Das Wiener Kosmos Theater bringt die Affäre der 54-jährigen Annie Ernaux mit einem 30 Jahre jüngeren Studenten auf die Bühne. In einem rein weiblichen Ensemble beleuchtet die 70-minütige Theaterversion des autosoziobiografischen „Der junge Mann“ Selbstbestimmtheit und sozialen Aufstieg. Für die Premiere am Dienstag gab es zwar keinen großen, doch durchaus anerkennenden Applaus.
Dass ausgerechnet in „Der junge Mann“ kein Mann auf der Bühne erscheint, mag zu Beginn des 70-minütigen Theaterabends nach einer Bühnenfassung von Elisabeth Gabriel irritierend wirken. Doch der Mann fehlt nicht. Und er hat auch keinen Namen, er wird lediglich auf den Buchstaben „A“ reduziert. Im Zentrum steht nämlich eine Frau: Annie Ernaux – „alterslos“ –, dargestellt von Johanna Orsini und Lili Winderlich. Eine performative Lesung, in der Passagen des 2022 erschienenen Essays „Der junge Mann“ mit Textstellen aus anderen Werken der Literaturnobelpreisträgerin verwoben werden.
Liebevoll und grob
Sprachlich nüchtern und schonungslos wird die Affäre der damals über 50-jährigen Ernaux mit einem fast 30 Jahre jüngeren Studenten geschildert. Erinnerung, unmittelbares Erleben und Reflexion verschmelzen dabei. Das „Ich“ lässt sich nicht vom beobachtenden „Sie“, mit dem auf das eigene Studienleben und den damit verbundenen sozialen Aufstieg zurückgeblickt wird, trennen. Eine Begegnung der Ferne und Nähe, Fremdheit und Vertrautheit. „Ist sie ich, dieses Mädchen? Bin ich sie?“
Folglich plagt sich, wer versucht, Rollen zuzuschreiben. Viel eher wirkt das Spiel zwischen Orsini und Winderlich, die teils liebevoll, teils grob miteinander interagieren, tanzen, gestikulieren oder auch nur nebeneinander am Boden liegen, wie eine verkörperte Bewältigung der eigenen Vergangenheit. Bei einem leidenschaftlichen Kuss der beiden Damen scheint es fast so, als wäre die Schriftstellerin ins Reine mit ihrem jüngeren Selbst gekommen.
Selbstermächtigung und Kraft
Der junge Mann aus einfachen Verhältnissen ist Ernaux’ Weg, sich mit Erlebnissen wie ihrer heimlichen Abtreibung und unangenehmen sexuellen Erfahrungen auseinanderzusetzen. Ihr Schmerz ist dabei mit Selbstermächtigung und Kraft verbunden. Es wird gebrüllt, es wird mit Sesseln geworfen. Bei der Premiere ist der Stuhl sogar zerbrochen. Möglicherweise ein Missgeschick, doch in jedem Fall ausdrucksstark.
Musikalisch begleitet wird das Schauspiel live auf der Bühne von Teresa Rotschopf. Sie befindet sich hinter dem Bühnenbild aus semitransparenten Nylonstoffen, die stellenweise zur Projektionsfläche für als Film und Fotografie konservierte Erinnerungen werden. Orsini und Winderlich kommentieren die Bilder, ergänzen sie um ihre Erzählungen von Jugendträumen, Armut und der gesellschaftlichen Ächtung ihrer Beziehung zum jungen „A“. „Wie kannst du nur mit einer Frau in der Menopause zusammen sein?“ – so die verurteilenden Reaktionen. Doch Ernaux entscheidet sich gegen Scham. Was für Männer in Ordnung ist – die Beziehung zu einer deutlich jüngeren Frau –, müsse schließlich auch in umgekehrter Rollenverteilung zulässig sein.


Bei der Aufführung wurde gebrüllt und mit Sesseln geworfen.
© Bettina FrenzelGegenpol zum Mainstream
Indem das Theaterstück die Sexualität einer Frau in der Menopause ohne Zurückhaltung thematisiert, reiht es sich in eine größer werdende Anzahl von Werken, die gegen das gesellschaftliche Verschwinden der alternden Frau ankämpfen. Besonders im filmischen Bereich werden seit einigen Jahren vermehrt Protagonistinnen jenseits des gebärfähigen Alters in den Vordergrund gerückt, häufig im Zusammenhang mit dem Tabu-Bruch der Beziehung zu einem jüngeren Mann. Dass die Mainstream-Darstellung solcher Verhältnisse überarbeitet werden muss, unterstreichen auch Ernaux und ihr „A“ in „Der junge Mann“ – denn in Filmen erkennen sie sich nicht wieder.
Gabriels Theaterabend bemüht sich um einen Gegenpol zum Mainstream: Er ist keine bloße Bühnenfassung der Romane Ernaux’. Er ist die Geschichte einer Emanzipation, ein Aufruf an alle Frauen, ein schambefreites und selbstbestimmtes Leben zu führen.