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Michela Ghisetti: Mein Weg aus dem Korsett

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©Michela Ghisetti
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Einengend, beklemmend, verformend – das schwarze Korsett der Hamburger Rotlichtikone „Domenica“ wird in der gleichnamigen Werksserie von Michela Ghisetti zur Protagonistin. Zum Sinnbild der Unterwerfung der Frau

Das Betreten des Ateliers gleicht dem Eintauchen in abstrakte Farbwelten – abertausende, kleine Punkte in präziser Anordnung im Wechsel mit mal symmetrischen, gebändigten und mal ausbrechenden, unwillkürlich anmutenden Linien formen heute Michela Ghisettis künstlerischen Kosmos. So ihr Universum überhaupt Grenzen kennt, sind es die ihres Ateliers, das im Dachgeschoß eines Gründerzeithauses den Blick über die Dächer Wiens eröffnet und in seiner Architektur den Eindruck vermittelt, als wäre man dans le beau Paris. „Allmählich wird es etwas eng hier“, legt sie die zusammengenähten Fuchsschwänze beiseite. Sie sollen später Teil eines ihrer interkulturellen, skulpturalen Objekte, die sie liebevoll als „Puppen“ bezeichnet, werden. Der untere Teil des Corpus, ein Korb aus Ghana mit Quasten aus Mexiko, ist bereits am Fertigwerden. Integration ist eines ihrer Hauptthemen. „Mir geht es um das Globale, das Miteinander – deshalb collagiere ich Gegenstände aus meinem Alltag mit Dingen unterschiedlichster Kulturen und schaffe so etwas Neues“, erklärt die in Bergamo geborene Künstlerin.

Ausstellungsvideo zu "DOING DOMENICA" in der Galerie ARTZIWNA

Ausstellungsvideo zu "DOING DOMENICA" in der Galerie ARTZIWNA © VGN | Osama Rasheed

Doch zurück zu ihrem Platzproblem: Abgesehen davon könnte sie sich kaum eine bessere Wirkungsstätte vorstellen. Immerhin gewähren die zu einem raumhohen Rundbogen geformten Fenster der wohl wichtigsten künstlerischen Zutat Einlass – dem Licht, das nicht bloß während des Schaffensprozesses eine zentrale Rolle in Ghisettis Werk spielt. So dient es ihr seit jeher als Inspiration und unterstreicht heute einmal mehr die Expressivität der Primärfarben und ihrer Neon-Abstufungen.

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Ghisettis OEuvre zwischen farbexpressiver Abtraktion (Moana, 150 x 150 cm, Deutsch: das Meer) und Skulptur (aus der Serie Bambola, Deutsch: die Puppe)

 © Michela Ghisetti

Biografisches OEuvre

Während der abstrakte Pol ihres OEuvres so ins wortwörtlich rechte Licht rückt, bleibt das gegenständliche Ende – oder viel eher der künstlerische Anfang, gezeichnet von Perfektion – im Schatten der Verborgenheit. Ihre frühen fotorealistischen Arbeiten sind in Ghisettis Atelier ein rar gesätes Gut. Dass sie überhaupt jemals fotorealistisch gearbeitet hat, ist Resultat der Unterwerfung gegenüber ihrem Vater, einem Verfechter stereotyper Rollenbilder. „Er war stets gegen die Kunst und wollte lieber, dass ich eine sichere, traditionelle Karriere in einer Bank anstrebe“, kann Ghisetti heute darüber schmunzeln. Erst als sie nach zwei Jahren in der Lagerbuchhaltung einer Fabrik einer Depression verfällt, widersetzt sie sich mit letzter Kraft ihrem Vater und wird an der Accademia di Belle Arti di Bergamo vorstellig. Mit Erfolg.

Zunehmend bekommt sie die Missgunst ihres Vaters, der einst selbst Maler werden wollte, zu spüren – sie sei „nicht gut genug“ – und wird zur Projektionsfläche seines eigenen Scheiterns. Um ihn vom Gegenteil zu überzeugen, ergibt sich Ghisetti dem ihr innewohnenden Perfektionismus und zwängt sich in das Korsett der fotorealistischen Arbeit. Erst als ihr andernorts Bestätigung widerfährt, beginnt Ghisetti an sich und ihre Kunst zu glauben.

Um ihren künstlerischen Weg gehen zu können, stellt sie ihre Eltern 1992 – vier Tage nach Erhalt ihres Diploms – vor vollendete Tatsachen und bricht am Morgen des nächsten Tages Richtung Bildende in Wien, Richtung künstlerischer Freiheit, auf. Tracy Chapman wird zum Soundtrack ihres Lebens, die Rolle der Frau und ihre Repräsentation in der Gesellschaft zu einem ihrer Leitmotive.

„Konnte mich sofort identifizieren!“

In ihrem frühen Werkblock „DOING DOMENICA“ verleiht sie der eigenen Unterwerfung letztlich Ausdruck – das schwarze Korsett der Hamburger Prostituierten steht dabei für den engen Raum, in dem sich Frauen oftmals bewegen müssen. Es wird Sinnbild für die Unterwerfung der Frau im Allgemeinen. Fast beiläufig weckt Domenica Niehoff 2008 das Interesse der Künstlerin. Deren Geschichte kannte Ghisetti damals nicht: „Ich bin über ein Cover gestolpert, das eine Frau mit melancholischem Blick und engem, schwarzem Korsett zierte – sie hatte etwas Starkes und Schwaches zugleich“, erzählt Ghisetti, die sich auf seltsame Weise sofort mit Niehoff, deren Wurzeln ebenfalls in Italien lagen und die sich früh ihrem Vater ergab, identifizieren konnte. „Irgendwie habe ich in ihr meine Mutter gesehen. Ich wollte sie unbedingt kennenlernen.“

Während Ghisettis Recherche wuchs die Faszination für Niehoff: „Gemeinsam mit Alice Schwarzer setzte sich Domenica erfolgreich für die Rechte der Prostituierten ein. Eine beeindruckende Frau, die Vorbild für uns alle sein sollte. Sie steht dafür, was es bedeutet, sich aus Fesseln zu befreien. Ihre Geschichte verdeutlicht, was ein starker Wille und Ausdauer bewegen können.“

Als sie letztlich Kontakt zu Niehoff aufnimmt, stieß sie zunächst auf Skepsis: „Sie hat nicht verstanden, was ich mit ihrem Leben anfangen wolle“, erinnert sich Ghisetti. Aus rigoroser Ablehnung wurde Interesse und daraus schließlich – als die beiden in Wien einander persönlich kennenlernten – Begeisterung. „Am Ende war es sogar ihr Wunsch, dass die Arbeiten eines Tages in Museen gezeigt werden.“

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Ein beiläufig entdecktes Magazincover legt den Grundstein für Ghisettis Werksserie DOING DOMENICA

 © Michela Ghisetti, beigestellt

Ein Korsett ist gerade in der Kunst etwas wahnsinnig Kontroverses.

Kunst, Korsett, Kontroverse

Somit machte sich Ghisetti an die Arbeit – replizierte zunächst in mühsamer Handarbeit, da das Original nicht mehr existierte, das damalige Korsett Niehoffs und bat dann Kolleginnen aus der Kunst sich frei und ohne Vorgabe damit zu befassen. Dass sich dabei nicht alle der Enge der Korsage unterwarfen, war ein insgeheimer Wunsch Ghisettis: „Ein Korsett ist gerade in der Kunst etwas wahnsinnig Kontroverses – mir ging es dabei um die unbeeinflusste, intrinsische Motivation jeder Einzelnen. Die Serie ist passiert, wie sie damals im jeweiligen Moment eben passiert ist.“

Mit Liebe zum Detail und Präzision in der Ausführung entstanden so über zwei Jahre insgesamt 18 Frauenbildnisse, die auf den ersten Blick wie Fotografien anmuten. Erst bei näherem Betrachten lösen sich die farbigen Flächen in zarte Buntstiftstriche unterschiedlichster Farben auf und begründen eine Serie, die auch 16 Jahre nach ihrem Entstehen noch von brisanter Aktualität ist. Nach den Frauenzeichnungen ergänzte Ghisetti die Serie um die Werke Supplementum A und B – einen Vibrator und einen Ausschnitt einer angeschlossenen Herz-Lungen-Maschine. „Die Arbeiten sind Zeichen der unerfüllten Liebe und des unendlichen Leids der Domenica.“ 2009 verstarb Niehoff 63-jährig noch ehe die Serie fertiggestellt war.

„Mit ihrem Tod wuchs mein Anspruch, der Serie politischen Raum zu geben und ihren Wunsch nach musealer Präsenz zu erfüllen“, so Ghisetti. Mit Erfolg: 2011 zeigte die Albertina zwei Arbeiten der Serie.

Vom Ende des Fotorealismus

Für die Künstlerin waren die Werksserie und die Beziehung zu Niehoff entscheidende Erlebnisse auf ihrem persönlichen Weg – „beides hat mir geholfen, mein eigenes Korsett abzulegen.“ Mit dem Triptychon „Afua, der Weg“ – dem überdimensionalem Porträt einer Afrikanerin – gelingt Ghisetti 2012 schließlich die Emanzipation vom Fotorealismus. „Als Konrast zum Korsett wollte ich damit Frauen den ihnen zustehenden Platz einräumen.“ Der Zusatz im Titel „der Weg“ steht dabei für die letzten Schritte raus aus dem Korsett: „Ich habe gespürt, dass diese Zeit zu Ende geht – dass mein Vater sterben und ich mich künstlerisch verändern werde“, erinnert sich Ghisetti genau. Die Veränderung der Posen der porträtierten Afua, der Blick nach vorne, ist Symbol für den unmittelbar bevorstehenden, künstlerischen Wandel. Noch ehe sie die Arbeit beendet, stirbt ihr Vater. Afuas nicht vollständig colorierte Hand zeugt vom abrupten Ende Ghisettis fotorealistischer Arbeit. Damit löst sie sich in den letzten Zügen dieses zweijährigen Prozesses auch schlagartig von der Gegenständlichkeit ihrer Arbeiten. „Mir war klar, was jetzt kommt, ist Freiheit – die Befreiung aus der Sklaverei des Motivs.“

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