In seiner Autobiografie „Hoffe“ blickt Papst Franziskus auf sein Leben zurück. Er schildert seine Kindheit in Argentinien, spricht offen über seine Verfehlungen und seinen Vorgänger Joseph Ratzinger.
Ich kann mich gut an den Juli des Jahres 2022 erinnern, als Papst Franziskus in seinem Rollstuhl auf der Ebene von Maskwacis in Kanada saß, inmitten der kleinen Gräber der in katholischen Internaten durch Gewalt oder Nachlässigkeit umgekommenen Kinder. Der Papst hatte seinen Kopf hingehalten an diesem Tag, für eines der schrecklichsten Verbrechen, die seine Kirche angerichtet hatte. Franziskus hatte an dem Tag die Geschichten der Crow-Indianerinnen angehört, die von katholischen Priestern als kleine Mädchen immer wieder vergewaltigt wurden, weil sie ja nur „Wilde“ waren.
Die Verbrechen in Kanada
Die Polizei hatte diese Jungs und Mädchen über 100 Jahre lang abgeholt, einfach aus ihren Familien gerissen, damit die Nonnen in katholischen Internaten ihnen beibrachten, wie man zu Maria betet, und um sie zu zwingen, zu vergessen, was ihre Eltern sie gelehrt hatten: Nämlich wie man in einem Wald in Kanada überlebt. In den Internaten waren sie an sexualisierter Gewalt gestorben, an Hunger und der Tatsache, dass man ihnen, wenn sie krank wurden, die nötigen Medikamente verwehrte. Der Papst hatte sich an diesem Tag in Kanada das alles von den Opfern oder ihren Hinterbliebenen angehört, dann waren die Kameras abgebaut worden, die kanadischen Journalisten und Politiker gegangen und nur wir, aus dem Gefolge des Papstes, waren noch da.
Ich erinnere mich, dass Franziskus plötzlich so erschüttert war, dass er auf einmal nicht mehr konnte. Er scherte sich nicht um das Protokoll. Er blieb einfach sitzen und weinte. Das war einer dieser Momente, in denen auf einmal nicht mehr Papst Franziskus vor uns saß, da war der Einwanderersohn aus Argentinien, der auf dem Thron des Papstes gelandet war und für seine Vorgänger geradestehen musste. Da war der Junge aus dem Stadtteil Flores in Buenos Aires, dessen Familie sich gegen die Armut stemmen musste, der mit einem Ball aus Lumpen Fußball gespielt hatte und der sein ganzes Leben auf eine Kirche gesetzt hatte, deren Verbrechen jetzt ihm angelastet wurden. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet der erste Papst aus Lateinamerika auch die entsetzliche Wahrheit über die katholische Kirche ans Tageslicht bringen will. Er weiß, dass es ein österreichischer Bischof ausgerechnet im Vatikan gewesen war, der Grazer Alois Hudal, der seinem Landsmann Franz Stangl aus Altmünster im Salzkammergut zur Flucht über Syrien nach Südamerika verhalf. Stangl war als Lagerkommandant der Vernichtungslager Sobibor und Treblinka für den Mord an über 400.000 Menschen verantwortlich.
Ich habe fünf Bücher über diesen Papst geschrieben und es war immer schwer, die Geschichte dieses Menschen Jorge Mario Bergoglio zu erzählen. Die Menschen wollten nicht Jorge Mario Bergoglio kennenlernen, sie wollten wissen, warum dieser Papst nicht mehr unternahm, um einen Waffenstillstand in der Ukraine zu erreichen, den Hunger auf der Welt zu bekämpfen oder die Massaker im Nahen Osten zu lindern.
Kondensmilch aus Argentinien
Was in diesem Menschen vorging, bekamen eigentlich nur wir in seinem Gefolge mit. Manchmal, wenn er wirklich abgekämpft und müde war, gelang es Jorge Mario Bergoglio, den Papst Franziskus auszutricksen, dann sprach der Junge aus Argentinien zu uns, über seine seltsame Traurigkeit, die ihn immer wieder befiel, und die kurzen Momente des Glücks, wenn er Dulce de leche, eine aus Zucker und Kondensmilch hergestellte Creme aus Argentinien, heimlich löffelte, von der sein Arzt ihm abgeraten hatte.
Franziskus hatte stets erklärt, dass er nicht selbst über sein Leben schreiben möchte. Jetzt hat er es doch getan. Doch mit der Eröffnung des Heiligen Jahres 2025 scheint dem Papst ein Punkt erreicht zu sein, an dem er das Gefühl hatte, jetzt zurückschauen zu können. Herausgekommen ist das Buch „Hoffe“, erschienen für die deutsche Ausgabe im Kösel Verlag. Es ist ein einzigartiges Dokument in der zweitausendjährigen Geschichte der Päpste. Nie zuvor gestand ein Papst in einer Autobiografie auch seine Schattenseiten, nie zuvor gewährte ein Papst einen so ausführlichen Blick in sein Leben.
Ein Kind von Migranten
Das Buch beginnt mit einer Überraschung, die vermutlich niemand von einem Papstbuch erwarten würde. Es ist ein Auftakt würdig eines Hollywood-Katastrophenfilms. Der Papst lässt in einer Erzählung das Schiff Mafalda untergehen, und zwar mit Pauken und Trompeten. Nachdem die Antriebswelle des Schiffs auf der Überfahrt von Italien nach Argentinien im Jahr 1927 gebrochen war, drang Wasser in den Rumpf des Schiffes ein, das über 1.200 Menschen aus Italien nach Argentinien bringen sollte. Der Papst schildert dramatische Szenen, wie Haie die Verzweifelten fraßen, die ins Wasser fielen. Schließlich schreibt der Papst: „Meine Großeltern und ihr einziges Kind, Mario, der junge Mann, der mein Vater werden sollte, hatten Fahrkarten für dieses Schiff, das am 11. Oktober 1927 von Genua auslaufen sollte Richtung Buenos Aires. Aber sie gingen nicht an Bord. Sie mussten die Schiffspassage umbuchen. Aus diesem Grund bin ich heute hier.“
In schillernden Farben erzählt der Papst, welche Albträume Immigranten in Argentinien erwarten konnten. Doch als die Bergoglios mit einem anderen Schiff das Land schließlich erreichen, bleibt ihnen das Unheil erspart. „Meine Leute hatten Glück. Sie waren nach Buenos Aires gekommen, weil die Brüder meines Großvaters sie hergeholt hatten“, schreibt der Papst. Die Abreise aus dem faschistischen Italien, in dem auch der Druck auf die katholischen Familien, wie die Bergoglios, immer größer wurde, sowie die Erfahrung des Ersten Weltkriegs sorgten in der Familie für eine große Abneigung gegen die Monarchie und die alte Heimat. Der Papst schreibt: „Was meinen Vater angeht, so kann ich mich nicht erinnern, ihn auch nur einmal Italienisch sprechen gehört zu haben.“
Anfangs kamen die Bergoglios dank eines gut gehenden Unternehmens der Familie, das Straßen asphaltierte, voran, doch die Weltwirtschaftskrise stürzte sie wieder in Armut. Die Großeltern des Papstes packten an, sie eröffneten ein Geschäft. „Im Laden der Bergoglios wurden Lebensmittel jeglicher Art verkauft, von Mehl über Bohnen bis hin zu Öl und Wein.“ In dieser Zeit lernte der Vater von Papst Franziskus den Pater Enrique Pozzoli kennen, der für die Familie wichtig werden sollte.
Konklave und Wahlsieg
Besonders spannend ist aber der Schluss des Buches, als er seine Wahl beschreibt, was hart an der Grenze des kirchlichen absoluten Schweigegebotes über Einzelheiten aus dem Konklave sein dürfte.
Er schreibt: „Ich stand überhaupt nicht zur Debatte. Mein Rückflug sollte am 23. März stattfinden.“ Doch dann sammelt er Stimmen im Konklave. Er beschreibt: „Damit wird ein bekannter und etablierter Mechanismus in Gang gesetzt: Wenn es einige starke Kandidaten gibt, geben die noch Unentschiedenen, zu denen ich gehörte, ihre Stimme erst mal den Kandidaten, die garantiert nicht gewählt werden. Das sind sozusagen die geparkten Stimmen jener Kardinäle, die erst einmal abwarten.
Ich wusste zwar, dass ich einige dieser geparkten Stimmen für mich hatte, aber ich wusste, dass diese sozusagen auf Abruf standen. Also blieb ich vollkommen gelassen. Ich dachte immer noch, es würde alles wie am Schnürchen laufen, so dass ich pünktlich nach Buenos Aires zurückfliegen konnte.“
Doch dann wollen während der Pausen des Konklaves bei Tisch immer mehr Kardinäle mit ihm sprechen. „Irgendwann hatte ich das Gefühl, mitten in einer Prüfung zu stecken, und vielleicht stimmte mein Eindruck sogar. Sie nahmen mich unter die Lupe, nur ich merkte es nicht. Als wir allmählich an ein Ende kamen und uns vom Tisch erhoben, kam ein spanischsprachiger Kardinal auf mich zu: „Euer Eminenz, Euer Eminenz.“ Und dann fragte er: „Fehlt Ihnen nicht ein Lungenflügel?“ Und ich antwortete: „Nein, man hat mir nur einen Teil des oberen Lungenflügels entfernt, weil ich dort drei Zysten hatte.“ „Und wann war das?“ Das sei sehr lange her, antwortete ich, nämlich 1957. Da wurde der Mann knallrot im Gesicht und stieß zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: „Immer diese Manöver in letzter Minute.“
Dann schildert der Papst den Augenblick der Wahl, Kardinal Hummes sagt zu ihm: „Vergiss die Armen nicht.“ Der Papst schreibt: „Dieser Satz traf mich ins Mark. In diesem Moment kam mir der Name Franziskus in den Sinn. Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass der Ausgang dieses Konklaves mich persönlich betreffen würde. Und natürlich hatte ich auch keinen Papstnamen parat. In den Tagen des Konklaves erschien auf dem Platz vor dem Petersdom ein Obdachloser mit einem Schild um den Hals, ‚Papst Franziskus I.‘ stand darauf.“
Das Ende des Buches dürfte so ziemlich das Berührendste sein, das je ein Papst über sich selbst geschrieben hat, sein Gebet an Gott, was seinen Tod angeht. Er schreibt:
„Es geschehe, was immer du willst. Aber du weißt ja, dass ich einigermaßen zimperlich bin, was körperliche Schmerzen angeht. Also bitte, mach, dass es nicht allzu weh tut.“
Der Konflikt mit Ratzinger
Mit diesem Pater ist auch eine Stelle in dem Buch verbunden, an der sich ein äußerst interessantes Detail im über ein Jahrzehnt währenden Konflikt zwischen Papst Franziskus und seinem Vorgänger Papst Benedikt XVI. lesen lässt. Mit aller Macht versuchte der Vatikan diesen Konflikt zu leugnen.
In seinem Buch schreibt jetzt der Papst über diesen praktischen Missionar Pater Enrique, der ans Ende der Welt nach Feuerland zu den indigenen Einwohnern geschickt wurde, und hält dessen Lebensleistung der Joseph Ratzingers entgegen: „In Feuerland war so viel zu tun, dass Padre Enrique, der sein ganzes Leben dem Dienst am Nächsten widmete, mit Herz und Hand anpackte und sogar den Glockenturm baute und eine Turmuhr anbrachte. Er war tatsächlich ein Arbeiter im Weinberg des Herrn.“
Joseph Ratzinger hatte sich stets als einen einfachen Arbeiter im Weinberg des Herren bezeichnet und damit in der Gruppe um Jorge Mario Bergoglio viel Kritik geerntet, weil ihnen der Vergleich, dass Ratzinger, der Chef der elitären Glaubenskongregation, sich als einfachen Arbeiter im Weinberg bezeichnete, wie Hohn vorkam. In seinem Buch betont der Papst jetzt, wie er sich einen „tatsächlichen Arbeiter im Weinberg des Herrn“ vorstellt.
Mit dem Tod dieses Paters Enrique ist auch ein anderer interessanter Absatz des Buches verbunden. Als der Pater im Sterben liegt, will Jorge Mario Bergoglio ihn besuchen. Als er in sein Zimmer kommt, schläft der Pater und der junge Bergoglio verlässt das Krankenzimmer. Kurz darauf stoppt ihn eine Krankenschwester auf dem Flur und sagt ihm, dass der Pater wieder aufgewacht sei und ihn noch einmal sehen wolle, aber Jorge Mario Bergoglio lässt dem Pater die Lüge ausrichten, er habe das Krankenhaus schon verlassen. Er will die letzte Begegnung mit dem sterbenden Pater vermeiden. Er schreibt: „Ich habe wieder und wieder einen tiefen Kummer ob meiner Lüge verspürt.“ Es ist selten, dass ein Papst öffentlich eine Sünde beichtet. Eine weitere „Sünde“ schildert der Papst kurz darauf. Er beschreibt eine Dame, deren Mann verstorben war und die dann ein sexuelles Verhältnis mit einem Polizisten einging. Der Papst beschreibt, was er anstellte, wenn der Polizist die Dame besuchte: „Wir Kinder, ich war damals vielleicht zehn Jahre alt, schlichen uns dann ans Schlafzimmerfenster und fingen an herumzuschreien, ihren Namen zu rufen, ihr gehörig auf die Nerven zu gehen. Heute ist mir das peinlich. Wir waren wirklich frech wie Oskar.“ Ein Spiel prägt vor allem seine Jugend. Er schreibt: „Für viele ist Fußball das schönste Spiel der Welt und für mich war es das wirklich.“
Gescheiterte Jugendliebe
In einem kurzen Absatz versteckt der Papst dann das Drama, dass sein Körper immer mehr zu seinem Gefängnis wird. Er schreibt:
„Ich gehe einfach gern zu Fuß. Die Straße verrät mir vieles, ich lerne dort dazu.“
Später heißt es: „Anfangs machte es mich verlegen, auf den Rollstuhl angewiesen zu sein.“
Zu den ungewöhnlichsten Geständnissen der Geschichte der Päpste dürfte gehören, dass Franziskus erzählt, dass er im Streit seiner Lehrerin Lina erklärte, sie möge sich „verpissen“, wofür er sich entschuldigen musste. Dass er sich als junger Mann verliebte, hatte der Papst schon mehrfach erzählt, aber diesmal ergänzt er Einzelheiten. An Amalia Damonte schrieb er, dass er sie heiraten wolle, „dich oder keine“. Das ging allerdings schief. Er schreibt: „Wenn die Mutter des Mädchens mich irgendwo in der Nähe herumschleichen sah, schwang sie den Besen und verjagte mich eilends.“
Auch die Tiefpunkte seiner Laufbahn als Priester spart der Papst nicht aus. Als Novize bei den Jesuiten kam er mit dem Verantwortlichen, Pater Candido Gavina, nicht zurecht, der ihm riet: „Warum denken Sie nicht darüber nach, einfach nach Hause zurückzukehren und eine schöne Familie zu gründen.“ Doch Bergoglio blieb und gewöhnte sich an die einfachen Aufgaben: „Wir haben miteinander mehrere Tonnen Kartoffeln geschält.“ Das Buch spart keineswegs auch brisante Punkte aus. Der Papst bekräftigt: „Wenn es innerhalb der Kirche nur einen einzigen Missbrauchsfall gibt, dann ist das per se schon eine Ungeheuerlichkeit.“