In seiner Kunst hat Hannes Mlenek sie zur Protagonistin gemacht – die spontane Linie. "Bauchsache", plädiert er. "Talent" attestieren andere. Denn geradezu virtuos formt sie Mleneks abstrakte, expressive Körper und erzählt deren Geschichten.
"Bildhauergebäude des Bundes", prangt ein in die Jahre gekommener Schriftzug über dem Portal des Areals der Praterateliers. Er ist, wie auch die prunkvollen Gebäude, Zeitzeuge heimischer Kunstgeschichte. Beim Schlendern durch das Parkgelände fallen zwei sich gegenüberstehende Pavillons besonders ins Auge – errichtet im klassischen Stil der Gründerzeit, sind die architektonischen Prachtbauten Rudiment der Weltausstellung 1873. Der eine besser erhalten als der andere. Den besseren hat der österreichische Künstler Hannes Mlenek 2016 als ideale Wirkungsstätte auserkoren. Zumindest beim zweiten Anlauf: "Anfangs war ich völlig unschlüssig", erinnert er sich. "Anfangs" war Mitte August, im Atelier hatte es schätzomative schweißtreibende 45 Grad. "Meine Frau war damals, wie so oft, Impulsgeberin im Entscheidungsprozess – sie meinte, ich müsse diese einmalige Gelegenheit beim Schopfe packen." Außerdem war ein Ausweichatelier längst überfällig – vor Jahren kehrte die einst bekämpfte Feuchtigkeit im 250 Quadratmeter großen Hauptatelier, einer ehemaligen Buchdruckerei im Souterrain eines Wiener Jugendstilhauses, wieder. "Der Albtraum eines jeden Künstlers."
"Also habe ich mich für den Pavillon beworben", erzählt Mlenek. Letztlich entscheidet nämlich ein Komitee darüber, wer in die Ateliers einziehen und sich damit in die Liga heimischer Größen wie Karl Prantl, Alfred Hrdlicka, Roland Goeschl oder Hans Kupelwieser einreihen darf. "Dann wollte ich es natürlich sofort wissen und siehe da – ich hab den Zuschlag bekommen und bis heute nicht eine Sekunde bereut." Immerhin hat der geschichtlich gewachsene Ort eine "wahnsinnige, wenn auch etwas morbide Atmosphäre".
Warum nur Männer?
Von der Morbidität ist beim Betreten des kolossalen Ateliers Mleneks, das er seinen Ansprüchen entsprechend renoviert hat, kaum noch etwas zu spüren. Gut, das Dach, das bei etwas heftigeren Windböen abzuheben droht, einmal außer Acht gelassen. "Man gewöhnt sich dran", beteuert er. Ebenso gewöhnt man sich (angeblich) an die beachtliche Raumhöhe von 18 Metern, die sogleich zum Tragen kommt und die Mlenek mit seiner Liebe zum Großformat gekonnt zu bespielen weiß. Zwei monumentale Türme, bespannt mit Leinwand und von innen beleuchtet, erstrecken sich über elf Meter Richtung gläserner Decke – sie sind Höhepunkt seines Projekts "Arche – Eine Überlebensstrategie", mit dem er dieses einzigartige Areal wieder verstärkt ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rücken möchte. Dabei sind seine "Geschlechtertürme" Sinnbild seiner Kunst – die Installation vereint Grafik, Malerei und Skulptur.
Unter dem eigentlichen Titel "Embryonale Empathie" zeigt sie Körper in embryonaler Haltung. Für Mlenek eine entscheidende Phase: "Als Embryo ist das Geschlecht noch nicht bestimmt – zunächst sind wir alle weiblich, ehe Hormone final entscheiden." Stereotype Geschlechteridentifikation findet in Mleneks Schaffen, der ausdrücklich nicht geschlechtsspezifisch arbeitet, keinen Raum. Er sei schließlich kein Sexist. Aus diesem Grund malt er auch ausnahmslos männliche Körper: "Ich verzeichne meine Körper meist stark – wären sie weiblicher Natur, könnte man das sexistisch interpretieren. Bei meinem eigenen Körper, dem männlichen, habe ich überhaupt kein Problem, überzogen zu zeichnen." Manchmal so überzogen, dass er selbst nicht mehr an der 100-prozentigen Männlichkeit seiner Körper festhalten kann. "Letztlich geht es mir aber darum, dass sich alle Menschen in meinen Werken selbst entdecken und erkunden können."
Mittelpunkt Mensch
Viel wichtiger als Geschlechtszuordnung oder sexuelle Orientierung seien ohnedies der Mensch („den braucht’s, um Dinge auszudrücken – ein menschenleerer Raum wäre eine Tragödie“) und dessen zwischenmenschliche Beziehungen. Deshalb bestimmt die Dualität seit Anbeginn seines Künstlerdaseins das Werk des heute 75-Jährigen. „Meine Arbeit zeigt meist Paare, die einander zuoder abgewandt sind – mir geht’s um das zwischenmenschliche Spannungsfeld. Die Beziehungsfähigkeit, die Lösungsgrundlage der Probleme dieser Welt ist.“ Er selbst scheint über diese grundlegende Fähigkeit zu verfügen – seit 1975 ist er mit seiner Frau Gertrude glücklich (!) verheiratet.
Als "typischer 68er" wollte er mit seinen Bildern zunächst die Welt verändern. "Ich habe immer versucht, mich in meiner Kunst zu erklären", so Mlenek, der nicht selten mittels Schrift eine weitere Ebene in seinen Arbeiten schafft. Und noch etwas früher war da überhaupt ein anderer Wunsch oder, besser gesagt, Traum: der vom Fliegen. "Mit 16 Jahren habe ich mit dem Segelfliegen begonnen und wollte später einmal Pilot werden." Einige Schicksalsschläge, die Kommilitonen das Leben kosteten, haben ihn schließlich davon abgebracht. Letztlich stellte eine Bahnfahrt die Weichen für seine Laufbahn in der Kunst: "Auf einer Heimfahrt nach Wiener Neustadt habe ich einen Schüler der Grafischen kennengelernt – er hat mir seine Mappe mit Arbeiten gezeigt, und da dachte ich mir: Das kannst du auch."
Zu Gast an der Akademie
Statt sich dem Heer zu verpflichten, zog es Mlenek kurze Zeit nach der schicksalhaften Bahnbekanntschaft nach Wien. Das Ziel: die Akademie, wo man ihm zunächst "Fantasielosigkeit" attestierte und ihn ablehnte. Sich geschlagen geben? Keine Option. So heuerte er kurze Zeit später bei Professor Adolf Frohner als Gasthörer an und stieß auf Wohlwollen. Die Folge: Er bewegte sich wie ein regulärer Student an der Akademie – mit dem einzigen Nachteil, später nicht selbst einmal Kunsterzieher werden zu können, was er allerdings genauso wenig wollte, wie Epigone eines Professors zu werden. Gelernt hat er "vom Frohner" aber durchaus: "Seine Aktklasse hat mein Werk nachhaltig geprägt."
Mit dieser Prägung und den Worten "Schau, dass du in den Markt kommst" hat ihn Frohner, der später auch ein enger Freund Mleneks wurde, schließlich in die Weiten der Szene entlassen. Der Anweisung Folge leistend, erbat sich Mlenek bei seiner Frau eine zweijährige Bewährungsfrist. Dieser stattgegeben, setzte er alles auf eine Karte und klapperte sämtliche Galerien ab. Über eine qualifizierte er sich für den Wettbewerb "Das Wiener Beisl darf nicht sterben" und behauptete sich gegen Hrdlicka, Fuchs und andere Größen. "Und dann ging's los – es gab viele Preise, aber wenig Geld", lacht er. "Moralisch war das aber entscheidend. Ich wurde von der Kritik wahrgenommen, was die Sinnhaftigkeit meines Tuns bestätigte." Geld war ihm damals ohnehin sekundär – viel mehr wollte er mit seiner Kunst Dinge bewegen.
Diese Hoffnung hat er mit den Jahren abgelegt: "Gerade in der heutigen Zeit ist es unmöglich, Dinge durch Kunst zu verändern. Heute gebe ich mich zufrieden, wenn ich mit meiner Arbeit aufrüttle oder einfach nur beglücke." Den Versuch, sich in seiner Kunst zu erklären, hat er bereits mit der Geburt der Tochter aufgegeben – "dafür fehlte es fortan an Zeit". Ein Umdenken wurde auf den Plan gerufen und es hatte sich herauskristallisiert, dass die Zeichnung Mleneks übergeordnetes Thema ist: "Die Linie wurde zu meinem Ausdrucksmittel."
Die Linie als Narrativ
Sie verleiht Mleneks konsequent entwickeltem Werk das Unverkennbare; die von zumeist schwarzer Ölkreide oder Kohle ausgeführte Linie ist es, die seinen abstrakt-figurativen, gestisch-expressiven Körperdarstellungen Leben einhaucht. Ein Markenzeichen, das sich auf seiner Oberlippe als schmaler, schwarzer Schnurrbart fortsetzt. Klaus Albrecht Schröder spricht gar vom „Michelangelo unserer Zeit“. Für Mlenek selbst ist seine Linie nichts anderes als "Bauchsache, die sich einem übergeordneten, seriell gedachten Thema unterordnet".
Der Zufall? Ein treuer Begleiter im Schaffensprozess, bei dem "Perfektionismus und Ungeschick einander die Hand geben". "Denn die Freiheit der Linie, ihre Spontanität, birgt natürlich die Gefahr, dass sie ihr Ziel verfehlt." Doch die Jahre als Linienführer haben ihn gelehrt, bei erstmaligem, perfektionistischem Nichtgefallen ein Werk nicht gleich der Zerstörung zuzuführen. "Der Blick des nächsten Tages eröffnet meist neue Perspektiven, die dir zeigen, dass es bloß noch einen kleinen Zusatz – freilich in Form einer Linie – braucht, der letztendlich über Gefallen oder Nichtgefallen entscheidet. Im Idealfall entsteht innere Zufriedenheit. Dann ist ein Werk fertig."
Trotz der sein Œuvre kennzeichnenden Reduktion, die der Monochromie die Treue schwört, verzichtet er, der Buntheit ablehnt, nicht gänzlich auf Farbe: "Die Farbwahl ist stets thematisch verankert", erklärt er. Damit kommt er in ein "manipulatives Fahrwasser", das er sonst nur vom Ufer aus kennt. Denn die Farbe ist eine Art Köder: "Sie ist es, die uns fesselt. Erst später nähert man sich der Zeichnung und beginnt, sie zu lesen, ehe sie ihre Wirkung entfaltet. Und das braucht Zeit, die ein gewisses Interesse voraussetzt – denn die direkte Wirkung bleibt beim grafischen Werk aus, macht es meiner Meinung nach aber spannender." Den Betrachterinnen und Betrachtern sind bei der Interpretation kaum Grenzen gesetzt.
Über Grenzen hinaus
Grenzen setzt sich Mlenek, der lieber aus dem Vollen schöpft, auch bei der Formatwahl keine. Für ihn die wortwörtlich größere Herausforderung: "Kleinere Formate verkaufen sich wesentlich leichter als große Leinwände." Stören tut ihn das nicht, im Gegenteil: "Das zeigt mir, dass ich letztlich für mich arbeite und Selbstunterhaltung nach wie vor einen großen Stellenwert in meiner Arbeit hat – Langweile wäre dabei völlig Fehl am Platz."
Außerdem sieht er vor einer großen Leinwand starke Parallelen zum Fliegen: "In beiden Fällen öffnet sich mir dieser fantastische Freiraum – das Führen eines Zeichenstiftes oder eines Pinsels erinnert mich an das Aufsteuern eines Aufwindes. Beides erfordert Handarbeit und Sensibilität", so Mlenek, der zum Leidwesen seiner Frau vor 15 Jahren das Segelfliegen wieder aufgenommen hat. Und was, wenn der Platz auf einer Leinwand doch einmal auszugehen droht? Dann wird der Installationskünstler in ihm geweckt, der seine zeichnerische Fläche kurzerhand auf den öffentlichen Raum ausweitet: Bei "Airfield Transboundary" waren es ganze 2.800 Quadratmeter, die er mit seiner Kunst an fünf Schauplätzen entlang der österreichischtschechischen Grenze im Waldviertel bespielte. Den besten Ausblick auf das Kunstspektakel hatte man übrigens – wenig überraschend – aus der Vogelperspektive einer kleinen Cessna.
Steht man mit Mlenek in einem seiner Ateliers und lauscht seinem Ideenreichtum und der Passion für die Kunst, wird eines deutlich: Aufhören kommt für den 75-Jährigen nicht infrage. "Das wäre doch irrsinnig", scherzt er. "Vielleicht werden die Formate aber eines Tages etwas kleiner." Vielleicht …
Kulturtipp
In Wien sind seine Werke in der Galerie Lukas Feichtner (1., Seilerstätte 19) zu bestaunen. feichtnergallery.com
Dieser Beitrag erschien ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 11/2024.