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Die Klitschkos: Ihr brutalster Kampf

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Wladimir Klitschko und Vitali Klitschko

©IMAGO/ZUMA Wire
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Als Boxer dominierten Vitali und Wladimir Klitschko jahrelang ihren Sport. Jetzt verteidigen der Bürgermeister von Kiew und sein Bruder mit ebensolcher Verve die ukrainische Hauptstadt gegen die barbarischen Invasoren aus Russland.

Zum ersten Mal ist die Welt für Vitali Klitschko zusammengebrochen, als er gerade 19 Jahre alt war. Der Eiserne Vorhang trennte damals während des Kalten Kriegs die westliche Hemisphäre strikt von der Sowjetunion, in der er im Glauben aufgewachsen war, dass auf der anderen, unerreichbaren Seite das schiere Böse lauern würde.

"Ich musste jeden Tag in der Schule etwas Schlechtes über Amerika schreiben", erinnerte er sich in der preisgekrönten Doku "Klitschko" aus dem Jahr 2011 an seine Kindheit in der UdSSR. Wie groß muss da erst im Sommer 1990 der Kulturschock gewesen sein, als sein Kickbox-Team nach der Westöffnung und Jahren, in denen dieser Kampfsport strikt verboten war, endlich nach Florida zu einem internationalen Turnier reisen durfte. Und dort nicht nur auf den American Way of Gastronomic Life in Form von Coke und Burgern, sondern auch auf "ein tolles Land" mit "sehr freundlichen Leuten" stieß.

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2011 hielten die Klitschkos alle WM-Titel der Boxverbände WBO, IBF, IBO, WBA und WBC

 © imago/Marianne Müller

Was dann folgte, könnte durchaus den "Petersburger Erzählungen" eines Nikolai Gogol entstammen: Vitali, 50, und sein viereinhalb Jahre jüngerer Bruder Wladimir bauen sich im Westen als Weltstars des Boxsports ein märchenhaft anmutendes Leben auf und konterkarieren das Bildnis tumber Faustkämpfer. Sie unterstützen als Sportbotschafter die UNESCO, als promovierte Sportwissenschaftler und eloquente Unterhalter in Fernsehshow steigen sie rasch zu Lieblingen der Society auf, sowohl in Hamburg, dem Mittelpunkt ihrer neuen Wahlheimat Deutschland, als auch in den USA.

Seite an Seite mit dem Bruder

Seit dem 24. Februar versetzt ein Krieg ihre Weltordnung erneut in Unordnung. Die Brüder stehen Seite an Seite mitten in ihrem schwersten Kampf abseits jedes Ringgevierts: In Kiew verteidigen sie ihre ukrainische Heimat gegen die unvorstellbar brutalen Angriffe der von einem barbarischen Feldherrn befehligten russischen Invasoren. Das Auf-die-Barrikaden-Steigen gilt in ihrer Heimat als größter Verdienst neben dem Umstand, dass die Welt erst durch ihre sportlichen Erfolge von der Existenz der Ukraine erfahren hat.

Würde ich aus Kiew weichen, wäre das Verrat, und ich könnte nie wieder in einen Spiegel schauen

Vitali, seit 2014 Bürgermeister der Hauptstadt und seit Beginn des russischen Angriffskriegs eines der Gesichter des Widerstands, formulierte das Keinen-Zentimeter-Zurückweichen im sozialen Netzwerk Telegram drastisch: "Wenn ich sterben muss, dann sterbe ich. Es ist eine Ehre, für sein Land zu sterben. Würde ich weichen, wäre das Verrat, und ich könnte nie wieder in einen Spiegel schauen." Wohl wissend, dass er und sein jüngerer Bruder nebst Präsident Wolodymyr Selenskyj ganz oben auf der russischen Todesliste stehen.

Unter dem Wahnwitz der russischen Angriffe meldete sich Wladimir freiwillig für die Reservearmee seines Landes und weicht seitdem seinem Bruder nicht mehr von der Seite. Bilder in sozialen Medien, Print und Fernsehen zeigen ihn in militärischer Uniform und in schusssicheren Westen. "Ich habe mir niemals vorgestellt, nach dem Militär wieder eine Waffe in die Hand zu nehmen", sagt sein Bruder Vitali. "Aber jetzt haben wir keine andere Wahl." Schon in der Schule hatten sie gelernt, wie man eine Kalaschnikow auseinander- und wieder zusammenbaut.

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Vitali Klitschko

 © IMAGO/NurPhoto

Während Vitali früher der Chef war und auf den Jüngeren aufgepasst hat, haben sich die Rollen jetzt verkehrt. Und zwar noch stärker als zu Zeiten beider Boxkarriere. Da sollte sich Vitali zeitweise mit seinen gutgemeinten Tipps zurückhalten, weil sie Wladimir schon zu viel geworden waren. "Jetzt scheint es genau umgekehrt zu sein. Weil der Bürgermeister viel mehr Druck hat", sagt Tatjana Kiel. Seit 16 Jahren macht die gebürtige Berlinerin denselben Job: Sie hält von Hamburg aus den Brüdern so gut wie möglich den Rücken frei. Früher in Agenden des Boxsports, heute in der Abwehrschlacht gegen die russischen Angreifer. Bis vor Kurzem beriet sie in der Firma Klitschko Ventures, die sie inzwischen leitet, Unternehmen, die mit dem Ex-Boxer Wladimir Erfahrungen auf dem Gebiet des Boxsports austauschen wollen. Inzwischen wurde die Firma zu einer gewaltigen Hilfsorganisation, die alles organisiert, was im kriegsgebeutelten Kiew kaum oder überhaupt nicht mehr erhältlich ist. "Die Menschen brauchen da fast alles, Hauptsache, es hält lange und kann schnell verteilt werden, beispielsweise Desinfektionsmittel, Nüsse, Fleischkonserven, dunkle Schokolade und vor allem Wasser", schildert Kiel, die immer wieder von Wladimir mit neuen Aufträgen telefonisch kontaktiert wird. Bereits in den ersten zehn Tagen nach Kriegsbeginn wurden 2.000 Tonnen Hilfsgüter nach Kiew gebracht.

Dennoch: Auch wenn den Klitschkos viel Respekt für ihre aktive Position, ihren Einsatz und ihren Mut entgegengebracht wird, werden sie zu Hause oft kritisiert. Wobei vor allem der Bürgermeister mehr Schelte abbekommt, beispielsweise dafür, zu oft in beschossenen Orten medial aufgetreten zu sein und somit der russischen Armee Hinweise gegeben zu haben, ihre Raketenziele zu korrigieren. Interessant in dem Zusammenhang ist, dass Vitali gar nicht der Hauptverantwortlichen für die ukrainische Hauptstadt ist, denn in Kriegszeiten ist das nicht der Bürgermeister, sondern der Chef der Kiewer Militärverwaltung. Eine Zuständigkeitsverschiebung, die den Bürgern freilich völlig egal ist. Sie richten sich mental am Optimismus aus, den der Stadtchef in diesen düsteren Zeiten verbreitet.

Bürgermeister im dritten Anlauf

Zweimal kandidierte Vitali Klitschko vergeblich für das Bürgermeisteramt, anfangs sogar als noch amtierender Box-Weltmeister. Dass er besser Russisch sprach als Ukrainisch, wurde ihm angelastet, und seine Gegner streuten Gerüchte, er sei in Waffengeschäfte verstrickt. Im Jahr 2014 schaffte er den Sprung ins Amt, das er ursprünglich gar nicht angestrebt hatte. Noch während der Euromaidan-Proteste, bei denen er sich gegen den erst gewählten, dann doch gestürzten Wiktor Janukowytsch positionierte, dessen Regierung die Ratifizierung eines Assoziierungsabkommens mit der EU verweigerte, rechnete er sich selbst gute Chancen auf das höchste Amt im Staat aus.

Dass er damals auch aus taktischen Gründen die rechts und antisemitisch verortete Swoboda-Partei einspannte, wurde ebenso schief angesehen wie ein als dubios eingestufter Deal mit dem späteren Staatsoberhaupt Petro Poroschenko. Bei einem Treffen in Wien, an dem auch der umstrittene ukrainische Oligarch Dmytro Firtasch teilnahm, der seinerzeit mittels der höchsten jemals in Österreich gezahlten Kaution von 125 Millionen Euro auf freien Fuß gesetzt wurde, kam es zu einer speziellen Absprache: Klitschko unterstützt Poroschenko bei der Präsidentschaftswahl und dieser den Exboxer bei der Kür zum Kiewer Bürgermeister. Beide gewannen die jeweilige Wahl im ersten Durchgang.

Klitschkos politisches Kapital damals war, dass er absolut unverdächtig war, auf sogenannte alte Seilschaften angewiesen zu sein, und sein gewaltiges Vermögen im Sport gemacht hat, vornehmlich im Ausland.

Der Boxring gehört den Brüdern

Im Gegensatz zu vielen anderen Boxern, für die der Sport eine Möglichkeit des sozialen Aufstiegs darstellt, kommen der 1971 im heutigen Kirgistan geborene Vitali und der 1976 im heutigen Kasachstan zur Welt gekommene Wladimir aus geordneten Verhältnissen. Die beiden sind Söhne einer Lehrerin und eines aus der Region Kiew stammenden Luftfahrtoffiziers, der unter anderem auch bei der Sicherungsmission nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl 1986 im Einsatz war. Sein Tod 2011 an Lymphdrüsenkrebs gilt als Spätfolge seines Kontakts mit der Strahlung damals.

Die Eltern bevorzugen Tischtennis, doch Vitali geht mit 14 Jahren erstmals zum Boxtraining in den Armeesportclub seiner Heimatstadt Kiew, wo sein Talent schnell erkannt und er entsprechend gefördert wird. 1996 gilt er für das Boxturnier bei den Olympischen Spielen in Atlanta als gesetzt, doch im Vorfeld der Spiele werden in seinem Blut Spuren von Steroiden nachgewiesen. Trotz Beteuerung, dass ihm ein falsches Medikament verabreicht worden sei, wird er gesperrt. Als Ersatz wird Bruder Wladimir nominiert, der das Vertrauen in ihn recht fertigt und die Goldmedaille im Superschwergewicht holt. Somit steht er als Olympiasieger in einer Reihe mit Legenden wie Joe Frazier oder George Foreman.

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Vitali, oben, und Wladimir, unten, beide in schusssicheren Westen vor von russischen Marschkörpern zerstörten Gebäudekomplexen. Beiden steht die Anspannung durch den barbarischen Krieg ins Gesicht geschrieben

 © IMAGO/CTK Photo
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Wladimir Klitschko spricht in Kiew mit Medienvertretern

 © IMAGO/NurPhoto

Beide wechseln ins Profilager und schließen sich in Hamburg dem deutschen Boxpromotor Klaus-Peter Kohl an. Am 16. November 1996 bestreiten beide in der Hansestadt ihren ersten Profikampf -und siegen jeweils durch K. o.: Vitali in der zweiten, Wladimir sogar in der ersten Runde. Jahrelang dominieren die hünenhaften Brüder - Vitali misst 2,01 Meter, Wladimir 1,98 Meter -das Schwergewichtsboxen. Vitali hatte im Vergleich zu seinem jüngeren Bruder nicht die elegante Beweglichkeit und Geschmeidigkeit im Ring wie Boxkommentatoren konstatierten. Dafür war er seinem Bruder in der Schlagkraft überlegen, von seinen 47 Profikämpfen gewann er 45 mit einer unglaublichen K.o.-Quote, was ihm den Titel "Dr. Eisenfaust" einbrachte. Mit nur fünf Niederlagen in 69 Kämpfen zählt Wladimir zu den erfolgreichsten Schwergewichtsboxern der Welt. Und er ist der am längsten amtierende Champion in der Geschichte des Faustkampfs. Noch etwas war ein absolutes Novum im Boxsport: 2011 waren alle bedeutenden WM-Titel, also jene der Verbände WBO, IBF, IBO, WBA und WBC, in der Hand der Familie Klitschko.

So unterschiedlich die Boxtechnik der Brüder, so unterschiedlich ist auch ihr Privatleben. Der dreifache Familienvater Vitali ist seit 26 Jahren mit der Ukrainerin Natalia Egorova verheiratet, einer Sängerin, die auch als Model und Kunstschwimmerin reüssiert hat. Bei Wladimir ging es beziehungstechnisch rund zu. Nach der Scheidung von seiner ersten Frau, Alexandra, ging er eine stark wahrgenommene On-Off-Beziehung mit der 1,53 Meter kleinen US-Schauspielerin Hayden Panettiere ein. Der 2018 beendeten Beziehung entstammt eine siebenjährige Tochter. Kaya, die normalerweise bei ihrem Vater lebt, befindet sich aber derzeit nicht in Kiew, wie Hayden Panettiere auf Instagram bestätigte.

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Natalia Klitschko, Ehefrau von Vitali Klitschko, dem Bürgermeister von Kiew, bei einem Friedensevent in Berlin. Sie trägt einen Hoodie des Designers Marcell von Berlin

 © IMAGO/Eibner

Trainingscamp am Wilden Kaiser

Vorbereitet haben sich die Klitschkos auf ihre WM-Fights nicht in Hamburg und auch nicht in Florida, sondern in Going am Wilden Kaiser im Bio-Hotel Stanglwirt. Der Ex-Boss-Boss und gebürtige Kufsteiner Werner Baldessarini hat die beiden vor vielen Jahren im Tiroler Luxushotel eingeführt. "Er hatte das Gefühl, dass unser Haus das ideale Trainingscamp für die beiden Brüder wäre", erinnert sich Stanglwirt Balthasar Hauser im News-Gespräch.

Trotz ihrer Größe und Kraft zeigt sich, dass sie sanfte und liebenswürdige Wesen sind

Und der Modedesigner sollte auch hier das richtige Gespür gehabt haben: Eine der mit Gras begrünten Tennishallen im Bio-Hotel wurde mehr als zehn Jahre lang zum professionellen Trainingscenter inklusive Hochring. "Gewohnt haben Vitali und Wladimir während der Trainingszeit in einer von uns umgebauten Forsthütte am Fuße des Wilden Kaisers. Die frische Bergluft war natürlich optimal für das Training, und durch die Abgeschiedenheit war absolute Ruhe garantiert", erzählt Hauser. Natürlich hat sich durch die vielen Besuche der Boxer eine Freundschaft mit der Hauser-Familie entwickelt, die, man möchte es fast nicht glauben, in gemeinsamen Gesangsabenden kulminierten: "Vitalis Frau Natalia hat gesungen, und er hat sie auf der Gitarre begleitet." Überhaupt zeigte sich schnell, "dass die Brüder trotz ihrer Größe und Kraft eigentlich sanfte und liebenswürdige Wesen sind. Sie waren generell bei allen unseren Gästen und Mitarbeitern enorm beliebt. Vor allem aber bei den Kindern."

Anruf aus der Kriegshölle

Es blieb nicht nur bei der Bewunderung für den Einsatz der beiden um Frieden, die Stanglwirt-Familie spendete bei "Nachbar in Not" 30.000 Euro für die Ukraine-Hilfe und hat überdies eine Drei-Generationen-Familie aus der Ukraine aufgenommen. "Vitali und Wladimir haben das irgendwie erfahren und sich telefonisch bei uns für die Unterstützung bedankt", freut sich Hauser.

Noch viel mehr freut sich Vitalis Frau Natalia, wenn ihr Handy klingelt und positive Nachricht aus der Bombenhölle kommt, die bis dato gottlob lautete: "Kiew steht noch - wir sind am Leben."

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