Eskalation im Weißen Haus. US-Präsident Donald Trump machte dem ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj vor laufender Kamera Vorwürfe: „Sie riskieren einen Dritten Weltkrieg!“ Konstruktiver und wertschätzender Dialog will gelernt sein. Ein Social-Media-Trend und dessen Wurzeln in der gewaltfreien Kommunikation könnten der Politik Inspiration bieten.
Seit November letzten Jahres kursieren auf Social Media Videos, in denen Paare, Freundinnen, oder Kollegen einander vor laufender Kamera Geständnisse machen. „We listen and we don’t judge“ heißt der Trend – zu Deutsch: „Wir hören zu, und wir urteilen nicht“. Diese Worte werden wie ein Mantra in Einklang gesprochen, ehe teils belustigende, teils erschütternde Geheimnisse verraten werden. Dabei gilt die Regel: Wer zuhört, darf nicht reagieren, nicht urteilen und schon gar nicht kritisieren. Danach wird gemeinsam das Mantra wiederholt und die nächste Person tritt in den digitalen Beichtstuhl.
Von Harmlosigkeiten wie „Ich benütze manchmal deine Zahnbürste“ bis zu „Ich bin fremdgegangen“ ist thematisch alles dabei. Reaktionen darauf können sich allerdings die Wenigsten verkneifen – weder in den Videos noch in den Kommentarspalten. Das Beurteilen und Werten sei schließlich tief im Menschen verankert und werde im Internet noch zusätzlich verstärkt, erklärt Medien-Psychologe Tobias Dienlin.
Wurzeln in der Psychologie
Was in den viralen Videos humorvoll als „Challenge“ präsentiert wird, lässt sich auf das Konzept der gewaltfreien Kommunikation von Marshall B. Rosenberg zurückführen. Im Wesentlichen geht es dabei um wertfreien Umgang mit unangenehmen Verhaltensmustern. Emotionen werden konkret benannt und die dahintersteckenden unerfüllten Bedürfnisse identifiziert. Am Ende des Konzepts steht eine respektvoll formulierte Bitte ans Gegenüber, das störende Verhalten zu ändern.
Zentral ist hierbei, Beobachtungen stets von Bewertungen zu trennen. Denn sonst entstehen angriffige Aussagen wie „Schon wieder hast du dein dreckiges Geschirr nicht weggeräumt.“ Diese werden vom Gegenüber schnell als Kritik aufgeschnappt und führen letztlich nur zu Frust auf beiden Seiten. Mit Hilfe von Rosenbergs Konzept kann das Problem lösungsorientierter angesprochen werden: „Wenn dreckiges Geschirr liegen bleibt, fühle ich mich verärgert, weil ich das Bedürfnis nach Ordnung in gemeinsamen Räumen habe. Könntest du deine Teller bitte -sofort wegräumen?“
Wer das Gegenüber verurteilt, so Rosenberg, fokussiere auf Kategorien wie „richtig“ und „falsch“ und vergesse dabei oft auf eigene und fremde Bedürfnisse, die der eigentliche Auslöser für negative Gefühle sind. Sogenanntes „Deep Listening“ fördere stattdessen Werte wie Respekt, Achtsamkeit und Einfühlungsvermögen.
Wunsch nach respektvollem Umgang
Ist der Social-Media-Trend ein Hinweis darauf, dass sich junge Menschen wertschätzendere Kommunikation wünschen? „Ich weiß nicht, ob der Trend so altruistisch angelegt oder nur eine spaßige Mutprobe ist“, sagt Dienlin. Denn Trends seien maßgeblich von Influencern angetrieben, die über ihre Formate letztlich Einkommen generieren. Details aus dem Privatleben kämen besonders gut an.
„Was wir aber schon merken, ist, dass der Circle of Compassion gesamtgesellschaftlich immer größer wird, man also immer mehr Rücksichtnahme fordert.“ Dies merke man sprachlich beispielsweise durch das Gendern. „Seit ein paar Jahren sehen wir aber auch die Umkehr des Pendels Richtung traditionellerer Kommunikation.“ Dass die Politik diese gesellschaftliche Entwicklung spiegelt, zeigte sich kürzlich beim Eklat zwischen Trump und Selenskyj im Weißen Haus.
Inspiration für die Politik
Rosenberg sah die Anwendungsbereiche seines Konzepts nicht nur im Privatleben, sondern auch in der Politik. Eine Utopie?
Man müsse hier zwischen der Phase des Wahlkampfs und der alltäglichen Politik unterscheiden, sagt Kommunikations- und Politikexpertin Heidi Glück. In Wahlkämpfen gehe es um eine klare Abgrenzung vom Gegenüber – da sei Rosenbergs Modell nicht die richtige Herangehensweise. In Koalitionsgesprächen oder Friedensverhandlungen dürfe ein Grundmaß an Respekt und Aufeinander-Zugehen jedoch nicht fehlen. Ausgehend von Trump sei eine Bewegung der politischen Kommunikation Richtung Untergriffigkeit und Polarisierung zu beobachten.
Diesem Trend versucht die österreichische überparteiliche Initiative „Mehr Grips“ einen wertschätzenden Diskurs entgegenzusetzen. Ein rund dreißigköpfiges Team mit Teilnehmenden aus unterschiedlichen Fachbereichen hat sich zum Ziel gesetzt, Impulse für gute Politik zu geben. Zu den Mitgliedern zählen neben Glück unter anderem AMS-Vorstandsvorsitzender Johannes Kopf und Infineon-CEO Sabine Herlitschka. Gemeinsam habe man sich für einen konstruktiven und gewaltfreien Dialog ausgesprochen, um konkrete Maßnahmen für Österreichs Politik zu erarbeiten, so Glück. Seit Sommer letzten Jahres liegen Ergebnisberichte vor. Allen Parteien seien die erarbeiteten Maßnahmen zur Verfügung gestellt worden.
Auf Dauer kein Erfolg
Ein Konzept, das Anregungen für ein wertschätzendes Miteinander bietet. Aber wie viel gewaltfreie Kommunikation schafft es tatsächlich von der Theorie in die Praxis? Im Social-Media-Trend „We listen and we don’t judge“ sieht Dienlin Rosenbergs Formel nur zum Teil erfolgreich umgesetzt. Und ob alle Politiker und Politikerinnen zum gewaltfreien Gespräch bereit sind, bleibt fraglich. „Auf Dauer wird diese untergriffige Kommunikation keinen Erfolg haben. Und sie wird auch nicht akzeptiert werden“, prophezeit Glück, „In den letzten Monaten hat sie eine gewisse Art von Schockstarre erzeugt, aber aus der werden alle auf-wachen. Auch Europa wird aufwachen.“
Heidi Glück: Wir müssen reden! Aber anders


Kommunikationsexpertin Heidi Glück
© Bild: Matt ObserveNEWS: Ist es Ihrer Einschätzung nach in der Politik möglich, gewaltfrei nach dem Konzept von Marshall B. Rosenberg zu kommunizieren?
Heidi Glück: Ja, grundsätzlich glaube ich schon, dass das möglich ist. Und zwar dann, wenn es um die gemeinsame Suche nach Lösungen, nicht primär um Polarisierung, Abgrenzung und Auseinandersetzung geht. Die gewaltfreie Kommunikation muss man sogar in einem Verhandlungsprozess, in einem Prozess, wo es um Konfliktlösung geht – zum Beispiel Friedensverhandlungen –, aber auch in ganz normalen Reformprojekten anwenden. Man wird nur zu Lösungen kommen, die für beide Seiten befriedigend und letztlich auch durchsetzbar sind, wenn alle Beteiligten dieses Aufeinander-Zugehen verstehen. Wo gewaltfreie Kommunikation nicht funktioniert, ist die Phase von Wahlkämpfen. Das ist die Phase der Auseinandersetzung. Im Wahlkampf muss ich mein klares Profil gegenüber dem Wähler zeigen. Kommuniziert man im Wahlkampf im Sinne Rosenbergs, wird man auch medial wahrscheinlich wenig Aufmerksamkeit finden. In der alltäglichen Politik geht es um Konsenssuche, und dafür braucht es einen anderen Zugang. Bei Regierungsverhandlungen oder Abstimmungen im Parlament ist es entscheidend, dass ich auch die anderen Positionen akzeptiere, nicht nur meine eigene. Diese Akzeptanz muss man kommunikativ vermitteln.
Ist das Kommunizieren von Bedürfnissen und Gefühlen in der Politik etwas, das Schwäche zeigt? Oder macht es die Person menschlich?
Gefühle zeigen kann man und muss man sogar in gewissen Situationen: Also wenn es um Mitgefühl geht – Terroranschläge, Unfälle –, wenn es darum geht, dass Personen unverschuldet von etwas besonders Negativem betroffen sind, da wird es nicht als Schwäche gesehen. Eher im Sinne von Verständnis. An sich wird es in der Politik eher als Schwäche ausgelegt, Gefühle zu zeigen – wenn man traurig ist, wenn man seine Funktion verliert oder wenn man verärgert ist. Man erwartet Souveränität, Professionalität. Wenn sich der Politiker ärgert, habe ich als Zuhörer nichts davon. Als Zuhörer oder Zuschauer brauche ich den emotionalen Ausbruch nicht, sondern will eine klare Antwort haben.
Welche Unterschiede beobachten Sie zwischen politischen Kommunikationsstrategien im In- und Ausland?
Es hat sich jetzt mit Trump in der globalen politischen Kommunikation schon sehr viel verändert, zuallererst vom Niveau, aber auch von der Direktheit her. Wenn es zwischen Ländern Auseinandersetzungen gab, hat man durchaus hart kommuniziert, aber es galt Respekt-Wahren als Grundkultur. Die wird jetzt aus meiner Sicht stark unterwandert. Das führt natürlich zu enormer Verunsicherung. Es ist auch die Frage, ob dieser respektlose Umgang wirklich eine erfolgversprechende Methode ist. Ich bezweifle es. Auf Dauer wird diese untergriffige Kommunikation keinen Erfolg haben. Und sie wird auch nicht akzeptiert werden. In den letzten Monaten hat sie eine gewisse Art von Schockstarre erzeugt, aber aus der werden alle aufwachen. Auch Europa wird aufwachen. Man sieht auch schon: Sie bündeln ihre Interessen, weil sie merken, wir brauchen jetzt den starken Zusammenhalt, damit wir dem etwas entgegnen können, aber auf einem Niveau, auf dem letztlich eine Gesprächsbasis vorhanden bleibt. Gesprächsebenen sind das Entscheidende in der Politik, weil es sonst nur zu großen Konflikten kommen kann.
Haben Sie den Eindruck, dass Trumps Kommunikationsmodell in Europa von als rechtsextrem bezeichneten Politikern und Politikerinnen wie Weidel oder Kickl übernommen wird?
Ja, ich habe schon den Eindruck, dass sie glauben, sich da etwas abschauen zu müssen, weil das Laute auch etwas ist, was medial leichter transportiert wird. Das Laute bringt Schlagzeilen. Auch dieses stark Polarisierende erhöht natürlich die Aufmerksamkeit. Vor allem jene Parteien, die gerade nicht in einer Regierung sitzen, müssen zwangsweise ein bisschen lauter sein, damit sie gehört werden. Die Frage ist, ob laut, aber untergriffig und verletzend dauerhaft zielführend ist. Die Aggression bringt keine Lösung.
ÖVP und FPÖ haben in ihren Koalitionsverhandlungen viel über die Medien kommuniziert. Da standen die von ihnen erwähnten lauten Schlagzeilen teilweise als Mittler zwischen den Parteien. Was sagen Sie dazu?
Hier muss man bedenken, wer denn eigentlich kommuniziert hat. Das waren nicht die Verhandlungsführer, sondern es waren Personen in der zweiten und dritten Ebene. Das kann natürlich durchaus taktisch eingesetzt werden. Als Verhandlungsführer kann ich meinem Gegenüber Druck machen, indem ich ihm über Dritte öffentlich etwas ausrichte. Dass das in so einer heiklen Phase nicht gut kommt, hat man gesehen. Klar ist, es braucht in solchen Verhandlungsphasen einen Kommunikationsplan. Es kann nicht wochenlang hinter verschlossenen Türen geheim verhandelt werden. Das funktioniert schon gar nicht in einer Welt, in der wir es gewohnt sind, dass wir im Stundenrhythmus mit neuen Botschaften, die einen Newswert haben, beliefert werden. Wir haben eine unglaubliche Dynamik in unserem Informationszeitalter. Meiner Meinung nach zum Nachteil der Politik, denn die Politik hat somit immer weniger Zeit für die solide Ausarbeitung von Projekten und Verhandlungsrunden. Aus meiner Sicht lassen sich Politiker heute viel zu sehr treiben, in der Sorge, dass etwas Negatives in der Zeitung publiziert wird.
Welche Rolle haben Journalistinnen und Journalisten in der politischen Kommunikation?
Als Politiker gebe ich ein Interview, um eine klare Botschaft an eine gewisse Zielgruppe zu kommunizieren. Und dafür brauche ich den Mittler. Der Journalist transportiert die Botschaft. Das funktioniert oft nicht, weil es vielleicht unterschiedliche Auffassungen davon gibt, was der Journalist hören will und was der Politiker sagen möchte. Dort wird es konfrontativer.
Sind Interviews denkbar, die sich nach Rosenbergs Konzept gestalten - in denen also beispielsweise nicht unterbrochen wird?
Unterbrochen wird man als Politiker eigentlich nur dann, wenn der Journalist das Gefühl hat, das Gegenüber will sich aus einer Frage herausreden oder nicht auf den Punkt kommen.
Wo gibt es in Ihren Augen Verbesserungspotenzial in der politischen Kommunikation Österreichs?
Fast überall. Erstens bräuchte es für jede Reform einen Kommunikationsplan. Dieses notwendige Kommunizieren ist etwas, das manchen sehr schwerfällt, weil sie aus der Beamten- und Politiksprache nicht herausfinden und dadurch vieles auch nicht verstanden wird. Ein zusätzliches Hindernis ist, dass man über Social Media heute anders kommunizieren muss als vor 20 Jahren in einem Radiointerview. Jetzt muss ich alles, was ich unterbringen will, innerhalb von einer Minute loswerden. Letztlich geht es darum, eine verständliche, klare Sprache zu finden, die den Leuten das Gefühl gibt, es werden die Dinge angesprochen, die ihnen besonders am Herzen liegen.
Kann Rosenbergs gewaltfreie Kommunikation hier einen Anreiz bieten?
Mit Sicherheit. Denn hier geht es um Sachargumente. Doch in den allermeisten Fällen nehmen sich Politiker nicht die Zeit, um zu überlegen, wie etwas kommuniziert werden muss.
Das Buch:
„Gewaltfreie Kommunikation: Eine Sprache des Lebens“
Das Buch „Gewaltfreie Kommunikation: Eine Sprache des Lebens“ (Junfermann Verlag) erklärt Marschall B. Rosenbergs Handlungskonzept der gewaltfreien Kommunikation und schult bewusstes Zuhören. Das Werk enthält auch Beispiele und Übungen.


© Junfermann