Als Vertreter der High-Tech-Architektur baute Norman Foster 1979 sein erstes Hochhaus mit ökologischem Gewissen. Eine Retrospektive im Centre Pompidou, die Architektur-Biennale und eine Monografie erzählen von sechs Jahrzehnten seiner Architekturjuwelen. All das wäre nicht gelungen ohne Fahrradausflüge nach Cheshire als Bub aus Manchesters Arbeiterviertel
Steckbrief Norman Foster
Name: Norman Robert Foster
Geboren am: 1. Juni 1935 in Manchester, England
Titel: Baron Foster of Thames Bank, OM (Order of Merit), Kt. (Knight Bachelor)
Ausbildung: Studien an der Universität Manchester und der Yale School of Art and Architecture
Beruf: Architekt
Familienstand: in 3. Ehe mit der Medizinerin und Verlegerin Elena Ochoa verheiratet
Kinder: fünf Kinder - Tochter Paola, Söhne Eduardo, Jay, Cal und Ti
Seine Neugierde betreffend die großen Fragen der Architektur blüht. So beschreibt MAK-Direktorin Lilli Hollein Norman Foster, einen der einflussreichsten Architekten unserer Zeit. Sie traf ihn vor Kurzem beim Spazieren durch die Architektur-Biennale in Venedig. "Man spürt auch im hohen Alter sein wahrhaftiges und lebendiges Interesse an dem, was nachkommt. Er ist offen für die Art, wie andere die großen Fragen beantworten", beschreibt Hollein, die Foster seit Jahrzehnten freundschaftlich verbunden ist, einen immanenten Teil des Genies des Architekten.
Seit mehr als sechs Jahrzehnten erschafft er rund um den Globus architektonische Wahrzeichen, die sich durch ihre innovative Modernität und das grundlegende Interesse an den Nutzern auszeichnen. "Seine lebenslang überdurchschnittliche Neugierde und Antrieb sind bemerkenswert", so Hollein. Zuletzt erwuchs daraus eine Antwort auf Flüchtlings- und Obdachlosenkrisen. Auf der Architektur-Biennale (noch bis 26. November 2023 in Venedig) präsentierte die Norman Foster Foundation gemeinsam mit dem Fertigungsunternehmen Holcim die "Essential Homes". "Wie können wir sicherstellen, dass alle Menschen, einschließlich einiger der schwächsten Bevölkerungsgruppen unserer Welt, Zugang zu angemessenen Lebensbedingungen haben?", formulierte Foster bei der Eröffnung in Venedig die Aufgabenstellung. Mit einer Außenhülle aus kohlenstoffarmen, rollbaren Betonplatten bieten die Mini-Häuser Sicherheit und Komfort für vertriebene Gemeinschaften, wobei auf Nachhaltigkeit und Energieeffizienz geachtet wurde. "Man kann sie innerhalb von drei Tagen bauen, ohne dass Fachkräfte benötigt werden. Der Kohlenstoffausstoß ist um 70 Prozent geringer als bei vergleichbaren traditionellen Bauweisen", stellte Foster vor.
Norman Foster, ein grüner Revolutionär
Ökologisches Bewusstsein und eine Leidenschaft für Nachhaltigkeit pflegte Norman Foster bereits, als beides in der Architektur noch eine untergeordnete Rolle spielte. Gemeinsam mit seinem ganzheitlichen Blick auf Aufgabenstellungen sind es Attribute, die zum Schlüsselfaktor seiner Arbeiten wurden. Eindrucksvoll belegte dies bereits sein erstes international aufsehenerregendes Projekt, die Zentrale der Shanghai Bank in Hongkong aus dem Jahr 1979. Das 178,8 Meter hohe Hochhaus, mit dem sein Büro damals den weltweiten Durchbruch schaffte, verfügt über ein Klimatisierungssystem, bei dem Wasser aus der Bucht durch einen unterirdischen Tunnel nach oben gepumpt wird. Es ist eines von Fosters architektonischen Wahrzeichen, die in einer neuen XXL-Monografie in zwei Bänden anhand von mehr als 2.000 Fotos und Skizzen aus persönlichen Archiven porträtiert werden.
Im Prachtband betont Spencer de Grey, Wegbegleiter und Partner bei Foster + Partners, den Kern des 1969 gegründeten und heute 1.500 Mitarbeiter zählenden Architekturunternehmens so: "Die Idee, dass Bauwerk, Umwelttechnik, Beleuchtung, Landschaft und Architektur eine Einheit bilden und keine getrennten Disziplinen sind, war meiner Meinung nach von grundlegender Bedeutung für die Art und Weise, wie das Büro begann und sich dann weiterentwickelte."
Norman Foster hat die Zukunft vorausgedacht
Im Pariser Centre Pompidou geht die in Zusammenarbeit mit Foster + Partners entstandene und von Frédéric Migayrou, dem stellvertretenden Direktor des MNAM-CCI, kuratierte Retrospektive noch bis 7. August den Themen Nachhaltigkeit und Vorwegnahme der Zukunft nach. Zeichnungen, Skizzen, maßstabsgetreue Originalmodelle, Dioramen und Videos machen Besucher mit 130 Projekten vertraut. Zur Eröffnung erklärte Foster seine heutige Sicht auf sein Schaffen.
"Die Entstehung des Büros in den 1960er-Jahren fiel mit den ersten Anzeichen eines Bewusstseins für die Zerbrechlichkeit des Planeten zusammen. Dies waren die Anfänge dessen, was später als Grüne Bewegung bezeichnet wurde. Diese Grundsätze mögen heute zum Mainstream gehören, aber vor mehr als einem halben Jahrhundert waren sie revolutionär und nahmen die heutige Realität vorweg. Im Lauf der Jahrzehnte haben wir versucht, Konventionen infrage zu stellen, Gebäudetypen neu zu erfinden und eine von der Natur inspirierte Architektur des Lichts und der Leichtigkeit zu demonstrieren, die nicht nur umweltfreundlich ist, sondern auch Freude bereiten kann", so Foster.
Auch zwanzig Jahre nach seinem ersten "grünen" Wolkenkratzer, als Norman Foster 1999 den prestigeträchtigen Pritzker-Preis erhielt, galt seine nachhaltige Umsetzung als unerreicht einzigartig. Die Jury begründete im Hinblick auf das damals mit 300 Metern höchste Haus Europas, die Commerzbank-Zentrale in Frankfurt mit natürlicher Ventilation und innovativer Fassadenkonstruktion: "Er hat das Hochhaus neu erfunden, indem er Europas höchsten und wohl ersten Wolkenkratzer mit ökologischem Gewissen gebaut hat."
Norman Fosters Kindheit und Jugend
Die Wurzeln für seinen Ansatz, technologischen Fortschritt und nachhaltige Ökologie in Einklang zu bringen, ortet Foster selbst im bereits erwähnten umfassenden Interesse, das ihn schon als Schuljungen geformt hat. "Als ich in einem halb industriellen Vorort von Manchester aufwuchs, entdeckte ich die Arbeiten des Künstlers L. S. Lowry, dessen Gemälde mit ihren langen Reihenhäusern aus Backstein, die von Fabriken und Kapellen durchsetzt sind, wie die Essenz der nordischen Urbanität wirkten - alles ohne eine Spur von Grün", erklärt er seine urbane Prägung.
Als Kontrapunkt dienten ihm Wochenendausflüge mit dem Fahrrad, die ihn in die prächtige Landschaft von Cheshire und den Peak District von Derbyshire führten. "Ich liebte den Kontrast zwischen diesen beiden Welten, der Natur und der Stadt - und das tue ich immer noch."
Fosters Weg in die Architektur führte über Umwege. Zwei Jahre lang arbeitete der Schulabbrecher als Buchhalter im Büro des Stadtkämmerers von Manchester. Dann wurde dem damals 18-Jährigen klar, dass dies nicht seine Zukunft sein sollte. Es folgten zwei Jahre als Radartechniker bei der Royal Air Force, die ihn lehrten, dass auch Elektronik nicht seine Erfüllung war. Privat hatte er nebenbei sein Interesse für Architektur und Design entdeckt. Gebäude, Autos, Lokomotiven, Flugzeuge und Möbel faszinierten ihn, als er nach dem Wehrdienst als Spätberufener im Alter von 21 Jahren sein Studium in Manchester begann. Er nennt es einen "Wendepunkt der totalen Überzeugung und eine Lebensweise, die seither anhält".
Das Studium finanzierte sich der Sohn einer Arbeiterfamilie aus Stockport nahe Manchester als Lkw-Fahrer, Eisverkäufer oder Türsteher. Dank eines Stipendiums konnte er 1962 an der Yale-Universität in den USA seinen Master machen. Mit seiner ersten Ehefrau Wendy Cheesman, mit der er vier Kinder hat, gründete er 1967 sein Unternehmen.
Der Architekt als Stratege
Aus der Generation der Stararchitekten war Norman Foster einer, der sehr früh sehr strategisch dachte, beschreibt MAK-Chefin Lilli Hollein eine weitere Grundlage seines Erfolgs. Sie erinnert sich an einen weit zurückliegenden Besuch, als sie ihn als Studentin zur Recherche für einen Artikel in seinem Londoner Büro traf. "Ich war unglaublich beeindruckt, nicht nur von der Größe des Büros, sondern mehr noch, wie strukturiert und organisiert dort gearbeitet wurde, zum Beispiel in der akribischen Organisation seines Fotoarchivs. Er ist nicht nur ein außergewöhnlicher Architekt, sondern auch ein außergewöhnlicher Unternehmer, der sein Unternehmen sehr früh mit Partnern aufgebaut hat und so weltweit expandieren konnte, wie man das sonst nicht kannte."
Aktuell zeigt sich dieser Ansatz in der besonderen Struktur von Foster + Partners in einem Studiosystem. Über mehrere Jahrzehnte hat Norman Foster diese weltweit einzigartige Organisation in der Architekturbranche aufgebaut, in der sich die Ateliers auf Projekte konzentrieren. "Ich habe etwas getan, was meines Wissens noch niemand getan hat, und zwar: Anstatt zu sagen, dass sich die Gruppen aus betriebswirtschaftlichen Gründen auf geografische Gebiete oder Kontinente oder bestimmte Typen wie Flughäfen oder Sportgebäude konzentrieren sollen, habe ich darauf hingewiesen, dass jeder überall auf der Welt alles machen kann. Man könnte drei Studios haben, jedes mit einem Projekt in New York; man könnte zwei Studios haben, die sich für ein großes Projekt zusammenschließen. Jedes hat ein gewisses Maß an Autonomie. Ich wechsle zwischen all diesen Studios und Projekten und wähle diejenigen aus, denen ich besonders nahe stehe", erklärt Foster seinen Ansatz in der Monografie.
Steve Jobs' Büro und der Reichstag
Das Portfolio von Foster + Partners ist heute vielfältig und erstreckt sich auf Möbeldesign für namhafte Hersteller, Geschirr, Badewannen und Hundehütten. Die Juwelen des Schaffens bleiben die mehr als 250 Bauwerke in rund 40 Ländern weltweit. Als bekannteste Bauwerke werden gern der eindrucksvoll spitze Millennium Tower in Tokio (1989) und Londons 180 Meter hoher Wolkenkratzer 30 St. Mary Axe (1997-2004) angeführt, liebevoll "The Gherkin" (auf Deutsch: Gewürzgurke) genannt. Der Great Court zählt dazu, die Überdachung des Innenhofs des Britischen Museums in London (1994-2000), sowie die Millennium Bridge, die erste Fußgängerbrücke Londons, die seit 1999 die Themse überspannt. Als aufsehenerregend ist der von Steve Jobs persönlich beauftragte und nach seinen Ideen geplante Apple Park im kalifornischen Cupertino einzuordnen. Foster plante ein riesiges Bauwerk in Ringform und ließ in dessen Mitte 9.000 Bäume pflanzen, um das Arbeitsumfeld ansprechend zu gestalten.
Deutschland eroberte der Stararchitekt nach dem Commerzbank Tower in Frankfurt (1991-1997) mit der Rekonstruktion des Berliner Reichstags (1992-1999), den er mit einer Glaskuppel als Zeichen der Transparenz der Demokratie überdachte und mit einem Energiekonzept ausstattete, das mehr Energie erzeugt als verbraucht. Im Arag-Tower in Düsseldorf sorgen seit 2001 rund 5.200 Glasscheiben für eine optimale Nutzung des Tageslichts, und der Dresdner Hauptbahnhof besticht seit 2007 durch sein Membrandach aus reißfestem Gewebe, das für eine lichtdurchflutete Halle sorgt.
Und über allem: Uneitelkeit
"Alles inspiriert mich. Manchmal frage ich mich, ob ich Dinge sehe, die andere nicht sehen", lautet das berühmteste Zitat von Norman Foster. Anders als andere teilt er die Quellen seiner Inspiration freizügig. Als erste und vielleicht wichtigste nennt er den US-amerikanischen Architekten Buckminster Fuller, den er im Alter von 36 Jahren kennenlernte. Leichtigkeit, Sparsamkeit beim Einsatz der Mittel und ein Bewusstsein für die Welt jenseits der Architektur waren die Markenzeichen von dessen Arbeit. Foster schätzt sich glücklich über die Bekanntschaft und erzählt gern davon, wie er diese Ideen aufnahm und weiterführte. Er bezeichnet Fuller als "eine Person, die zu Erforschung, kreativem Denken und Innovation inspirierte".
Es ist auch diese Uneitelkeit, Inspiration zu teilen und den Nachwuchs zu unterstützen, die zum Erfolg von Norman Foster gehört. Lilli Hollein attestiert sie ihm aus naher Kenntnis, mutmaßend, dass diese Eigenschaft wohl dazu beiträgt, nie den Blick aufs Wesentliche zu verstellen, auf das Werk. "Dass er als Spiritus Rector über allem steht und den Plan vorgibt, ist ebenso klar, wie dass ein Büro von dieser Größe nicht dem Personenkult eines Mannes anhängen kann", so Hollein. Eine Eleganz in der Leitung ortet sie im Meister, eine befruchtende Verbundenheit mit seiner dritten Frau, der Kunstkuratorin und Verlegerin Elena Ochoa, und loyale Verbundenheit zu denen, die er Freunde nennt. Davon erzählen weder Paris noch Venedig.
Das Buch
Architekturgigant Norman Foster und Autor Philip Jodidio führen in der XXL-Monografie in zwei Bänden* durch Fosters bedeutendste Projekte. Band eins zeigt die wichtigsten Bauten anhand von mehr als 2.000 Fotos und Skizzen aus Fosters Archiven. Band zwei enthält acht Essays, in denen Foster die Quellen seiner Inspiration erläutert, sowie 1.000 weitere Illustrationen. Taschen, 30,8 x 39 cm, 9 kg, 1.064 Seiten
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 23/2023 erschienen.
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