wird nicht mehr in die Tube, die 2015 geöffnet wurde, zurückkehren. Alles, was man an Maßnahmen fordern möchte oder könnte, ist vollkommen unrealistisch. Es wird die konsequenten Abschiebungen, von denen jedes Mal die Rede ist, wenn ein abgelehnter Asylwerber, der längst hätte abgeschoben werden müssen, jemanden tötet, nicht geben.
Kapitulation
Der deutsche Staat hat vor der großen Zahl der Fälle kapituliert, und vor der normativen Kraft des Faktischen und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Es ist nämlich so: Das europäische Asylsystem ist gescheitert, und dieses Scheitern ist in absehbarer Zeit nicht rückgängig zu machen. Das hat sich durch die jüngsten Beschlüsse, die im Frühsommer dieses Jahres auf europäischer Ebene gefasst wurden (besserer Schutz der Außengrenzen, Asylverfahren außerhalb der EU, Verteilung der aussichtsreichen Kandidaten innerhalb der EU etc.), nicht geändert. Alles, was seither passiert ist, und alles, was in absehbarer Zeit passieren wird, macht nur eines deutlich: Es wurde nicht das europäische Asylsystem renoviert, sondern nur die Rhetorik in Bezug auf das europäische Asylsystem.
Begonnen hat alles Mitte der 1980er- Jahre, als sich Deutschland, Frankreich und die Benelux-Staaten darauf einigten, gemeinsam die Kontrollen an den Außengrenzen zu organisieren und dadurch Reisefreiheit an den Binnengrenzen zu garantieren. Man unterzeichnete das entsprechenden Abkommen in einem luxemburgischen Dorf, das in der Nähe der Grenzen zu Deutschland und Frankreich liegt. Das Dorf hieß Schengen, und 40 Jahre später muss man wohl sagen, dass der Name Schengen für eine gescheiterte Illusion steht.
Gescheiterte Illusion
Die Illusion bestand darin, dass mit dem Ende des Kalten Krieges alles gut würde und die weltweite Durchsetzung der liberalen Demokratie eine Ausdehnung des Schengenraums ad infinitum erlauben würde. Wie wir heute wissen, hat sich Francis Fukuyama, der diese Illusion 1989 in einem Essay mit dem Titel „The End of History and the Last Man“ beschrieb, geirrt. Kann passieren. Was auch passierte: Man hat den sogenannten Schengen-Raum erweitert, als gäbe es kein Morgen, besser: Als wäre dieses Morgen nur als Verwirklichung des ewigen Friedens denk- und vorstellbar. Im Rückblick kann man nur sagen, dass es sich um blanken Irrsinn handelt: Würde nicht jeder einigermaßen vernunftbegabte Mensch für einen effizienten Außengrenzschutz sorgen, bevor er innere Bewegungsfreiheit garantiert? Aber im Rückblick ist man eben immer klüger, und dass man zwischen 1989 und 2001 glaubte, alles würde gut, war irgendwie auch schön.
Von diesem Glauben sind wir heute weit entfernt. Es wird weiterhin illegale Migration geben, in Zukunft vermutlich sogar noch mehr als heute, und es wird kein effizienter Außengrenzschutz der Europäischen Union existieren. Man muss also damit rechnen, dass die EU-Staaten, die von der illegalen Migration am stärksten betroffen sind, ihre Grenzkontrollen wieder selbst übernehmen werden.
Das ist traurig, weil es schön und auch wirtschaftlich von großem Vorteil ist, sich innerhalb Europas frei bewegen zu können. Und es wird auch viele geben, die sagen, dass das gar nicht möglich ist, weil nur der Europäische Rat einem EU-Mitglied die Wiederaufnahme von Grenzkontrollen im Ausnahmefall erlauben kann. Andere werden sagen, es sei eine furchtbare Kapitulation vor der Festungsrhetorik der Rechten. Ich denke aber, dass sich eine Argumentation durchsetzen wird, an die man von Beginn an hätte denken sollen: Die Gewährleistung sicherer Außengrenzen gehört neben der Gewährleistung der inneren Sicherheit zu den wenigen Aufgaben, die ein Staat überhaupt hat. Wenn man diese Aufgabe an eine Vertragsgemeinschaft delegiert, diese Vertragsgemeinschaft aber nicht willens oder in der Lage ist, sie auch zu erfüllen, dann hat ein Staat nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, sie wieder selbst zu übernehmen. Das ist aufwendig, hat enorme Nachteile, und es ist wohl auch nicht lückenlos zu machen. Aber die Politik wird es sich nicht länger leisten können, einfach nur jedes Mal, wenn etwas passiert, wieder die sechs Stufen durchzuspielen, die Franz Josef Strauß vor 40 Jahren beschrieben hat.
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Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 35/2024 erschienen.