Die intellektuellen Schwergewichte des politmedialen Diskurses verlassen die Plattform X und wechseln auf BlueSky. Die Begründungen der digitalen Migranten klingen erstaunlich ähnlich wie das Framing rund um die gerade begonnenen Koalitionsverhandlungen. Irgendwann muss man den Quatsch, mit dem man anderen die Realität schönredet, wohl auch selber glauben
Das betreute Denken hat diese Woche einen schweren Rückschlag erlitten. Mehrere intellektuelle Schwergewichte aus dem politmedialen Komplex haben die Plattform X verlassen und stehen ihren Klienten jetzt nur noch auf der Plattform BlueSky zur Verfügung. Man kann das an dem Tag, an dem bekanntgegeben wird, dass aus den Sondierungsgesprächen Koalitionsverhandlungen werden, auch verantwortungslos finden: Woher sollen die Betreuten jetzt wissen, ob das gut oder schlecht ist?
Viele der digitalen Migranten nannten ihren Schritt „X-it“, was sehr für ihre Originalität spricht, die aber ohnehin außer Frage steht. Manche, vielleicht auch alle (ich folge nicht allen, und jetzt ist es auch schon wieder zu spät), ließen es sich nicht nehmen, in diesem Kontext eine „persönliche Erklärung“ abzugeben. Das, so viel habe ich zumindest verstanden, war eine ironische Anspielung darauf, dass es sich unter Politikern eingebürgert hat, unter diesem Titel Rücktritte bekanntzugeben, egal, ob man einen Bock geschossen hat oder etwas anderes. Mir ist, warum auch immer, die persönliche Erklärung von Robert Misik in Erinnerung, einem ehemaligen Journalistenkollegen, der vor einiger Zeit in die politische Kommunikation gewechselt ist: sehr schorschdornaueresk, beeindruckend.
Betreuungsquote eins zu eins
Einer der Hauptgründe für ihren Aufbruch scheint für die Himmelswanderer neben der Tatsache, dass es auf X so viele Unbetreute gibt, deren Blockierung zu viel Arbeits- und inzwischen vielleicht sogar Lebenszeit frisst, die Tatsache, dass Elon Musk, der das Unternehmen vor etwas mehr als zwei Jahren gekauft hat, kein Guter ist, was man, wenn man es noch nicht wusste, daran erkennt, dass er praktisch nicht mehr ohne Donald Trump anzutreffen ist. (Das finde ich übrigens auch nicht gut, denn eine Betreuungsquote von eins zu eins erscheint mir unter allen Umständen übertrieben, egal, ob es um die Guten oder um die Bösen geht.) Seit dieser Übernahme ist Twitter, das vorher einigermaßen flächendeckend von Inhalten gesäubert wurde, die man als Betreuer auf so einer Plattform nicht sehen will, eine Fake-News-Schleuder geworden, außerdem ein Ort, an dem Beleidigungen auf der Tagesordnung stehen und wo auch kaum noch zwischen echten Accounts und Bots, zwischen Newsrooms und Trollfabriken zu unterscheiden ist.
Auf BlueSky, sagen die Auswanderer, gebe es zwar noch nicht so viele Mitglieder wie auf X, aber die seien dafür besser betreut. Das erscheint mir logisch, vor allem jetzt, wo die Spitzenrepräsentanten des betreuten Denkens dorthin gewechselt sind, muss die Betreuungsquote eigentlich sensationell sein, jede Wiener Volksschule kann davon vermutlich nur träumen.
Twitter, da haben die Auswanderer sicher recht, ist kein schöner Ort, und Elon Musk ist ein schwieriger Knabe, aber möglicherweise könnte man, wenn man es so grundsätzlich angeht, ein Gedankenexperiment wagen, das den Verzicht auf die Selbstpräsentation in den sozialen Medien einschließt. Nicht, dass ich das gern empfehlen würde – es stünde mir auch nicht zu, ich bin nicht im Betreuungsgeschäft –, es scheint mir nur auffällig, dass diese Option in den teils sehr ausführlichen Begründungen für den Umstieg von einer Plattform auf die andere nicht vorkommt, im Gegenteil: Geschrieben wird fortan in Himmelblau, gelesen wird weiterhin im finsteren X. Man muss sich ja nach wie vor informieren, heißt es dann, und da ist X noch immer am schnellsten, wenn es irgendwo auf der Welt brennt, erfährt man es in der Sekunde.
Das ist nicht meine Erfahrung, aber ich muss ja auch nicht in der Sekunde wissen, wenn irgendwo auf der Welt etwas von Relevanz passiert. Bis es für mich wichtig ist, hat es der „Economist“ oder die „New York Times“ vermutlich auch erfahren und wird es mir nicht verheimlichen.
Ein bisschen kommt mir die Kommunikation der politmedialen Digitalmigranten so vor wie das Framing der gerade – nach kaum zwei Monaten Sondierung – begonnenen Regierungsverhandlungen. Die Verhandler erklären mir jetzt, dass sie lange auf die Chance gewartet haben, in dieser speziellen Konstellation ein Regierungsprogramm auszuarbeiten, das in einer solchen Breite und Tiefe noch nicht da gewesen ist und in einer anderen Konstellation auch nicht möglich gewesen wäre. Ich soll, das sagt mir der Bundeskanzler recht eindeutig, froh sein, dass es bei den vergangenen Wahlen keine absolute Mehrheit für die ÖVP gegeben hat, und da rennt er bei mir offene Türen ein. Irgendwie verstehe ich ihn auch: Soll er mir sagen, dass ihm auch alles andere lieber gewesen wäre, dass er aber eben leider die Wahl verloren hat und es sonst keine Möglichkeit für ihn gibt, Bundeskanzler zu bleiben? Soll er sagen, dass er die SPÖ gerade unter ihrem derzeitigen Vorsitzenden für eine totale Katastrophe hält und ihm die Neos schon lange irrsinnig auf die Nerven gehen? Kann er eigentlich nicht machen, und das kann ich total nachvollziehen. Irgendwann muss man das Zeug, mit dem man den anderen die Wirklichkeit schönreden will, auch selber glauben, sonst wird man meschugge. Ob das dann auf X steht oder im blauen Himmel, ist aber im Grunde egal.
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Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 47/2024 erschienen.