Als Fußballer wurde der ehemalige Stürmer Ralph Hasenhüttl immer wieder belächelt. Doch nun etablierte er sich als erster österreichischer Trainer in der Premier League. "The Alpine Klopp" nennen sie ihn dort - früher nannten sie ihn oft "den Blinden".
Ralph Hasenhüttl dirigiert, gestikuliert und schimpft sich draußen an der Outlinie noch einmal so richtig in Rage: Selbst die Nachspielzeit ist bereits verstrichen, aber der Schiedsrichter pfeift nicht und nicht ab. Noch ein allerletzter Corner, doch gottlob verzettelt sich der FC Liverpool, spielt kompliziert zurück. Da endlich macht der Referee Schluss, und der Underdog FC Southampton schlägt an diesem denkwürdigen 4. Jänner 2021 den amtierenden englischen Meister mit eins zu null.
Hasenhüttl, 53, der Trainer des Außenseiters, sinkt auf die Knie, vergräbt sein Gesicht in den schwarzen Sporthandschuhen, und nur ein leichtes Zittern verrät, dass er weint. "Das war wegen des Windes", sagt er der BBC - mit einem Zwinkern, später, als die Augen längst wieder trocken sind. Was er noch sagt: "Du brauchst gegen Liverpool das perfekte Spiel, und ich denke, das hatten wir." Das perfekte Spiel in der besten Liga der Welt. Und dieses Foto von Hasenhüttl, des übermannten Gefühlsgiganten, das danach um die Welt geht.
Der große Karrierekick
Was für ein Karrierekick! "The Saints", so wird der südenglische Traditionsverein von seinen Fans genannt. Nun haben sie, neben den Legenden Peter Shilton und Alan Shearer, auch einen steirischen Säulenheiligen. Einen, der nun bereits als künftiger Trainer bei Manchester United oder Chelsea London gehandelt wird.
Was für eine Kickerkarriere! Hasenhüttl, der Bürgersohn aus dem beschaulichen Grazer Randbezirk Andritz, war zunächst eher in sie hineingetaumelt, als sie sich zu erstürmen. "Antikicker" und "Blinder" schimpften sie ihn damals von den Rängen. "Und das hat ihn schon enttäuscht, auch wenn er nie darüber gesprochen hat -aber gleichzeitig auch motiviert", sagt seine Mutter Ingrid, wenn sie sich an den 20. Juni 1987 erinnert:
Im Match des GAK gegen den FC Eisenstadt ist die 75. Minute angebrochen, es steht immer noch null zu null. Die Grazer müssen gewinnen, um sich den Verbleib in der obersten Spielklasse zu sichern. Ein 19-jähriger Bursche macht sich bereit für die Einwechslung, es wird sein erstes Match in der höchsten Liga. Schlaksig und ungelenk wirkt er mit seinen 1,91 Metern -und so nervös, dass er bereits auf dem Weg von der Bank auf das Feld zum Gaudium der Zuschauer erstmals über seine langen Beine stolpert.
Freudentaumelndes Riesenbaby
Eigentlich ist er linker Außenverteidiger, doch an diesem Tag soll er plötzlich Mittelstürmer spielen, dank seiner Größe Verzweiflungsflanken abfangen und verwerten. Aber eigentlich macht er gar nichts, außer ins Leere zu laufen. Bis ihn völlig unerwartet das Zuspiel eines Kollegen ereilt. Er kann den Ball nicht unter Kontrolle bringen, sondern lässt ihn plump von der Innenseite des Schienbeins abprallen -direkt ins Tor. Der GAK gewinnt eins zu null und bleibt erstklassig, der Torschütze fällt seinem Trainer weinend in die Arme.
Der Name des freudentaumelnden Riesenbabys ist Ralph Hasenhüttl -und die Anekdote aus den Achtzigern symptomatisch für seine weitere Karriere: Stolpern, aufstehen, wachsen, so ging das fortan über Jahrzehnte. "Vom Talent her gab es immer Bessere als mich", sagt er rückblickend. Womöglich, ergänzt er selbstironisch, habe er in seiner Stürmerkarriere sogar mehr Tore verhindert als geschossen. "Aber ich habe damals schon etwas gehabt, was mir auch heute noch weiterhilft -nämlich die Gabe, schnell zu lernen. Und die Gabe, schnell aus Fehlern zu lernen."
Aber was denn überhaupt lernen und in welcher Intensität? Der Vater ist Angestellter bei der Sozialversicherung, die Mutter Inhaberin mehrerer Modegeschäfte. Ja und der Sohn? Soll der weiter sein geordnetes Umfeld genießen oder fortan als leidlich begabter Fußballer rennen, rutschen, Gras fressen? Heinz, ein Freund aus Gymnasialtagen, erinnert sich gerne an unbeschwerte Tage am südsteirischen Badesee, und zwar alternativ zum Unterricht. Und an Ausflüge "mit Mädels zur Buschenschank". Und das anfängliche Gekicke beim GAK? Das ergab sich in erster Linie daraus, dass bereits vier Vettern bei den "Roten" spielten. Eher eine Frage der familiären Farbenlehre das Ganze, aber sportlicher Druck war da kein echter. Förster, das wäre, erzählt Mutter Ingrid, laut Berufseignungstest der ideale Job für Ralph Hasenhüttl gewesen: viel Ruhe und unberührte Natur und keine kampfzerpflügten Fußballfelder.
Der Altstar und der Wasserträger
Doch nach seinem Aufstiegstor hatte Hasenhüttl Gefallen am richtigen Fußball gefunden, und so wurde aus dem frischgebackenen Maturanten eben ein Profi. Damals hatte er abgezockte Role Models wie die einstige HSV-Stürmerlegende Dieter Schatzschneider an seiner Seite. Der ließ seine Karriere in Graz gemütlich ausklingen, war für seinen Torriecher aber noch immer berüchtigt und auch für seine Schimpftiraden. "Was mich der Dieter alles geheißen hat, kann ich gar nicht wiedergeben", blickt Hasenhüttl zurück. Doch gerade in Sachen Stellungsspiel war der grimmige Deutsche dem unbedarften Steirerbuam ein brauchbarer Lehrmeister. Und Rookie Ralph selbst? Der stolperte, stand wieder auf und wuchs. Und trug, wie Schatzschneider genüsslich erzählt, für die älteren Kollegen die Wasserflaschen zum Training.
Als Spieler schaffte es Hasenhüttl immerhin zu österreichischen Topklubs wie Austria Wien und Austria Salzburg, doch international blieb er gerade einmal Mittelmaß: In Belgien kickte er für die Provinzklubs KV Mechelen und Lierse SK, in Deutschland für die damaligen Zweitligisten 1. FC Köln und Greuther Fürth, ehe seine Karriere bei den Bayern-Amateuren in der Regionalliga zu Ende ging. 37 war er da bereits, als er in München mit zwei hoffnungsvollen Talenten namens Philipp Lahm und Bastian Schweinsteiger gemeinsam aufs Feld trabte -und auch von denen ganz ohne Dünkel lernte. "Die haben keine Fehler gemacht, hatten immer ein Lösung, auch wenn es eng war. Da lernst du noch, vorausgesetzt, du bist dazu bereit." Und Hasenhüttl war bereit. Weil er sich, den sie von den Stehplätzen herunter einst "Blinder" geschimpft hatten, stets gewärtig war, selbst kein Fußballgott zu sein. Und so konnte er als Trainer nicht gleich in der höchsten Spielklasse einsteigen wie die Prohaskas und Krankls mit ihrer großen Vergangenheit. Die Karriere des Fußballlehrers Hasenhüttl begann reichlich unglamourös: In der Münchner Vorstadt verdingte der Ex-Profi sich als Juniorencoach des damaligen Zweitligisten Spielvereinigung Unterhaching.
Ein Zufallstreffer namens Hasi
"Sein Engagement ergab sich mehr oder weniger zufällig", erinnert sich der Pensionist Harry Deutinger, 71, der in diesen Tagen der Cheftrainer bei den Hachingern war. Der "Hasi", damals selbst bereits Vater zweier Buben, habe ganz einfach gut "mit der Jugend können", sei eine "natürliche Respektsperson" gewesen -aber ohne dass irgendwer vor ihm gezittert hätte. Heute ist es sein Sohn Patrick, 23, der den Namen Hasenhüttl in Unterhaching hochhält, erst kürzlich hat der bullige Stürmer, ein Ebenbild seines Vaters, dort sein erstes Profitor in der dritten Liga erzielt.
Doch zurück zum Senior und dessen neuem Job an der Seitenlinie. Und dessen Bereitschaft, aus Fehlern zu lernen. Auch aus jenen der Betreuer, unter denen er als Spieler gelitten hatte: Der Trainer-Gott befiehlt, und die untergebenen Spieler gehorchen, ich Legende, du Lehrbub, so lief das früher, als blinde Innenverteidiger wie der "Hasi" noch per Betreuererlass zu Stoßstürmern umfunktioniert wurden. Doch modernes Coaching ist in erster Linie Psychologie. Und die scheint Hasenhüttl zu beherrschen. "Er hat etwas, das große Trainer ausmacht", sagt Michael Henke, früher Co-Trainer von Bayern Münchens einstigem Star-Betreuer Ottmar Hitzfeld und später auch Hasenhüttls Assistent. "Der Ralph hat die Gabe der Menschenkenntnis und der Menschenführung -so wie Hitzfeld."
Am Klavier der Gefühle
Eine Linie vorgeben, aber auch gezielt in die Mannschaft hineinhören, so macht das der Ösi-Hitzfeld. "Es hat ja keinen Sinn, den Spielern etwas aufs Aug zu drücken, von dem sie nicht überzeugt sind." Nur achtlos liegengelassenes Zeugs in der Garderobe kann er überhaupt nicht ausstehen, so was wird dokumentiert und sanktioniert, da kennt der Sohn aus gubürgerlichem Hause nichts. Im Grunde gilt der strikte Antialkoholiker und bekennende Milchfreund aber als besonnen und ruhig. Doch wenn ihn ab und zu die Emotionen heimsuchen, hält er sie nicht zurück: Auf Trainingslagern nimmt der musikalische Autodidakt zu fortgeschrittener Stunde schon mal am Klavier Platz, spielt ein wenig Robbie Williams und Queen. "Er kann alles, sogar die Mondscheinsonate", erzählt Mutter Ingrid.
Rasch avanciert Hasenhüttl in Unterhaching zum Chefcoach. Danach übernimmt er in der 3. Liga den VfR Aalen und führte ihn in die 2. Liga. Dort angekommen, heuert er beim FC Ingolstadt an und hievt den Verein in die Bundesliga. Und von da wiederum wechselt er zu RB Leipzig und macht die Sachsen in der ersten Saison nach deren Aufstieg auf Anhieb zum Vizemeister und Championsleague-Teilnehmer. "King Ralph!", brüllt die "Bild"-Zeitung. Und so klopft sogar Bayern München an -doch Hasenhüttl widersteht der Versuchung. Stattdessen zieht der stolpernde Riese weiter, um nochmals zu wachsen: nach Southampton. "The Alpine Klopp" nennen sie den Mann aus dem Alpenvorland dort nun, seit er zu Jahresbeginnn den echten Klopp, seinen Kollegen aus Tagen der Trainerausbildung, knapp, aber doch bezwang. Letzterer gewann zwar Champions League und Meisterschaft, doch derlei Erfolge sind und bleiben für einen wie Ralph Hasenhüttl stets relativ.
Die Idee vom alltäglichen Glück
"Es ist die Frage, ob der FC Bayern für einen Trainer wirklich ein erstrebenswertes Ziel ist", philosophiert er, bereits in England, im Gespräch mit dem "Spiegel". Was, fragt er sich, müsse man dort nicht alles gewinnen, ehe man die Anerkennung kriege, die man verdiene?
Niko Kovac, der Mann, den sie statt ihm verpflichtetet hatten, holt "nur" das Double und wird gefeuert. Im Profifußball, sagt Hasenhüttl - und das könnte man wohl als die wichtigste Erkenntnis aus der eigenen Vita betrachten -gehe es aber nicht unbedingt um Trophäen. Und so beschloss er, wie schon zuvor als Spieler, seine Idee von Glück an dessen Alltagstauglichkeit auszurichten: "Ein ehrgeiziger Trainer kann sich auch andere Ziele setzen und an vermeintlich kleineren Entwicklungsschritten großen Gefallen finden." Sein Klassenerhalt mit Southampton etwa sei für ihn "gefühlt ein Titel" gewesen.
Hasen? Huettle? What? Als der Steirer vor zwei Jahren in der Hafenstadt andockt, stehen die "Saints" vor dem Abstieg und die Tabloids vor einem Rätsel. "Hasenhüttl, that means: a small hut for rabbits", übersetzt der Neue in seiner Antrittspressekonferenz. Nachdem das geklärt war, stellt Mister Rabbithut sein Team von defensiver Zerstörung auf aggressives Gegenpressing um, nimmt mehr Risiko und etabliert den einstigen Abstiegskandidaten im oberen Tabellendrittel. Nur einmal, da verliert er gegen Leicester null zu neun, die höchste Niederlage in der Geschichte der Liga. Andere Trainer könnten nach so einer Packung den Spind räumen. Doch Ralph Hasenhüttl? Der macht ganz einfach wie gewohnt weiter: stolpern, aufstehen, wachsen.
David Pesendorfer ist GAK-Fan und war Augenzeuge von Hasenhüttls erstem Tor als Stürmer. Für ihn ist klar: "Hasi" hat das Zeug zum Fußballteamchef. Und was meinen Sie? Soll er irgendwann einmal Franco Foda beerben? pesendorfer.david@news.at
Der Beitrag erschien ursprünglich im News der Ausgabe 03/2021.