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Sanna Marin: Die Frau, die Putin die Stirn bietet

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Sanna Marin

©Roni Rekomaa/ Bloomberg via Getty Images
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Finnlands Regierungschefin Sanna Marin ist gerade dabei, ihr Land gegen russischen Widerstand in die NATO zu führen. Über eine Politikerin, die ihren eigenen Weg geht und auch im dritten Jahr ihrer Amtszeit noch hohe Beliebtheitswerte vorweisen kann.

Ab und zu finden sich auf Sanna Marins Instagram-Account Fotos, wie sie jede junge Frau posten würde: Eine Mumins-Kaffeetasse vor einer sommerlichen Seenlandschaft, ein Selfie vom Spielplatz, Donuts und Coffee to go mit einem Freund in der Innenstadt von Helsinki. Und dann ist wieder ganz offensichtlich, diese Frau ist zwar jung, aber sie ist nicht jede. Sanna Marin mit Joe Biden. Sanna Marin mit Angela Merkel, mit Ursula von der Leyen. Und, immer wieder, Sanna Marin mit Schwedens Regierungschefin Magdalena Andersson.

Das Foto, das am 13. April veröffentlicht wurde, zeigt die beiden Frauen lachend am Stockholmer Djurgårdsbrunnsviken entlangschlendern. Es demonstriert Einigkeit und Vertrauen. Und ist doch in einer Zeit entstanden, die unter ganz anderen, bedrohlichen Vorzeichen steht. Spätestens seit dem 24. Februar, dem Tag, an dem Russlands Präsident die Ukraine überfallen ließ, ist klar, dass sich für Finnland und Schweden die NATO-Frage neu stellt. Und es sind diese beiden Frauen, Sozialdemokratinnen noch dazu, die ihre Länder durch die sicherheitspolitische Zeitenwende navigieren. Einig. Und - in Marins Fall - cool. Lederjacke beim Staatsbesuch, ja geht denn das? Es geht, zeigt sich seit Marins Amtsantritt 2019, wenn sich Natürlichkeit, Ehrgeiz, Kommunikationsgeschick und politisches Talent in einer Person vereinen. Das Staunen von damals ist der Erkenntnis gewichen: Eine junge attraktive Frau gibt eine mindestens ebenso gute Ministerpräsidentin ab wie ein 50-jähriger Mann im Anzug.

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Die Welt staunte, als Sanna Marin, damals 34 Jahre jung, Ministerpräsidentin Finnlands wurde. Kaum angelobt begann die Corona-Pandemie, jetzt muss sie ihr Land gegen russische Aggressionen beschützen. Am 15. Mai gaben Marin und Finnlands Präsident Sauli Niinistö bekannt, dass ein Antrag auf Aufnahme in die NATO gestellt wird

 © Getty Images/ Hannibal Hanschke

Den NATO-Beitritt ihres Landes bereitete Marin geschickt vor, sagt der finnische Staatswissenschafter Göran Djupsund. Ohne Alleingänge, sondern kooperativ in alle Richtungen. Nicht nur mit Schwedens Regierung arbeitet Marin in der NATO-Frage eng zusammen - wobei Finnland eindeutig das Tempo vorgibt -, sondern auch mit dem finnischen Präsidenten Sauli Niinistö. Der Konservative, der jahrelang auf Dialog mit Russland setzte und Wladimir Putin gut kennt, begann schon Ende letzten Jahres, seine Position zu einem möglichen NATO-Beitritt Finnlands zu überdenken, erklärt Djupsund. "Ich glaube, Putins Forderung nach Garantien, dass die NATO sich nicht weiter nach Osten ausbreitet, hat den Anstoß gegeben. Zu diesem Zeitpunkt hat es auch in der Bevölkerung zu arbeiten begonnen. Und am 24. Februar war dann über Nacht alles anders." Die Zustimmung zu einem NATO-Betritt, die davor jahrelang bei rund 40 Prozent gelegen war, schoss plötzlich auf fast 80 Prozent.

"Finnland hat einfach eine lange, schwierige Geschichte mit der Sowjetunion", sagt Djupsund, emeritierter Professor für Staatswissenschaften an der Åbo Akademie. "Die meisten Finnen haben Eltern oder Großeltern, die den Krieg 1939/40 miterlebt haben. Ich bin auch mit dem Kriegs-Fotoalbum meines Vaters aufgewachsen. Die Geschichte ist ziemlich nah und die sowjetische Aggression gegen Finnland nicht so lang her. Der Einmarsch in die Ukraine weckt böse Erinnerungen."

Einfache Verhältnisse

Wie Sanna Marins Familie die Kriegszeiten miterlebt hat, ist nicht überliefert. Bekannt ist, dass sie aus einfachen Verhältnissen stammt. Sie wuchs ohne Vater auf, ihre Mutter zog nach der Trennung mit einer anderen Frau zusammen. Marin wuchs also in einer Regenbogenfamilie auf, was wegen des sozialen Stigmas nicht immer einfach war, erzählte sie in Interviews.

Wir können uns nicht darauf verlassen, dass es eine friedliche Zukunft geben wird neben Russland

Das Geld war knapp und Marin musste jobben, um sich das Studium der Verwaltungswissenschaften finanzieren zu können. Ihre politische Karriere begann 2012, als sie in den Stadtrat ihrer Heimatstadt Tampere gewählt wurde, ein Jahr später wurde sie dessen Vorsitzende. Ein mehr als 800.000 Mal geklicktes Youtube-Video zeigt, wie sie eine völlig aus dem Ruder laufende fünf(!)-stündige Stadtratssitzung im Jahr 2017 leitet: effizient, nüchtern, geduldig und sehr bestimmt. Zu dem Zeitpunkt war sie schon zwei Jahre Parlamentsabgeordnete. Nur zwei Jahre später, im Dezember 2019, stieg sie nach einer kurzen Episode als Verkehrs-und Kommunikationsministerin zur jüngsten Regierungschefin der Welt auf.

Groteske Empörung

Das Hochglanz-Magazin Vogue traf sie wenige Wochen nach ihrer Angelobung in der Präsidenten-Villa in Helsinki. Sie sei immer aufgrund ihres Geschlechts und ihres Alters bewertet worden, erzählte sie damals. "Wenn ich es nicht schaffe, wenn ich scheitere - und wir wissen alle, dass das in der Politik passieren kann - möchte ich nicht, dass es heißt: Das war ja klar, weil sie eine junge Frau ist." Dass Marin eine junge Frau ist, die Lust hat, sich auch wie eine junge Frau zu verhalten, irritiert die Öffentlichkeit bis heute. 2020 ließ sie sich für das finnische Lifestyle-Magazin Trendi fotografieren - in dunklem Blazer, ohne Top oder Bluse darunter. Sexy, aber völlig unverfänglich. Die darauffolgende Entrüstung war grotesk und führte zu der Solidaritätsaktion #imwithsanna (ich halte zu Sanna), bei der Frauen sich ebenfalls mit Blazer "unten ohne" präsentierten.

Immer wieder standen Marins Privatleben, ihr Instagram-Auftritt oder ihre Outfits im Mittelpunkt, seltener ihre politischen Anliegen. "Wir müssen unsere Gesellschaft so bauen, dass sie nicht nur sozial und wirtschaftlich, sondern auch ökologisch nachhaltig ist", sagte sie im Jänner 2020 gegenüber der Vogue. Und: "Ich möchte sicherstellen, dass jeder ein gutes Leben führen kann, egal, was für einen Hintergrund er hat. Mich interessieren die Inhalte. Mir selbst habe ich nie viel Aufmerksamkeit geschenkt."

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Sanna Marin, geboren 1985, wurde 2019 mit nur 34 Jahren Ministerpräsidentin Finnlands. Davor war sie ein paar Monate Verkehrsministerin

 © Roni Rekomaa/ Bloomberg via Getty Images

Was damals keiner wissen konnte: Nicht Klimawandel und soziale Gerechtigkeit würden die bestimmenden Themen der nächsten Jahre werden, sondern Corona. Marin zog mit ihrem Mann Markus, einem ehemaligen Fußballspieler, und der gemeinsamen 2018 geborenen Tochter Emma von Tampere nach Helsinki und widmete sich 24/7 dem Pandemiemanagement. Trotz kleiner Ausrutscher - Ende 2021 hatte sie beim Fortgehen ihr Handy nicht dabei und reagierte daher nicht rechtzeitig auf einen Corona-Verdachtsfall in ihrer Umgebung - blieben ihre Umfragewerte hoch. "Im März wurde die Popularität möglicher zukünftiger Premierminister abgefragt und Marin schnitt sogar ein bisschen besser ab als Oppositionsführer Petteri Orpo", sagt die Historikerin Jenni Karimäki von der Universität Turku. "Normalerweise nimmt die Beliebtheit im Laufe der Amtszeit ab. Aber die letzten Jahre waren eben sehr ungewöhnlich."

In Sachen NATO-Beitritt bildete Marin gemeinsam mit Präsident Niinistö und Außenminister Pekka Haavisto eine sehr effiziente Allianz. "Es war deutlich sichtbar, dass ihre Vorgehensweise abgestimmt war und nicht jeder sein eigenes Rennen fuhr", analysiert Göran Djupsund. "Marin und Niinistö haben sich mit persönlichen Meinungen die längste Zeit zurückgehalten, um dem parlamentarischen Prozess nicht vorzugreifen. Aber zwischen den Zeilen war schon klar, dass sie den NATO-Beitritt Finnlands für eine gute Idee halten."

Offizielle Ankündigung

Mitte Mai gaben Marin und Niinistö offiziell bekannt, dass Finnland einen Beitrittsantrag stellen wird. Das Tempo, das das 5-Millionen-Einwohner-Land im Norden Europas dabei hinlegt, verblüfft viele Beobachter. "Es klingt ein bisschen paradox, aber ich glaube, dass die Sozialdemokratinnen Sanna Marin und Magdalena Andersson eine Garantie für einen besonders reibungslosen Weg in die NATO sind. Mit den Sozialdemokraten in der Opposition oder mit konservativen Männern an der Spitze dieser Länder -oder auch nur an der Spitze eines der beiden Länder - wäre es sicher viel mühsamer geworden", sagt Staatswissenschafter Djupsund.

Die Geschichte ist ziemlich nah. Der Einmarsch in die Ukraine weckt böse Erinnerungen

Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine habe sich alles verändert, argumentierte Sanna Marin die Entscheidung, Finnland in die NATO zu führen. "Ich persönlich denke, wir können uns nicht mehr darauf verlassen, dass es eine friedliche Zukunft geben wird neben Russland und auf uns alleine gestellt."

Auf ihrem Instagram-Account wurden Fotos von dem gemeinsamen Auftritt mit Niinistö veröffentlicht. Daneben ein kurzer Text über die historische Bedeutung dieses 15. Mai. Binnen 24 Stunden wurde der Beitrag mehr als 700 Mal kommentiert, manchmal begeistert, manchmal weniger freundlich, vor allem von Anhängern des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der sich gegenüber Finnlands NATO-Beitritt skeptisch geäußert hatte.

Aber: Kaum einer der Kommentare bezog sich auf ihr Outfit.

Der Beitrag erschien ursprünglich im News 20/2022.

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