Die letzte Uraufführung eines Ballettdirektors mag Anlass zu Pathetik geben. Als übertrieben gefühlvoll kann der gestrige Premierenabend in der Wiener Staatsoper dennoch nicht beschrieben werden. „Facettenreich“ trifft viel eher, was sich dem Publikum bot: Ein kontrastreicher Einblick in das Schaffen zweier Ikonen der New Yorker Tanzmoderne – George Balanchine und Merce Cunningham –, gefolgt von Martin Schläpfers abschließender Arbeit für die Compagnie des Wiener Staatsballetts.
Das Premierenpublikum bedankte sich mit anhaltendem Applaus und Standing Ovations und verdeutlicht damit nach Schläpfers vielkritisierter Direktionszeit, dass Wien mit ihm auch einen einzigartigen kreativen Geist verliert.
Neoklassik: Musizieren mit dem Körper
Die dreiteilige Darbietung wird mit einem neoklassischen Tutu-Ballett von George Balanchine eröffnet: „Divertimento Nr. 15“ aus dem Jahr 1956 ist eine der wenigen Choreografien, die der Mitgründer des New York City Ballets auf ein Werk von Wolfgang Amadeus Mozart schuf. Schon bevor sich der Vorhang hebt, erklingt Mozarts Divertimento B-Dur KV 287 unter der musikalischen Leitung von Christoph Altstaedt.
Das Ensemble aus fünf Solistinnen, drei Solisten und einem Corps de ballet verzaubert durch neoklassisches Musizieren mit dem Körper. Arabesques, Spagatsprünge, schnelle Schritte und Pirouetten – für Balanchine typische choreografische Elemente – sind perfekt auf die Musik abgestimmt. Auf einer leeren Bühne vor blauem Hintergrund erstrahlen die pastellfarbenen Kostüme der Designerin Karinska: eigelbe Tutus, mit Strasssteinen und Maschen verziert, für die Solistinnen, hellblaue Fracks für die Solisten.


Das Ensemble zeigte George Balanchines Mozart-Ballett Divertimento Nr. 15
© Ashley TaylorWer sich erinnert, dass die Wiener Compagnie unter Schläpfer oftmals für den Verlust an Synchronität und Genauigkeit kritisiert wurde, mag das Corps de ballet bei diesem Auftritt genau beobachten und feststellen: Nicht jedes Passé entspricht exakt dem benachbarten. Doch verleiht womöglich dieser Hauch an Imperfektion der Performance erst seine Authentizität. Schließlich war das New York City Ballet unter Balanchine durchaus für Asynchronität bekannt.
Eigenständigkeit der Kunstgattungen
Abgelöst wird das duftige, heitere Stück von einem auffallenden Kontrastprogramm. Mit „Summerspace“ aus 1958 ist erstmals ein Werk des Tanzavantgardisten Merce Cunningham mit dem Wiener Staatsballett in der Wiener Staatsoper zu sehen. Es ist ein sprungfreudiges Tanzstück, in dem sich Musik, Bühnenbild, Kostüm und Tanz voneinander lösen, jede Kunstgattung ihre Eigenständigkeit haben darf. Das Tempo, in dem die Solistinnen zu Beginn über die Bühne laufen – den einen Arm nach vorne, den anderen nach oben gestreckt – steht im Gegensatz zu Morton Feldmans atmosphärischem, unaufdringlichem „Ixion“ für zwei Klaviere.
Befreit von den traditionellen Vorstellungen des Theaterraums und des Balletts, eröffnet sich ein Bewegungsrepertoire der Andersartigkeit. Kreisende Hände, krumme Rücken, durchgestreckte Arme. Dynamische Gesten folgen auf Sekunden des Stillstands, in denen die Pianisten unverändert fortfahren. Die Bewegungen, mal zögerlich, mal entschlossen, zeigen vielfältige Möglichkeiten, den Raum zu durchqueren. Robert Rauschenberg – er galt als Wegbereiter der amerikanischen Pop Art – bereicherte das Werk mit einem pointillistischen Bühnenbild und hautengen Ganzkörperkostümen, deren ähnliche Muster miteinander verschmelzen. In grün und pfirsichfarben gehalten, unterstreichen sie die sommerliche Atmosphäre des Tanzes, der von der Natur inspiriert wurde und das Ensemble wie Vögel über die Bühne fliegen lässt.


Solotänzerin Rebecca Horner
© Ashley TaylorSchläpfers Abschiedswerk
Es folgt ein Sprung in die Gegenwart. Das Schlusslicht des dreiteiligen Abends bildet Schläpfers „Pathétique“ zu Piotr I. Tschaikowskis gleichnamiger Symphonie Nr. 6 h-Moll op. 74. Dass der scheidende Ballettdirektor, der mit Ende der Saison wieder in die Schweiz zieht, ausgerechnet Tschaikowskis letzte und noch dazu hochdramatische Symphonie vertanzt hat, soll, wie er bereits im Vorhinein betonte, nichts mit seinem Fortgang zu tun haben.
Ein letztes Mal hat er also für die Wiener Compagnie choreografiert und auch diesmal wird – nicht zuletzt anhand der vielfältigen Kostüme in entsättigten Farben – deutlich, welche bedeutende Rolle Individualität der Tanzenden für seine Arbeit einnimmt. Dramaturgisch ist er nicht an einem stringenten Narrativ interessiert, er zeichnet poetische Bilder, verkörpert Emotion und bietet mit der Eröffnung mehrerer Schauplätze Raum für Assoziationen: Vom Alkoholkonsum, über die Startposition eines Sprints bis hin zu einem zitternd sterbenden Körper.
Stilistisch begegnen sich verschiedene Positionen, Schläpfer lässt sowohl auf Spitze als auch barfuß tanzen. Hinter einem blaugrauen Vorhang zieht phasenweise das Corps de ballet vorbei, symbolisiert die Vergänglichkeit des Lebens, während im Vordergrund Tänzerinnen in die Arme ihrer Partner fallen. Die Solistinnen werden zum Schweben gebracht, über die Bühne geschliffen, auf einem Rollbrett fortbewegt.


© Ashley Taylor
Mehrmals gibt es Zwischenapplaus für die fast einstündige Darbietung. Zum Abschluss führt das Werk über Tschaikowskis Partitur hinaus, mündet in Georg Friedrich Händels Arie „Süße Stille“. Ein getanztes Solo wird zum Pas de deux, ehe auch das Ensemble aus einem Stillstand erwacht, mit langsamen Schritten in Richtung Bühnenmitte schreitet. Dem zuvor gestorbenen Tänzer wird eine Hand entgegengestreckt – und er erwacht: eine Szene der Auferstehung markiert den Abschluss des womöglich letzten Werks von Martin Schläpfer.
Dass es seine abschließende Uraufführung mit dem Wiener Staatsballett gewesen sein soll, mochte man dem Direktor bei der Premiere jedoch kaum anmerken. Er zog sich nach tosendem Applaus in die hinteren Reihen zurück, rückte seine Tänzer und Tänzerinnen in den Vordergrund, bedankte sich bei ihnen. Denn letztlich verabschiedete er sich nicht nur beim Publikum, sondern auch bei dieser einzigartigen Wiener Compagnie, auf die im Herbst – wie auch für ihn – ein Neubeginn wartet.