Drei Jahre nach dem Verlust ihres Vaters stellt Mikaela Shiffrin demnächst den ewigen Rekord von Ingemar Stenmark ein. Ihr Erfolgsgeheimnis ist vielfältig. Resilienz und Offenheit zählen dazu. Der Schmerz um den Vater würde nie heilen, sagt sie im Interview.
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Steckbrief Mikaela Shiffrin
Name: Mikaela Pauline Shiffrin
Geboren: Am 13. März 1995 in Vail, Colorado
Beruf: Skirennläuferin
Größe: 170 cm
Familienstand: in einer Beziehung mit Alexsander Aamodt Kilde
Kinder: keine
Die Tragödie traf sie im Moment höchsten Glücks. In einer raren Rennpause stand Mikaela Shiffrin in Italien für das Cover der Branchenbibel „Sports Illustrated“ vor der Kamera, als ein Telefonanruf ihre Welt erschütterte. Als „weltweit dominante Athletin“ ehrte das Fachmagazin die US-amerikanische Skifahrerin später in seiner Titelzeile. Mit gerade 24 Jahren hatte Shiffrin damals den Sieg-Rekord von Annemarie Moser-Pröll übertroffen und sich Marcel Hirschers Bestmarke bis auf einen genähert. Im Weltcup führte die junge Athletin so klar, dass ihr der vierte Gesamtsieg sicher schien.
„Ich fühle mich, als wäre ich auf dem Gipfel der Welt angekommen“, sagte Shiffrin am Rande des Fotoshootings. Da wusste sie nicht, dass zur selben Zeit Tausende Kilometer entfernt in Denver, Colorado, ihr Vater Jeff Shiffrin nach einem Unfall schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Sie erfuhr es am Telefon und brach sofort in die Heimat auf. Jeff Shiffrin starb kurz nachdem die Familie – Mutter Eileen, Bruder Taylor und Mikaela – ans Krankenbett gekommen war.
Drei Jahre später ist Shiffrin als Branchenleaderin zurück. Dass sie kommendes Wochenende oder – wahrscheinlicher – am Wochenende danach Ingemar Stenmarks seit 34 Jahren uneingeholten Rekord an Weltcup-Siegen einstellt, gilt in der Skiwelt als fix und wird mit Hochspannung erwartet.
Shiffrin selbst rückt andere Dinge ins Licht. Vor wenigen Wochen teilte die 27-Jährige auf Twitter ein Foto, das sie an ihren sterbenden Vater geschmiegt zeigt. Seine Urgewalt an Ehrlichkeit war schockierend und wunderschön zugleich. „In dem Moment, in dem ich dieses Bild gepostet habe, habe ich meinen Vater besonders vermisst. Ich wollte diesen letzten Moment teilen, in dem ich ihn gesehen und umarmt habe, nachdem sein Herz aufgehört hat zu schlagen“, beschreibt sie im News-Interview ihre Motivation.
Dem Heilungsprozess war ihr entwaffnend offener Umgang mit ihrem größten Verlust jedenfalls nicht geschuldet, erklärt sie auch. „Ehrlich gesagt, ich glaube nicht, dass man nach so einem Verlust überhaupt ganz heilen kann“, erlaubt sie Einblick in ihre seelische Verfassung. Man könne aber wieder lernen zu leben und zu sehen, dass das Leben noch viel bereithält, sagt sie.
Bei den Rennen in Spindlermühle vor wenigen Wochen, drei Jahre nach Jeff Shiffrins Tod, fehlten Mikaela nur sechs Hundertstel auf den Sieg und damit Stenmarks Rekord von 86. Weltcupsiegen.
Besser als Hirscher und Vonn
Fragen nach dem Wie stehen rund um die Ausnahmeathletin schon länger im Raum und werden im Licht der Bestmarke dröhnend laut. Wie gelangt man so jung zu solchen Erfolgen? Und wie gelingt es im Angesicht der Tragödie? Eine einzige Antwort darauf gibt es nicht.
Ein Blick auf die Konkurrenz hilft bei der Einordnung, denn schon Shiffrins US-Landsfrau Lindsey Vonn war Stenmarks Zahl an Siegen nahegekommen. Sie war nicht die einzige, die letztlich scheiterte. „Hermann Maiers Karriere war zu kurz. Marcel Hirscher hat zu früh aufgehört und Lindsey haben die Verletzungen einen Strich durch die Rechnung gemacht“, erklärt der aus Tirol stammende US-Alpinchef Patrick Riml, was andere Seriensieger abhielt. Auch Österreichs Jahrhundert-Sportlerin Annemarie Moser-Pröll, demnächst 70, wäre wohl noch für mehr Siege gut gewesen. Sie pausierte damals, um ihren kranken Vater zu pflegen.
Die Vergleiche zeigen, dass Shiffrins Erfolg neben ihrem Talent vor allem ihrer herausragenden sportlichen und mentalen Fitness geschuldet ist. Denn bis auf eine Knieverletzung, die mehrwöchige Trauerphase und verpatzte Rennen bei Olympia 2022 in Peking zeigt ihre Leistungskurve seit mehr als einem Jahrzehnt nur aufwärts. „Solche Hochkaräter wie Vonn und Shiffrin im Team zu haben, ist ein Glücksfall“, ist US-Alpinchef Riml dankbar.
Basis von den Eltern
Die Basis schufen Jeff und Eileen Shiffrin Ende der 90er-Jahre in der US-Skihauptstadt Vail in Colorado. Als zwei Jahre jüngere Schwester von Bruder Taylor kam Mikaela Pauline Shiffrin dort am 13. März 1995 zur Welt. Die Eltern arbeiteten im als Anästhesist bzw. Krankenpflegerin und waren lange Skilehrer an der US-Ostküste gewesen. Mikaela und Taylor wurden jung auf Ski gestellt. Gerne erzählte Jeff Shiffrin bei raren Zusammentreffen mit Journalisten, wie seine Kids einst auf wackeligen Langlauf-Skiern die Garageneinfahrt hinuntergefahren waren. Mit Alpinskiern im Gelände, im Tiefschnee und auf Buckelpisten schärften die Eltern danach die Sinne des Nachwuchses für intuitives Skifahren und schufen eine gute technische Basis.
„Mikaelas Eltern haben wie bei einem Hausbau für eine solides Fundament gesorgt, auf dem alle Trainer aufsetzen konnten“, beschreibt es Riml. Dazu zählten auch die Coaches der Burke Mountain Academy in Vermont, wo Shiffrin Rennsport--Feinschliff und Schulabschluss erhielt. Damals hatte die Kunde vom „Ski-Wunderkind aus den Rocky Mountains“ (New York Times) längst die Runde gemacht. Denn Shiffrin hatte bereits im Alter von 14 Jahren sogar ältere Burschen bei Skirennen hinter sich gelassen.
Registriert hatte das auch Kilian Albrecht. Der Vorarlberger, als Skirennläufer selbst Kitzbühel-Zweiter und Olympia--Vierter, nahm die blutjunge aber weithin unbekannte Skifahrerin schon damals unter Vertrag. Heute ist Shiffrin das Filetstück seiner Management-Agentur ASC.
Schon mit 16 klare Ziele
Bei einem von Albrecht eingefädelten Sponsorentermin anlässlich der US-Skirennen in Aspen wurde internationalen Fachjournalisten erstmals klar, dass sich mit der Amerikanerin im Skisport Großes ankündigen könnte. Gut 20 Minuten referierte die damals 16-Jährige überzeugend und ohne Notizen über ihren Werdegang, ihre Ziele und ihre Träume. Derartiges hatten die Anwesenden selten erlebt.
Shiffrin ließ Taten folgen. Mit 17 holte sie ihren ersten Sieg im Weltcup. Anfangs galt sie als Slalom-Spezialistin. Nach und nach gewann sie auch in anderen Disziplinen und überflügelte der Reihe nach die Rekordmarken historischer Skistars wie Hermann Maier (54 WC-Siege), Marcel Hirscher (67) oder Lindsey Vonn (82).
2013 wurde sie in Schladming erstmals (Slalom-)Weltmeisterin, ein Jahr später in Sotschi jüngste Olympiasiegerin in ihrer Paradedisziplin. Noch vor dem 24. Geburtstag knackte sie als jüngste Läuferin die 50-Siege-Marke und schaffte 17 Saisonsiege. Die sind ebenso ein Rekord wie Shiffrins 14 WM-Medaillen bei nur 17 Starts. Die Doppel-Olympiasiegerin ist aktuell auch die Einzige, die in allen sechs Alpinski-Disziplinen gewonnen hat.
Sie setzt auf Teamleistung
Bevor sie nach dem Tod ihres Vaters 2020 eine Renn-Pause einlegte, galt ihr die vierte große Kristallkugel für den Gesamtweltcupsieg als sicher. Diese steht nun mit Verspätung seit vergangenem Jahr im Traumhaus in Edwards, Colorado. Die fünfte Kristallkugel ist ihr dank uneinholbarem Vorsprung so gut wie sicher, wie auch die siebente Slalom-Kugel.
Zur perfekten sportlichen und mentalen Basis des Ausnahmetalents kommt eine Teamleistung, bei der die ehrgeizige Rennläuferin mit Mutter Eileen die Fäden fest in der Hand hält. Eileen Shiffrin ist stets an der Seite der Tochter und gilt als Drehscheibe im fixen Team, zu dem eine Physiotherapeutin, Medien-Expertin Megan Harrod, Agent Kilian Albrecht und – nach der jüngsten Trennung von US-Coach Mike Day noch präsenter – der Österreicher Mark Mitter als Coach zählen.
Das einstige Wunderkind Shiffrin ist längst zur Ski-Perfektionistin geworden. Sie agiert nach dem Motto: Veränderung wo nötig, Konstanz wo bewährt. Sie fährt seit mehr als einem Jahrzehnt mit demselben Kopfsponsor und setzt seit ihren Teenager-Tagen auf Atomic-Ski aus Altenmarkt in Salzburg. Atomic-Rennchef Christian Höflehner erinnert sich an „unzählige“ Versuche anderer Firmen, Shiffrin abzuwerben. Inzwischen ist Ruhe eingekehrt. „Mikaela hat praktisch alle ihre Erfolge auf Atomic eingefahren, da kann man viel verlieren“, erklärt der Steirer den Umstand.
Loyal nach dem „cycle“-Fauxpas
Neben dem Talent gaben die Shiffrins ihrem Nachwuchs auch viel Sinn für Empathie und respektvolles Miteinander mit. Davon spricht Shiffrin nicht nur oft, das zeigt sie auch im Alltag. Gerne überlässt Mikaela ihren Mitstreiterinnen das Rampenlicht. „Sei nett, denk nach und habe Spaß“, war ein Lebensmotto ihres Vaters. „Das werde ich mein Leben lang beherzigen“, versichert sie. Dass sie trotz brutaler Wettkampf-Situation versucht, in erster Linie Mensch zu bleiben, beweist ein anderes Mantra der Ski-Enthusiastin. „Nett, freundlich und hilfsbereit zu sein, wird niemals aus der Mode kommen“, ist sie überzeugt. „Mikaela ist Teil einer Generation von Champions, die freundlich und bescheiden sind, sich für das Richtige einsetzen, sich gegen soziale Ungerechtigkeiten aussprechen und ihre Konkurrentinnen und Rivalen aufrichten. In Niederlagen oder Sieg“, erklärt Medien-Expertin Harrod. Mikaela Shiffrin nutze das Rampenlicht gerne, um andere zu beleuchten.
Noch so viel mehr möglich
Aufmerksamkeit für Tabuthemen erreicht sie mit Lässigkeit. Jüngst sprach sie etwa in einem TV-Interview von ihrer Monatsperiode (englisch: cycle). Als der Kommentator dies fälschlicherweise mit „Fahrrad fahren“ (Cycling) übersetzte, musste er viel Spott einstecken. Mikaela Shiffrin nahm ihn öffentlich in Schutz.
Es ist leicht, der unprätentiösen Athletin ihren 86. Sieg zu gönnen. Die Ski-Ikone Ingemar Stenmark vom Thron zu stoßen, ist der sechs Jahre nach Stenmarks letztem Sieg geborenen Amerikanerin selbst unangenehm. Der Debatte um den oder die Größte oder Größten aller Zeiten erteilte sie eine Abfuhr. „Vielleicht kann ich Stenmark an Zahlen einholen. Aber niemals sein Vermächtnis“, stellte sie klar.
US-Alpinchef Riml wird diesbezüglich deutlicher: „Mikaela ist mega-ehrgeizig. Sie hat so früh mit dem Gewinnen begonnen, dass noch mehr möglich ist.“ Atomic--Manager Höflehner hofft, dass Mikaela Shiffrin zumindest bis Olympia 2026 in Mailand/Cortina fährt. Er würde ihr am liebsten einen Zehnjahresvertrag bieten. „Dann kann sie fahren, so lange sie will. Wir nehmen jedes Jahr, das sie uns schenkt.“
Von außen betrachtet erscheinen selbst Marcel Hirschers acht Weltcup-Gesamtsiege als erreichbares Ziel. Egal, wann Shiffrin ihren 86. Sieg holt, dem die Skiwelt entgegenfiebert: Es wird nicht dabei bleiben. Das sah auch Stenmark in einem aktuellen Fernsehinterview so: „Mikaela ist so gut. Ihr traue ich auch 100 Siege oder mehr zu.“
MIKAELA SHIFFRIN IM NEWS-INTERVIEW:
MIKAELA SHIFFRIN IM NEWS-INTERVIEW:
Angesichts der historischen Marke, die Sie in die Weltcup-Geschichtsbüchern verewigen wird: Wie möchten Sie in Erinnerung bleiben?
Als respektvoller und freundlicher Mensch.
In welchem Gebiet sehen Sie sich, wären Sie nicht als Skirennfahrerin erfolgreich geworden?
Vielleicht in der Medizin oder Wissenschaft ...
Was erachten Sie als die wichtigsten Komponenten, die Sie als Mensch, als Frau und Sportlerin geformt und zu diesem Punkt im Leben gebracht haben?
Meine Familie ist das Wichtigste in meinem Leben. Sie leitet mich und gibt mir auf dieser ganzen Reise Halt. Meine Eltern haben mich immer gelehrt, freundlich und aufgeschlossen zu sein, das Lernen zu schätzen, hart zu arbeiten und Spaß an dem zu haben, was ich tue. Ich glaube, das macht fast alles aus, was ich als Mensch, Frau und Sportlerin erreicht habe.
Was sind außerhalb des Skisports Fragen und Themen unserer Welt, die Sie für wichtig halten und die Sie beschäftigen?
Das Abtreibungsrecht in den USA. Der Klimawandel und die Suche nach Lösungen, wie wir weltweit im Kampf gegen die negativen Auswirkungen, die wir auf die Umwelt haben, vorankommen können. Der Krieg in der Ukraine ... Ich will nicht so tun, als wüsste ich etwas über Politik und Strategie in Sachen Kriegsführung, aber ich denke, ich repräsentiere einen großen Teil der Welt als jemand, der nicht begreifen kann, wie dieser Krieg nach einem ganzen Jahr immer noch andauern kann.
Das Bild, das Sie kürzlich vom Krankenbett Ihres vor drei Jahren verstorbenen Vaters veröffentlicht haben, ist einzigartig und zutiefst berührend. Wollten Sie es als Teil eines Heilungsprozesses mit der Welt teilen? Was war Ihre Motivation?
Ich weiß nicht, ob das ein Teil des Heilungsprozesses ist ... Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass ich auch nur annähernd geheilt bin. Die Zeit hat mir nur eine gewisse Distanz zu dem unmittelbaren Schmerz dieser ersten Momente, Wochen und Jahre verschafft. Ich glaube nicht, dass man nach so einem Verlust überhaupt ganz heilen kann. Aber man lernt, dass das Leben einem noch viel geben kann. Man kann lernen, wieder zu leben. Das ist etwas anderes als „Heilung“, wie es die meisten Menschen bezeichnen. Manchmal wünsche ich mir, dass die Menschen verstehen, wie schwer diese Zeit war. Ich möchte, dass die Menschen das Trauma, das meine Familie und ich erlebt haben, besser verstehen, denn dann verstehen sie vielleicht auch, warum es so lange dauert, bis man wieder lernt zu leben. Damals vergingen nur sechs Monate, bis der Rest der Welt zu wollen schien, dass es mir besser geht und ich weitermache. Aber so funktioniert es nicht. Es ist sehr frustrierend für jeden, der in so eine Situation kommt. Das Gefühl zu haben, dass man um das Recht kämpfen muss, um jemanden zu trauern, den man am meisten auf der Welt liebt. Dass man um die Zeit kämpfen muss, die man braucht, um ein neues Leben in einer Welt annehmen zu können, in der diese Person nicht mehr existiert. Dieser Prozess dauert viel länger als nur sechs Monate. In dem Moment, in dem ich dieses Bild gepostet habe, habe ich meinen Vater besonders vermisst. Ich wollte diesen letzten Moment teilen, in dem ich ihn gesehen und umarmt habe, nachdem sein Herz aufgehört hat zu schlagen. Es war ein Moment, in dem ich nicht nur alles vermisst habe, was ich hatte, als er am Leben war, ich habe auch den exakten Moment des Verlusts samt seinem Schmerz gefühlt.
Der Beitrag erschien ursprünglich im News-Magazin Nr. 09/2023.