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2nd Opinion: Das Pendel pendelt nicht

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Michael Fleischhacker

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Die Klage darüber, dass die gesellschaftliche Masse nach rechts rückt, geht vollkommen ins Leere: Die konservative Masse hat ihren Standort nie verlassen, sie hat sich nur nicht um das Treiben der progressiven Elite gekümmert, solange es genug zu verteilen gab.

Manchmal steht man vor seinem Leben und denkt sich: Was ist eigentlich jetzt wieder passiert? Lange war alles wie immer, und dann war plötzlich alles anders. Selbst wenn man das Ergebnis mag, kann einen der Prozess verstören, und wenn man das Ergebnis nicht mag, zieht es einem ohnehin den Boden unter den Füßen weg. An sich, pflegte mein seliger Bruder zu sagen, ist das Schicksal eben ein Scheusal. Vermutlich hat das jeder Mensch schon erlebt, und daher weiß auch jeder Mensch über die subtil-subversive Mechanik Bescheid, die hier am Werk ist: Ein Prozess wird zum Ereignis, eine Entwicklung zur Katastrophe, eine Phase zum Abgrund, und hinterher kann niemand mehr genau sagen, wie und wo es begonnen hat, warum es genau in diese Richtung ging und wann einem endgültig klar war, dass das jetzt dann kippen wird.

Vielleicht ist das ungefähr die Gefühlswelt, in der auch ein Koalitionsverhandler aufhältig ist, wenn er sich – diese Annahme mag zu optimistisch sein, ich weiß so gut wie nichts über das Selbstreflexionsniveau von Kammerfunktionären und Burschenschaftern – Tag für Tag, Gespräch für Gespräch und Brötchen für Brötchen zu erklären versucht, was da eigentlich gerade passiert, woher das kommt und wohin das führt.

Wohin pendelt das Pendel?

Mich beschäftigt dieser Tage die Frage, ob wir gerade Zeugen eines ideologischen Gezeitenwechsels von globalem Ausmaß sind, ob das weltanschauliche Pendel jetzt wieder nach rechts schlägt, warum das so ist, wenn es so ist, und was das bedeutet. Irgendetwas muss da dran sein, man kann es überall lesen, im Economist schreiben sie darüber, und sicher auch in der Tiroler Tageszeitung. Man möchte, scheint’s, wissen, wie Trump gegen unseren Willen Präsident werden konnte, warum Orbán noch immer fröhlich ist, wieso Putin nicht endlich doch einen Krebs bekommt und was man tun könnte, um einen Volkskanzler Kickl zu verhindern.

Man möchte sich und der Welt erklären können, wie es zu diesem massiven Rechtsruck kommen konnte, der gefühlt den gesamten Raum erfasst hat, den wir früher den Westen nannten, nämlich Europa und Amerika (im Osten und im Süden war ohnehin immer alles anders), und ob wir mit dem Schnellzug Richtung Vergangenheit unterwegs sind: Zur Technikgläubigkeit der 70er-Jahre, zum Kulturkampf der 60er, zu den Geschlechterverhältnissen der 50er und zu den Vernichtungsideologien der 30er. Wenn das so wäre, dann würde auf diesem Weg alles rückabgewickelt, was wir von den 80ern bis in die 20er-Jahre des 21. Jahrhunderts an Errungenschaften oder auch nur ideologischen Sedimenten angehäuft haben: das postmoderne „anything goes“ der 80er-Jahre (Grüße gehen raus an Paul Feyerabend), die Zukunftsgewissheit der 90er, die Technologiegläubigkeit der Nullerjahre, die Achtsamkeitsposen der 10er und den forcierten Ökokult der frühen 20er.

Aber gibt es so etwas wirklich? Lassen sich Entwicklungen, die breite Teile der Gesellschaft erfasst haben, in kurzer Zeit rückabwickeln, kann man sich Kipppunkte der weltanschaulichen Erhitzung vorstellen, nach deren Eintreten alles oder wenigstens vieles kollabiert?

Ich glaube: eher nein. Und mir scheint auch, dass die früher auch von mir vertretene Annahme, wir würden gesamtgesellschaftlich nach rechts rücken, nachdem wir über einige Jahrzehnte, als Folge der Kulturrevolution von 1968, gesamtgesellschaftlich nach links gerückt sind, nicht zutrifft. Die Breite der Gesellschaft war immer am gleichen Ort, ihre Weltanschauung gründete auf der immer gleichen Welterfahrung, das heißt auch, auf den immer gleichen Bedürfnissen: Verlässlichkeit, die Aussicht auf sozioökonomischen Aufstieg, das Vorhandensein stabiler sozialer Beziehungen, individuelle Freiheitsspielräume und ein wenig Ablenkung auf unterschiedlichen kulturellen Niveaus.

Solange es Wohlstand zu verteilen und Aufstiegschancen wahrzunehmen gab, konnten die progressiven Eliten treiben, was sie wollten

Man könnte auch sagen: Die Masse war immer konservativ, und dass die Eliten progressiv wurden, hat die Masse nicht gestört, solange die Eliten in der Lage waren, für die Befriedigung der Bedürfnisse der Masse zu sorgen. Solange es wachsenden Wohlstand zu verteilen, Aufstiegschancen wahrzunehmen und Sicherheit zu genießen gab, konnten die progressiven Eliten aus der Sicht der konservativen Massen treiben, was sie wollten. Erst seit es wieder ökonomische Verteilungskämpfe, fragil--fragmentierte Sozialverhältnisse und echte Sicherheitsprobleme gibt, fragen sich immer größere Bevölkerungsteile, was das Treiben der Eliten eigentlich mit ihnen und ihrem Leben zu tun haben soll.

In diesem Sinn geht auch die Frage, warum die konservative Masse sich derzeit offensichtlich so leicht von Errungenschaften und Werten trennt, von denen die progressiven Eliten geglaubt hatten, sie seien unwiderruflich durchgesetzt – Diversität, Inklusion, Achtsamkeit, Ökobewusstsein – in die Irre: Diese Werte hatten sich nie mehrheitlich durchgesetzt, sie wurden nur nicht infrage gestellt, solange sie nicht in Konflikt mit der grundsätzlichen Bedürfnisbefriedigung geraten sind. Das tun sie jetzt, und das Ergebnis ist wenig überraschend.

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Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 07/2025 erschienen.

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