Kaum vorstellbar, dass Jean Paul Gaultier mal einen schlechten Tag hat. Das schelmische Funkeln in seinen Augen, das man von Fotos des französischen Couturiers kennt, beherrscht beim Gespräch in einem Mailänder Hotel seinen Blick. Es unterstreicht die Vorliebe des 71-Jährigen für herzhaften, selbstironischen Humor. Kaum eine Chance lässt er binnen einer Stunde aus, um die eigene Wichtigkeit durch pointierten Witz zu konterkarieren.
"Irgendwann findet jemand ein fossiles Stück Stoff und denkt: Uh, da hat aber einer schlecht geschneidert, da fehlt die Hälfte!", kommentiert er die Relevanz seines Werks für nachfolgende Generationen.
Man glaubt ihm gern, wenn er erklärt, dass ihm einzig die Freude am Schaffensprozess stets wichtig gewesen sei. Was danach kommt? Egal!
Zuletzt galt Gaultiers kreative Leidenschaft der Erschaffung einer Show, angesiedelt zwischen Revue und Modeschau, die die Meilensteine seiner Karriere zu den größten Hits der Disco-, New-Wave- und Punkrock-Ära auf die Bühne bringt.
Das Theater und das Genre der Revue im Speziellen hat ihn schon als Kind fasziniert, seit die Großmutter es ihm näher gebracht hat. Detailreich kann Gaultier kurz vor seinem 72. Geburtstag am 24. April die Aufregung schildern, als er bei einer Operettenaufführung erstmals erleben durfte, wie sich die magische Welt hinter dem roten Vorhang für ihn öffnete und in einer Szene ein Bett zum Schweben gebracht wurde: "Es war pure Magie!"
In Frieden mit dem "Enfant terrible"
Mit der autobiografischen "Fashion Freak Show" hat er sich den Traum einer eigenen Revue erfüllt und bringt sie im Juli – nach der Uraufführung 2018 im Pariser Folies Bergère und Stationen in London, Tokio, München, Portugal, Mailand und Barcelona – nach Wien (10. bis 14. 7., Wiener Stadthalle). Zur Premiere wird er am roten Teppich erwartet.
Der Applaus, den Gaultier als Autor, Regisseur und natürlich Kostümbildner der Show bei der Mailänder Premiere empfangen darf, freut ihn. Zu brauchen scheint er ihn nicht. Überzeugend wirkt seine Feststellung, mit der Vergangenheit als jahrzehntelanges "Enfant terrible" der Modebranche abgeschlossen zu haben.
„Das ist so lange her und passt doch längst nicht mehr zur Farbe meiner weißen Haare“, kommentiert er das Attribut, das an ihm haftet, seit er 1976 seine erste Kollektion präsentiert hat. Wieder bringt er ein Zimmer voller Menschen zum Lachen. Seine Augen blitzen freudig.
Die Essenz von Gaultier
Es ist vier Jahren her, seit sich Jean Paul Gaultier mit seiner letzten Kollektion in den Ruhestand verabschiedet hat. An Gaultiers Modeimperium hält die spanische Puig-Gruppe, zu der auch die Modemarken Carolina Herrera, Nina Ricci und Paco Rabanne gehören, 60 Prozent, sowie die Lizenz für Gaultiers Parfüms, die verbleibenden 40 Prozent hält Gaultier selbst.
Dass seit dem Rückzug des Firmengründers jede Saison wechselnde Gastdesigner wie Olivier Rousteing (2022) oder Simone Rocha (2024) für seine Marke aktiv werden, war Gaultiers erfolgreiche Idee. Gleichsam verdeutlicht die Revue, wie prägend Gaultiers Geist für seine Marke bleibt. Kreationen wie der legendäre Kegel-BH, die gestreiften Matrosenpullover, genannt Mariniéres, Männerröcke, Korsagen und Reifrockroben sind Zeugen aus fünf Jahrzehnten des Aufbegehrens gegen Gewöhnlichkeit. Bis heute ist es die Essenz, die Gaultier-Käufer anlockt.
Der Teddybär als erste Muse
Lange, bevor Madonna sich 1990 damit auf Welttournee unsterblich machte, entwarf Jean Paul Gaultier als Bub den ersten Kegel-BH für seinen Teddybär namens Nana. Ursprünglich hatte sich der Junge aus dem Pariser Vorort Arcueil eine Puppe gewünscht, doch die war zu ungewöhnlich in der damaligen Zeit. Das Einzelkind eines Buchhalter-Ehepaars entfloh den Eltern zur Großmutter, Marie Garrab, deren Kästen er durchwühlen und ein Korsett finden durfte. Die Großmutter ermutigte das Kind in seiner Leidenschaft für Schneiderei-Experimente, Modemagazine und Kleiderskizzen.
Klar, dass der Bär Nana, den Gaultier in einer Schachtel bewahrt, auf der Revuebühne den Anfang macht. Auch die Erfahrung, als Gaultiers Lehrerin ihn bestrafte, weil er im Unterricht Showgirls der Folies Bergère zeichnete, wird in Szene gesetzt. Es gleicht einem Erweckungserlebnis: Mit der Zeichnung auf dem Rücken muss er durch die Schule laufen und begeistert der Strafe zum Trotz die Mitschüler für sein Zeichentalent.
Lernen durch Journalistenaugen
Gaultier startete ohne formelle Ausbildung in seine außergewöhnliche Karriere. Schon in jungen Jahren schickte er Skizzen an berühmte Designer. "In den 60er-Jahren gab es kein Fashion-TV. Meine Ausbildung habe ich aus Magazinen. Ich habe Mode durch die Augen der Journalisten und Kritiker gesehen und mir so Wissen angeeignet", beschreibt er seinen Weg. Pierre Cardin war vom Talent des damals 18-Jährigen beeindruckt, er stellte ihn 1970 als Assistenten ein und förderte seine Karriere. 1976 zeigte Gaultier seine erste Kollektion. Sein charakteristischer Stil entwickelte sich Anfang der 80er-Jahre, als er erstmals Marinestreifen und Kegel-BHs auf dem Laufsteg zeigte (1984) und seine erste Männer-Kollektion „Male Object“ 1984 mit dem Männerrock für Aufruhr sorgte.
Jean Paul Gaultier blickt gelassen auf die eigene Wichtigkeit
"Frauen wurden konventionell als Objekt betrachtet. Warum nicht auch Männer so betrachten?", erklärt er seine Inspiration, die stets davon getragen war, Grenzen zu hinterfragen und aufzubrechen.
Tabubruch? Nicht für Gaultier
Für seine Modeschauen castete er zum unkonventionellen Designansatz ebensolche Models. Großflächige Tattoos waren auf deren Haut zu sehen, Piercings, grauhaarige Männer und Frauen, Models mit Kurven und vom Leben gezeichneten Gesichtern erstaunten und beschäftigen die Modewelt. Mit seinen Kilts war er Vorreiter der Genderfluidität und seine Models Protagonisten der Body-Positivity-Bewegung. "Standard hat mich nie interessiert. Ich wollte immer verschiedene Arten von Schönheit zeigen", beschreibt Gaultier seine Motivation. Provokation war ihm dabei nie wichtig, sagt er. Vielmehr sollte seine Mode gesellschaftliche Entwicklungen wie Emanzipation und neue Geschlechterrollen spiegeln.
Die Frage nach Versäumnissen im Leben kann oder will er nicht beantworten: "Ich bin nicht dafür gemacht, so zu denken." Nicht einmal beim Rückblick auf sein Leben für die "Fashion Freak Show" habe ihn der Gedanke, er hätte etwas besser anders machen sollen, beschäftigt, wie er sagt. "Ich betrachte mein Leben als positives Ereignis. Ich habe gelebt, wovon ich als Kind geträumt habe. Das habe ich auf die Bühne gebracht, und auch das ist ein Kindheitstraum."
Jean Paul Gaultier im Gespräch
Ihre "Fashion Freak Show" zeigt Ihre Arbeit und kritisiert Schönheitsideale. Wie wichtig ist diese kritische Botschaft?
Für mich reflektiert und kommentiert Mode gesellschaftliche Entwicklungen. Mode ist tägliches Leben. Das kann politisch verstanden werden und als Kritik an der Gesellschaft. So hat meine Mode immer funktioniert, so ist es jetzt in der Show.
Man sieht viel Nacktheit und provokante Szenen. War dies Ihr Plan?
War da so viel Provokation? Ich halte die Show für überaus politisch korrekt. Früher wurden meine Kreationen als schockierend bezeichnet. Aber ich habe nie entworfen, um zu provozieren. Ich habe in Mode gegossen, was ich gesehen und gefühlt habe. Meine Entwürfe waren ein Spiegel der Gesellschaft. Wenn ich das Gefühl hatte, dass sich das Frauenbild ändert, wollte ich das zeigen. Mir ist aufgefallen, dass Sakkos für Frauen keine Brusttasche innen haben. Das haben nur Männersakkos, weil der Mann es für die Geldbörse braucht, weil traditionell der Mann bezahlt. Deshalb habe ich Frauensakkos mit Innentaschen gemacht und Männersakkos ohne Taschen, um die weibliche Autonomie zu betonen.
Sie haben als Erster unkonventionelle Models auf den Laufsteg geschickt. Haben Sie selbst gecastet?
Selbstverständlich. Ich wollte immer verschiedene Arten von Schönheit zeigen. Jemand, der nicht der Norm entspricht, hat mich immer schon mehr fasziniert als Schönheitsideale. Lieber jemand, der keinen Catwalk-Gang beherrscht, aber dafür etwas Besonderes ausstrahlt. Standard hat mich nie interessiert.
Sind sie privat extravagant?
Definitiv gar nicht, kein bisschen. Ich bin sehr konservativ und lebe ein einfaches Leben. Essen, schlafen … das einzig Herausragende ist, dass ich tun darf, was mir Freude bereitet.
Einer Ihrer prägendsten Lebensmenschen war Ihre Großmutter. Welche Erinnerung pflegen Sie an sie?
Sie hat mir jede Freiheit gelassen! Ich konnte tun, was ich wollte. Sie hat mein Wesen verstanden, das mich von anderen Jungs unterschieden hat. Ich habe nie Fußball gespielt wie die anderen. Sie hat mir Bücher mit fragilen Protagonisten gegeben, die mir gezeigt haben, dass ich nicht alleine bin. Sie hat zugelassen, dass ich meinem Teddybär einen Kegel-BH geschneidert habe. Das meine ich mit Freiheit.
Was halten Sie vom Attribut "Enfant terrible"?
Das ist so lange her und passt längst nicht mehr zur Farbe meiner weißen Haare. Natürlich habe ich es als Kompliment verstanden. Ich wollte mit meiner Mode raus aus der Gleichförmigkeit, und dieses Attribut ist der Beweis, dass es gelungen ist.
Wie wird man sich in 100 Jahren an Sie erinnern?
Gar nicht! Vermutlich findet jemand ein fossiles Stück Stoff und denkt: Uh, da hat einer schlecht geschneidert, da fehlt die Hälfte! Es ist mir egal. Diesbezüglich bin ich egoistisch. Mich hat das Erschaffen, das Zeichnen begeistert. Ob mein Werk die Ewigkeit überdauert, hat keine Relevanz.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 14/2024 erschienen.