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Joshua Oppenheimer: „Ich bin ein Hoffender“

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13 min

Joshua Oppenheimer

©The Washington Post via Getty Images
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Eine Familie überlebt im Bunker das Ende der Welt. Wie begegnet sie der Schuld, die sie damit auf sich lädt? In seinem ersten Spielfilm „The End“ drängt Joshua Oppenheimer auf das Ende des großen, gesellschaftlichen Selbstbetrugs. Es ist Zeit für echten Widerstand, sagt er mit Blick auf die tiefgreifenden globalen Veränderungen.

Die Idee wurde in Tschechien geboren. Ein russischer Öl-Tycoon führte den amerikanischen Regisseur Joshua Oppenheimer durch einen ehemaligen sowjetischen Bunker. Der Milliardär hatte begonnen, den Bunker zum Zufluchtsort für den Tag X umzubauen. Am Tag, an dem das Leben auf der Erde unmöglich wird, wird er dort mit auserwählten Familienmitgliedern eine neue Heimat finden.

„Während ich mit der russischen Familie durch diesen Bunker ging, ließen mich diese Fragen nicht los: Wie geht man mit der Schuld um, geliebte Menschen nicht mitgenommen zu haben, wenn man hier einzieht? Wie begegnet man der Schuld, für die Katastrophe vor der Tür mitverantwortlich zu sein? Wie erzieht man an einem solchen Ort Kinder, auf die man ein idealisiertes Bild von sich selbst projizieren kann?“, so beschreibt Regisseur Oppenheimer die Geburtsstunde seines ersten Spielfilms.

Wirkliche Antworten, so befand der 50-Jährige, würde nur eine Darstellung der Familie 25 Jahre nach ihrem Einzug geben. Er liefert sie in Starbesetzung in seinem postapokalyptischen ersten Spielfilm „The End“. Der zweifach für einen Oscar nominierte Dokumentarfilm, ist bekannt dafür, die jeweils prägenden Fragen des Jahrzehnts schonungslos und vielschichtig zu erforschen. – Mit nachhaltiger Wirkung. In den Dokus „The Act of Killing“ und „The Look of Silence“ begleitete er die Täter des Genozids in Indonesien 1965–66, die farbenfrohe Inszenierungen ihrer Verbrechen nachstellten. Nachdem er im Jahr 2014 US-Kongressmitglieder aufforderte, die Rolle der USA in den Massakern anzuerkennen, deklassifizierte die US-Regierung 2017 unter Verweis auf seine Filme Tausende von Dokumenten zu den Morden.

Jetzt wird das Land, in das mein Vater vor einer rassistischen Diktatur floh, zur Diktatur, die Rassismus nutzt, um Menschen zu isolieren

Ansingen gegen die düstere Realität

Diesmal vertieft er die Frage, welche Geschichten wir uns erzählen, um uns und die Welt vor uns selbst zu verbergen, in einem Musical. In einem Luxusbunker, 25 Jahre nachdem die Welt unbewohnbar geworden war, arrangiert Oscar-Preisträgerin Tilda Swinton als Mutter monatlich die Gemälde großer Meister an den Wänden neu und lobt abends das Dinner auf dem teuren Porzellan. Michael Shannon diktiert als Vater – ein milliardenschwerer Industrieller, der den Planeten vergiftet hat – dem im Bunker geborenen Sohn (George MacKay) eine hagiografische Biografie. Viele Kilometer unter Felsgestein leben sie mit ihren Dienern und halten singend die Dunkelheit auf Abstand: „Gemeinsam ist unsere Zukunft strahlend“, lullt sich Swintons Figur mit verletzlicher Stimme ein.

„Die Figuren in diesem Bunker haben keine Ausreden mehr, um sich die Realität schönzureden und können dennoch nicht mit der ungeschminkten Wahrheit umgehen. Also greifen sie durch den Gesang zu neuen Lügen“, erklärt Oppenheimer, warum er sein Werk als Musical erzählt. Tilda Swinton, die erstmals singend zu hören ist, nahm die Herausforderung ohne Zögern freudig an und performt voll tiefer Emotion. Als überraschend eine Unbekannte zur Familie in den Bunker findet, gerät das Konstrukt der Selbsttäuschung ins Wanken, vordergründig harmlose Fragen sprengen den naiven Optimismus.

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Blick in den Film „The End“

Der deutsche Trailer zu „The End“: Eine postapokalyptische Geschichte über eine Familie, die seit 25 Jahren in einem Luxusbunker lebt.

Den Selbstbetrug entlarven

In einer post-apokalyptischen Zeit sei unsere Gesellschaft längst angekommen, meint Oppenheimer. „Apokalypse“ bedeute doch nichts anderes als „Offenbarung“ und Sichtbarmachen, in unserem Fall von zerstörerischen Verhaltensmustern, die in den Untergang führen, wenn sie nicht verändert werden. „Wir sind die ersten Menschen in der Geschichte, die mit Sicherheit wissen, dass wir uns auf dem Pfad zur Auslöschung befinden. In diesem Sinne leben wir in einer Welt nach der Apokalypse“, erklärt er. Sein filmischer Bunker wird zum Spiegel der Gegenwart und die Familie darin zur Verdichtung der Menschheitsfamilie einerseits, zur Metapher jeder einzelnen Familie andererseits.

Als Kern seiner Arbeit sieht er weniger das Aufdecken der Wahrheit oder die Entlarvung der Lüge. „Ich möchte dem Publikum einen Spiegel vorhalten, in dem es die Mechanismen der Selbsttäuschung erkennen kann – jene Prozesse, die jeder von uns durchläuft, wenn er sich selbst belügt“, so der Regisseur.

Zur Person

Garstige Wahrheit vs. schöne Lügen

Leichthin erzählt Joshua Oppenheimer, der die USA 1997 verließ und heute in Norwegen wohnt, eine private Anekdote als Beispiel. Sein Vater, ein Witwer über 80 Jahre, überlegt aktuell, aus den USA in die Nähe des Sohnes zu ziehen. Der Regisseur sucht für ihn gerade ein Airbnb für den Sommer zum Probewohnen.

„Jeder in meinem Alter kann sich vorstellen, was es heißt, wenn ein Elternteil mit der Idee spielt, mit einem zusammenzuleben. Es ist vielleicht nicht die richtige Entscheidung, aber wenn man sich für den vermeintlich einfacheren Weg, eine gute Pflegeeinrichtung, entscheidet und nicht offen darüber spricht, verliert man eine Entscheidungsmöglichkeit und auch die Beziehung zu diesem Elternteil“, ist Oppenheimer für das Ansprechen unangenehmer Wahrheiten. Im Film ist es Tilda Swintons Rolle, die ihre Familie zurückgelassen hat, dies aber totschweigt und mit Selbstbetrug und Lügen gegenüber dem Sohn beschönigt.

Hat „The End“ die Kraft, ein prägender Film seiner Dekade zu werden? „So wie sich die dunklen Wolken des Totalitarismus auf die Welt senken, ja“, meint Oppenheimer. „Die Kraft der Mächtigen ist es, unsere Gesellschaft in einer künstlichen Realität einzulullen. Wenn wir Kreative es den Menschen auf konstruktive Art erschweren, sich dem Selbstbetrug hinzugeben, dann können wir etwas bewirken.“

Es ist Zeit für Widerstand

Die Familie von Oppenheimers Stiefmutter floh einst aus Wien, die seines Vaters aus Deutschland in die USA. Er wuchs mit der Vorstellung auf, „dass das Ziel aller Politik, aller Moral, aller Kultur darin besteht, diese Dinge daran zu hindern, erneut zu geschehen“, sagt er über den Nationalsozialismus, „und doch passieren sie wieder“. „Sie flohen vor einer xenophoben rassistischen Diktatur, die Angst nutzte, um Menschen zu isolieren. Und jetzt wird das Land, das meine Familie aufgenommen hat, zu einer Diktatur, die Xenophobie, Rassismus und Angst nutzt, um Menschen zu isolieren“, so Oppenheimer. Sein Filmschaffen begreift er als Antwort auf die Jetzt-Zeit, die er als einen „Moment tiefgreifender und erschreckender Veränderung“ wahrnimmt.

„Was verlangt dieser Moment von jedem von uns, wenn wir ehrlich zu uns sind? Wir lösen unsere Probleme als Menschen niemals alleine, sondern kollektiv. Du kannst weniger fliegen und Veganerin werden, wunderbar, aber individuelle Entscheidungen werden die Krise nicht lösen, sondern nur ein kollektives Zusammenkommen in transformativer Solidarität. Das bedeutet, an Protesten teilzunehmen, zivilen Ungehorsam zu üben, aus der Komfortzone herauszutreten und in Solidarität mit anderen Widerstand zu leisten. Ich denke, jetzt ist die Zeit für echten Widerstand“, formuliert er.

Als Europäer zusammenkommen

Wenn man, wie er, mehrere Nationalitäten habe, sei jene des Landes, für das man sich schäme, die wahre Nationalität, sagt Oppenheimer auf die Frage nach seiner amerikanischen Heimat. Oppenheimer: „In diesem Sinne war ich immer Amerikaner. Aber als Trump Selenskij aus dem Weißen Haus vertrieb und ich verstand, dass all die Freiheiten, die ich als Europäer als selbstverständlich erachte, auf der Unterstützung aus Amerika beruhten, fühlte ich mich wirklich wie ein Europäer, aus Angst um mein Zuhause hier. Es ist die Zeit für eine demokratische europäische Solidarität, die nicht nur auf Militarismus basiert, sondern auf einer Friedensbewegung. Wir müssen als Europäer zusammenkommen, denke ich, und als Amerikaner bin ich der Meinung, dass wir Widerstand leisten müssen.“

Oppenheimer bezeichnet sich nicht als Optimist, aber als Hoffenden, was die Zukunft betrifft: „Ich bin hoffnungsvoll und ich glaube, dass das Jetzt, das sich unaufhörlich entfaltet und gleichzeitig Vergangenheit wird, für uns alle voller Möglichkeiten steckt“. Die akut drängendste verbirgt sich im Ende jedes Selbstbetrugs. „Wenn wir uns selbst belügen und diese Lügen auf andere übertragen, höhlen wir unsere Fähigkeit zur Liebe aus. Wir untergraben die Möglichkeit, ein sinnvolles Leben zu führen. Das sage ich nicht, um zu moralisieren, sondern, weil jeder von uns nur eine Chance auf dieses Leben hat. Das Hier und Jetzt, diese Zeit miteinander ist alles, was wir haben. Wie wir sie nutzen, liegt an uns.“

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