Lob und Kritik für die 1925 gegründete Kinderübernahmestelle in Wien.
Julius Tandler, geboren 1869 in Jihlava, Tschechien, Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie, die völlig verarmt 1910 nach Wien zog, gilt als Architekt der Sozial- und Gesundheitspolitik Wiens. Ohne finanzielle Unterstützung studierte er Medizin, konvertierte noch vor seiner Habilitation zum katholischen Glauben und übernahm 1910 den Lehrstuhl für Anatomie. Sigmund Freud wurde diese akademische Karriere verwehrt. Er ließ sich allerdings nie taufen.
Tandler kandidierte nach dem Krieg für die Sozialdemokraten und war als Stadtrat von 1920 bis 1932 verantwortlich für das Gesundheitswesen der Stadt Wien. Unter seiner Führung entstanden bahnbrechende Einrichtungen für medizinische Versorgung, Alters- und Jugendfürsorge. Er begann mit der Verteilung von Säuglingspaketen, ließ Kindergärten und Horte bauen, Volksbäder (Amalienbad), Kinderfreibäder, Spiel- und Sportplätze (Praterstadion). Tandler gilt als einer der Ärzte, die den Weltruf der Wiener Medizinischen Schule mitbegründeten, sah die Aufgabe der Medizin sowohl im Behandeln wie auch im Verhindern von Krankheiten und der Verbesserung der Lebensbedingungen.
Waisenkinder
Einzigartig in Europa war die Eröffnung der ersten Kinderübernahmestelle – vor 100 Jahren in der Lustkandlgasse. Eine zentrale Aufnahme für verwahrloste und kranke Kinder verarmter Eltern oder Waisenkinder. „Da kommt eine Mutter mit ihrem Neugeborenen, weil sie obdachlos ist, eine andere, weil der Vater ein Säufer ist, eine dritte, weil der Mann arbeitslos ist, die ganze bedrängte kleine Menschheit, ein furchtbares Bild des Kinderelends“, sagte Julius Tandler bei der Eröffnung.
Doch es meldeten sich auch Kritiker. Auf Antrag einer „Sprengelfürsorgerin“ konnten Kinder den Eltern oder betreuenden Personen entzogen werden. Das Aufnahmeritual war für Kinder angsterregend und einschüchternd. Drei Wochen lang beobachteten Ärzte und Psychologen das Kind in einem verglasten Raum, Besuche und Kontakt zu anderen Kindern waren verboten. Dann entschieden die Verantwortlichen, ob das Kind in einem Heim untergebracht, zur Adoption freigegeben oder der Familie zurückgegeben wird.
NS-Bewegung
Mit der NS-Bewegung endete Tandlers Einfluss und Karriere. Ab 1927 stürmten antisemitische Truppen regelmäßig das Anatomische Institut. Die Einrichtung wurde zerstört, Studenten, Assistenten und Tandler selbst wurden persönlich attackiert. Für die Nationalsozialisten war Tandler Jude, egal ob getauft oder nicht. Er folgte einem Ruf nach China, erhielt Lehraufträge an Universitäten in Shanghai und Peking.
Als er von den Februarkämpfen 1934 erfuhr, kehrte er nach Wien zurück, wurde verhaftet, nach der Freilassung zwangspensioniert und durfte die Universität nicht mehr betreten. Zutiefst verletzt verließ er Österreich. Auf dem Weg zurück nach China erreichte ihn eine Einladung aus der Sowjetunion, in Moskau als Berater zur Reformierung von Krankenhäusern und des Medizinstudiums zu arbeiten. Er starb, einsam und verzweifelt, am 26. August 1936 in Moskau, noch bevor er mit diesem Projekt beginnen konnte.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr.11/2025 erschienen.
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