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Wolodymyr Selenskyj: Die Rolle seines Lebens

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Wolodymyr Selenskyj

Wolodymyr Selenskyj

©IMAGO / ZUMA Wire
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Lange belächelt, wird Wolodymyr Selenskyj seit Beginn des Krieges in der Ukraine als Held gefeiert. Der junge ukrainische Präsident leistete mit Kampfgeist, Leidenschaft und eindringlichen Appellen an die Weltöffentlichkeit bisher überraschend wirksamen Widerstand gegen die russische Invasion. Aber die Aussichten sind düster.

Die Auflösung ist schlecht, das Licht auch. Im Hintergrund ein grotesk überladener Jugendstilpalast. Im Vordergrund ein unrasierter Mann mit dunklen Augenringen. Einer wie du und ich. Ein Bruder, Freund oder Nachbar. Er sieht mitgenommen aus, aber er lächelt trotzdem, als er entschlossen, fast beschwörend sagt: "Ich bin hier. Wir werden nicht aufhören zu kämpfen."

Selenskyjs geschichtsträchtiges Video

Das 40-sekündige Handyvideo, mit dem Wolodymyr Selenskyj der Welt am Morgen des 26. Februar bewies, dass er entgegen anders lautenden Gerüchten nicht aus der Ukraine geflohen war, wird in die Geschichte eingehen. Vielleicht als der Moment, in dem Wladimir Putin begriff, wie schwer er sich verrechnet hatte. Sicher als jener, in dem ein Held geboren war.

Selenskyjs schärfste Waffen: Mut und Glaubwürdigket

Ausgerechnet der Komiker im Präsidentenpalast, der belächelte Neuling im Politgeschäft wurde innerhalb weniger Tage zum Symbol des Widerstands gegen Putins Willkür und zum vordersten Kämpfer für die freie Welt. Der richtige Mann zur richtigen Stunde. Seine schärfsten Waffen: Mut und Glaubwürdigkeit. Und ein natürliches Talent für die Kamera.

Selenskyj, der Entertainer

1978 als Sohn jüdischer Eltern geboren, studierte Selenskyj zunächst Jus, um dann seiner wahren Berufung, dem Schauspiel, nachzugehen. 2006 gewann Selenskyj die ukrainische Version von "Dancing Stars". 2015 trat er erstmals in der Fernsehserie "Sluha narodu"(Diener des Volkes) auf.

"Diener des Volkes"

Selenskyj spielt darin den sympathisch-naiven Geschichtslehrer Wassyl Holoborodko, der von einem Schüler heimlich dabei gefilmt wird, wie er über die Eliten des Landes schimpft. "Wenn ich auch nur eine Woche Macht hätte, dann wäre Schluss mit all den Boni, den Sommervillen und all dem! Jeder Lehrer soll wie ein Präsident leben, und jeder Präsident wie ein Lehrer." Der Schüler stellt das Video auf YouTube, es wird acht Millionen Mal geklickt -und Holoborodko tatsächlich zum Präsidenten gewählt, der nun versuchen muss, es besser zu machen als die Klüngel, gegen die er antrat. Wenige Jahre nach der Erstausstrahlung der Serie, 2019, trat Selenskyj tatsächlich bei der ukrainischen Präsidentenwahl gegen den damaligen Amtsinhaber Petro Poroschenko an. Und gewann haushoch. Name der Partei: "Diener des Volkes".

Fiktion und Realität

Fiktion und Realität verschwimmen auf merkwürdige Weise. Wassyl Holoborodko fährt zur Amtseinführung mit einem klapprigen Taxi. Wolodymyr Selenskyj ging von seiner zu Fuß ins Büro. Holoborodko sagt bei seiner Antrittsrede: "Was man tut, darf einen nicht beschämen, wenn man seinem Kind in die Augen schaut." Selenskyj rief dazu auf, keine Präsidentenporträts aufzuhängen. "Hängt lieber Fotos eurer Kinder auf. Und schaut ihnen vor jeder Entscheidung in die Augen." Typisch Holoborodko. Oder doch echt Selenskyj?

Selsnskyjs Erfolgsgeheimnis

Alle Vorgänger Selenskyjs, erklärt der Historiker Andreas Kappeler diesen überraschenden Wahlerfolg, "hatten eine Biografie, die letztlich nicht vertrauenerweckend war. Ob Poroschenko, Janukowytsch oder Juschtschenko. Und dann kam plötzlich einer daher, der völlig unbeschwert von irgendwelchen politischen und auch wirtschaftlichen Hypotheken auftrat, auch wenn er eine Weile durchaus hinterfragenswerte Beziehungen zu dem Oligarchen Ihor Kolomojskyj unterhielt. Das muss die Leute überzeugt haben."

Keine Erfahrung

Der Rest der Welt lachte freilich über den neuen ukrainischen Präsidenten. "Ich war", erinnert sich Kappeler, "in den Tagen, als Selenskyj gewählt wurde, zufällig mit einflussreichen Österreichern zusammen. Die haben alle gesagt: Das kann nichts werden, der hat ja keine Erfahrung, da wäre Poroschenko viel besser gewesen."

Erwartungen werden nicht erfüllt

Und es sollte Selenskyj in den folgenden Jahren tatsächlich nicht gelingen, die hohen Erwartungen seiner Wählerinnen und Wähler zu erfüllen. "Sie waren in diesem unheimlich schwierigen Umfeld wahrscheinlich auch nicht zu erfüllen. Was sich die Leute wirklich von ihm erwartet haben -und das geht ja auch aus der Fernsehserie hervor -, war der Kampf gegen die Korruption. Er hat sich bemüht, konnte aber weder die Korruption noch den Einfluss der Oligarchen entscheidend zurückdrängen. Von daher waren die Leute wirklich enttäuscht. Seine Beliebtheitswerte gingen zurück und waren nicht mehr viel höher als die von Poroschenko."

Selenskyj: Ruhig und nahbar in Zeiten des Krieges

Und dann kam Putins Angriff. Auf die russischen Aggressionen reagierte Selenskyj zunächst mäßigend. Selbst als die Kriegstrommeln immer lauter dröhnten, blieb er ruhig. Und setzte, als Putin schließlich einmarschieren ließ, auf eine Strategie der Nahbarkeit.

Krieg der Informationen und Bilder

Im Krieg Russlands gegen die Ukraine treffen auch eine alte und eine neue Bilder-und Kommunikationswelt aufeinander. Putin vertraut auf die Macht der kontrollierbaren Staatsmedien und inszeniert sich vorzugsweise in pompösen Interieurs, seit Neuestem an absurd langen Tischen, an deren anderem Ende eingeschüchterte Mitarbeiter (oder europäische Staatsoberhäupter) kauern. Selenskyj und seine Mitstreiter erreichen mit verwackelten Handyvideos und rasch getippten Twitter- Nachrichten die ganze Welt.

Eindrucksvolles Beispiel: Am 26. Februar bat der ukrainische Digitalisierungsminister Mykhailo Fedorow Elon Musk via Twitter, er möge die Ukraine mit seinem Satelliteninternetdienst Starlink verbinden. Prompt aktivierte Musk das Service und ließ Bodenstationen liefern.

Im Mittelpunkt der Social-Media-Offensive, mit der die Ukraine versucht, Russland im (Informations-)Krieg die Stirn zu bieten, steht aber Präsident Wolodymyr Selenskyj. Der Mann im militärgrünen T-Shirt, der aus dem eingekesselten Kiew an den Kampfgeist der Ukrainer und die Solidarität Europas appelliert. Der Mann, der von Tag zu Tag müder aussieht, aber immer weiterkämpft. "Wir lassen heute unser Leben für den Wunsch, genauso frei zu sein wie Sie", sagte er am Dienstag in einer Videoansprache vor dem EU-Parlament. "Wir tun unser Bestes. Die stärksten, die mutigsten Menschen sterben." Und er mahnte in Hinblick auf den Antrag auf Aufnahme in die EU: "Wir haben bewiesen, dass wir so sind wie Sie. Also beweisen Sie, dass Sie auf unserer Seite stehen."

Selenskyjs diplomatische Bemühungen

Auf seinem Twitter-Account sind die diplomatischen Bemühungen der letzten Tage nachzuvollziehen. Telefonate mit Kommissionspräsidentin von der Leyen, Boris Johnson, den Premiers von Japan und Portugal Es ist schwer messbar, wie groß Selenskyjs persönlicher Anteil an der erstaunlichen Widerstandsfähigkeit der Ukraine ist, aber er dürfte erheblich sein. Putin hat den jungen Politiker, über den er sich jahrelang lustig gemacht hatte, offensichtlich grob unterschätzt.

Wandlung vom politischen Leichtgewicht zum mitreißenden Kriegspräsidenten

Die Wandlung Selenskyjs vom politischen Leichtgewicht mit Clown-Hautgout zum mitreißenden Kriegspräsidenten habe ihn "sehr angenehm überrascht", urteilt der Historiker Andreas Kappeler, ein langjähriger Beobachter der Ukraine und Autor mehrerer Bücher über das Land.

Es ist fantastisch, was er leistet. Besonders geschickt sind seine Appelle an die Russen.

"Es ist fantastisch, was er leistet. Besonders geschickt sind seine Appelle an die Russen. Als er sich etwa gleich in der Nacht des Einmarsches in einer sehr bewegenden Ansprache bewusst auf Russisch an das russische Volk gewandt und gefragt hat:'Wollen die Russen Krieg? Das könnt nur ihr beantworten, Bürger Russlands.' Und damit hat er ja recht. Letztlich ist unsere einzige Chance, dass sich in Russland irgendwann etwas ändert."

Bemerkenswert sei auch, findet Kappeler, dass Selenskyj allein durch seine Person zwei zentrale Punkte Putins widerlege. "Putin legitimiert den Angriffskrieg damit, dass die ukrainische Regierung aus lauter Nazis bestehe, die die russischsprachige Bevölkerung in der Ukraine unterdrücken, bis hin zum absurden Vorwurf eines Genozids. Aber Selenskyj ist jüdischer Abstammung und hat mehrere Angehörige im Holocaust verloren, und außerdem ist er selbst russischer Muttersprache."

Aus Spiel wurde Ernst, aus Ernst wurde blutiger Ernst

Als Selenskyj 2019 zum Präsidenten gewählt wurde, wurde schon einmal aus Spiel Ernst. Jetzt ist daraus blutiger Ernst geworden. Die gefürchtete "Wagner-Gruppe", eine brutale Söldnertruppe in russischen Diensten, soll den Auftrag haben, Selenskyj und seine Vertrauten aufzuspüren und zu töten. Es geht, vielleicht ist es das, was Selenskyjs jüngste Auftritte so eindringlich macht, um alles. Um sein Leben und um das seiner Familie, Ehefrau Olena und der zwei gemeinsamen Kinder. Um das Leben vieler Ukrainerinnen und Ukrainer. Um die Zukunft seines Landes, und womöglich sogar um die Zukunft der ganzen westlichen Welt.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News-Magazin Nr. 09/2022.

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