Nach ihrem Oscar für den Besten Filmsong vor fünf Jahren macht Amerikas große Popkünstlerin Lady Gaga auf dem Weg zu ihrem ersten Oscar als Schauspielerin in „Joker: Folie à Deux“ alles richtig. In einem genialen Marketingschachzug trägt sie ihre Rolle der psychopathischen Joker-Freundin Harley Quinn ins reale Leben
Es ist ein komplexes Zusammenspiel vieler Faktoren, das für einen Triumph bei der Oscar-Verleihung auf Philharmoniker-niveau gelingen muss. Wer die Statue auf den Kaminsims stellen will, muss neben einer herausragenden schauspielerischen Leistung schon bei der Auswahl der Rolle auf Qualität und Tiefe der dargestellten Figur achten. Dazu wiegt die Relevanz der im Film gezeigten Thematik im gesellschaftspolitischen Kontext schwer, und auf Diversität legt die Academy zunehmend viel Wert, das heißt, Darstellerinnen aus unterrepräsentierten Gruppen werden stark beachtet. Wesentlich ist auch positive Resonanz bei Kritikern, Kritikerinnen und Publikum.
Stimmt dann noch das Timing der Begleit-Kampagne des Filmstudios und die Präsenz des Films bei großen Filmfestivals und Preisverleihungen, kann frau beginnen, vom Oscar zu träumen. Im Team der Comicverfilmung „Joker: Folie à Deux“ aus dem DC-Universum träumt Casting-Direktorin Francine Maisler bereits wenig subtil von Großem, wenn sie von Hauptdarstellerin Stefani Joanne Angelina Germanotta, besser bekannt als US-Popstar Lady Gaga, spricht.
„Wir alle kennen ihre Leistung aus ‚A Star Is Born‘, aber jetzt hat sie das Steuer noch fester im Griff“, macht Maisler Lust auf Lady Gaga in der Rolle von Joker-Gefährtin Harley Quinn
Wie ein Charles-Manson-Fan
In der dritten Hauptrolle – nach „A Star Is Born“ und „House of Gucci“ –spielt Lady Gaga an der Seite von „Joker“ Joaquin Phoenix die Musiktherapeutin Dr. Lee Quinzel, später Harley Quinn, die fasziniert von dessen bizarrem Charme eine romantische Obsession für den inhaftierten, psychisch labilen Arthur Fleck entwickelt, der als Joker zum mehrfachen Mörder geworden war.
Die Grammy- und Oscar-gekrönte Sängerin („Shallow“) spielt Harley Quinn auf persönlichem Wunsch von Regisseur Todd Phillips. Gemeinsam mit Phillips entwickelte die 38-Jährige ihre Interpretation von Harley Quinn auf Basis von Geschichten der weiblichen Fans von Sektenführer und Mörder Charles Manson. „Mörder haben manchmal Leute, die zu ihnen aufschauen. So wurde sie in ihrer Rolle wie die Manson--Fans, die den Mörder vergötterten“, beschreibt Phillips.
Seine Wunsch-Darstellerin nahm die Herausforderung mit Leidenschaft an. „Ich tauche gerne tief in die Figur ein um sie zu verstehen. Bei meiner Beschäftigung mit Lee habe ich viel über mich selbst gelernt“, erzählt Lady Gaga dem US-Sender ABC. „Die größte Ähnlichkeit mit ihr habe ich in diesem Sturm erkannt, der sie antreibt. Sie ist eine Art tickende Zeitbombe, die jeden Moment explodieren kann. Das passiert mir auch ab und zu.“
Regisseur Phillips lässt seine Charaktere, die hauptsächlich im Gefängnis und im Gerichtssaal agieren, über Lieder kommunzieren. Ihre Dialoge fließen – bis auf eine Neukomposition – in Radioklassiker wie Stevie Wonders „For Once In My Life“ oder „To Love Somebody“ von den Bee Gees. Es wird gesungen und getanzt.
Der Film: „Joker: Folie à Deux“
In „Joker: Folie à Deux“, angelegt als Musical, trifft der Joker (Joaquin Phoenix) die Musiktherapeutin Harley Quinn (Lady Gaga). Das Duo startet ein toxisches Romantik-Abenteuer, das zum Scheitern verurteilt ist. (Neu im Kino)
Schauspiel mit der Stimme
Um ihre Filmrolle von ihrer Popstar-Persona abzuheben, trainierte Lady Gaga monatelang ihre Stimme, um anders als gewohnt zu klingen, laienhafter, anders in der Klangfarbe. „Sie liefert in diesem Film etwas, das nur sie tun kann. Joaquin ist umwerfend und dass sie auf dieser Augenhöhe mithalten kann, statt von seiner Rolle und Leistung vom Bildschirm gefegt wurde, zeigt, wie viel sie drauf hat“, schwärmt Casting-Direktorin Francine Maisler.
Joaquin Phoenix wurde für seine Darstellung des Jokers 2020 mit dem Oscar für den Besten Hauptdarsteller ausgezeichnet. Betreffend die Faktoren der schauspielerischen Leistung und Tiefe der Figur kann Lady Gaga Schritt halten.
Als Thema vertieft Regisseur Phillips eine besondere Form der psychischen Erkrankung. Der Begriff „Folie à deux“ bringt die Beziehung zwischen Joker und Harely Quinn auf den Punkt und wurde 1877 vom französischen Neurologen Ernest-Charles Lasègue geprägt. Er beschreibt eine induzierte wahnhafte Störung, bei der eine -Wahnsymptomatik ganz oder teilweise durch einen nahestehenden, primär nicht wahnkranken Partner übernommen wird. Als Filmthema wurde diese psychische Erkrankung bereits in preisgekrönten Filmen wie „Hannibal“ oder David Cronenbergs „Die Unzertrennlichen“ erfolgreich bearbeitet.
Das Publikum des Filmfestivals in Venedig spendete elf Minuten lang Applaus und auch die Positionierung der Kampagne lief mehr als zufriedenstellend. Der Trailer zum Film fuhr mit 167 Millionen Aufrufen in den ersten 24 Stunden einen neuen Rekord ein (und schlug die vormaligen Spitzenreiter--Vorschau „Barbie“).
Das Bonus-Album
Es wäre nicht Lady Gaga, würde sie ihre neue Rolle nach Drehschluss ablegen, um in einen beschaulichen Alltag zurückzukehren. Ähnlich wie sie nach „A Star Is Born“ noch Monate später mit Hauptdarsteller Bradley Cooper singend und flirtend hochkarätige Bühnen verzauberte, dreht sie auch nun das Harley-Quinn-Rädchen weiter.
„Ich habe so eine tiefe Beziehung zu Quinn entwickelt, dass ich nach den Dreharbeiten noch nicht mit ihr fertig war“, sagte sie im Rolling Stone-Interview. Im Loslösungprozess schuf sie – zur Freude aller Marketingstrategen – mit „Harlequin“ ein Album zum Film. Darauf vertont sie neben zwei neuen Songs elf amerikanische Klassiker wie Good Morning von Judy Garland und Mickey Rooney aus 1939 oder den Charlie-Chaplin-Klassiker „Smile“ in einer Interpretation, die an Harley Quinn und ihre missbräuchliche, toxische Beziehung mit dem Joker gemahnt.
„Als Frau entscheide ich mich dafür, zu sein, was und wer immer ich in einem bestimmten Moment sein möchte, egal wie ich mich fühle. Und egal, was ihr von mir wollt, ich werde ich selbst sein“, erklärt Lady Gaga die Botschaft des „Harlequin“-Albums.
Ob die LGBTQ-Aktivistin damit trotz manch mauer US-Kritiken genug Punkte für einen Oscar-Erfolg gesammelt hat, entscheidet sich am 3. März 2025. Nach dem Oscar für den Besten Filmsong und einem Golden Globe für die Beste Hauptdarstellerin in einer Mini-Serie („American Horror Story“) wäre es Lady Gagas erster als Schauspielerin. Das Thema scheint die Academy grundsätzlich zu lieben: Vor Joaquin Phoenix 2020 gewann auch Heath Ledger für seine Darstellung des Jokers („Bester Nebendarsteller“ in „The Dark Knight“) 2009 einen Oscar.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 40/2024 erschienen.