Zwei Jahre nach seinem Tod regiert der große österreichische Romancier Gerhard Roth mit der atemberaubenden posthumen Neuerscheinung "Jenseitsreise" den Literatursommer
Die Fälle des Zuspätkommens häufigen sich naturgemäß, je älter man wird. Da empfängt man ein Dreivierteljahr lang Signale von so liebevoller, zugleich unmissverständlicher Dringlichkeit, dass man gleich nach der ersten Nachricht ohne Verzug hätte aufbrechen müssen. Es sei Zeit für ein Wiedersehen in der märchenhaften Einöde des südweststeirischen Hügellands, sagt die berühmte Stimme am Telefon. Alles sei an seinem Platz, die Speisekammer gefüllt, der Wein eingekühlt und der Nussbaum wie immer ein aufmerksamer Schirmherr für die schönen Gespräche, die baldiger Wiederaufnahme harrten. Und dann ist immer etwas, Corona noch nicht ganz vorbei, dann das bisschen Sommerurlaub, ehe die Festspiele beginnen, und dann der Ressourcen fressende Saisonbeginn. Und dann ist es zu spät, und unter dem Nussbaum wartet die Urne eines großen Freundes und noch größeren Menschen, den man trotz seiner dringlichen Vorhaltungen nicht mehr wiedergesehen hat, auf den versäumten Besuch.
Mit etwas weniger elegischer Emphase formuliert: Am 8. Februar vor zwei Jahren ist der große österreichische Schriftsteller Gerhard Roth im Alter von 79 Jahren verstorben. Aber sein Werk, schon zu Lebzeiten 26 Romane – zehn von ihnen verfilmt –, elf Essaybände, sechs Theaterstücke und acht Fotobände stark, ist immer noch nicht abgeschlossen. Soeben ist unter dem Titel „Jenseitsreise“ der 27. Roman erschienen, ein Fragment von 412 Seiten, die editorischer Fleiß publizierbar gemacht hat.
Im Strom durch Zeit und Raum
Protagonist ist wieder Franz Lindner, der im frühen Hauptwerk „Landläufiger Tod“ noch stummer Insasse der Künstlerkolonie in der Nervenheilstätte Gugging war. Er ist Roths Alter Ego und hat sein erzählerisches Werk mehrfach begleitet. Bis zur vorläufigen Dernière in der dystopischen Apokalypse „Die Imker“, deren Endfassung Roth noch eine Woche vor seinem Tod in Telefonaten mit dem Verlag überwacht hat.
Aber da hatte er schon länger als ein Jahr die „Jenseitsreise“ in Arbeit, und was für ein Buch das ist! Lindner schleudert entgrenzt durch Zeit und Raum. Sein vormaliger Aufenthalt in der Psychiatrie ermöglicht die Außerkraftsetzung der erzählerischen Logik. Der Leser in Lindners Gestalt verwandelt sich in eine Raupe und dringt dann in den Kopf der Elster ein, von der die Raupe verschlungen wurde. Die Reise, ein Gedankenstrom von Joyce’schem Sog, reißt ihn durch die Kulturgeschichte, mit dem Dante’schen Inferno als Basislager zu Swift, Orwell, Marx, Einstein, Freud, Kafka, Bunuel und Sylvia Plath bis Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard.
Das ist der zweite Teil, und er endet so: „Als ich in der Nacht erwachte – auf der Lehne einer Holzbank vor Sybilla Merians Haus –, besaß ich wieder mein Gefieder. Ich blickte hinauf zum glitzernden Sternenhimmel, und mir war, als würd ich in meinen eigenen Kopf schauen, der voll Gedanken war.“ Der erste Teil ist wahrhaftig „Mein Tod“ überschrieben, und der zweite ist nicht das Ende, denn er führt an die Schwelle des dritten, von dem nur der Titel existiert: „Die Flussreise“, weiß Gott, wohin die geführt hätte.
An der Schwelle des Todes
Wohin, weiß auch die Witwe, Senta Roth, nicht zu benennen. Aber zur Genesis kann sie Erhellendes betragen. Mitte 2021 schon, während „Die Imker“ vom Verlag zum Druck vorbereitet wurden, hatte er die „Jenseitsreise“ angetreten. Er führte keine Notizbücher, berichtigt Senta Roth, sondern Schreibhefte des Formats DIN A5. Dort war das nun Erschienene schon weitgehend publizierbar niedergeschrieben. Die fachkundige Assistentin, der er zuvor alle seine Texte diktiert hatte, war mit seiner Handschrift ausreichend vertraut, so dass dann nur noch eine Korrekturphase vonnöten war.
Eine Woche vor seinem Tod forderten indes „Die Imker“ finale Aufmerksamkeit. Das Telefonat mit dem Herausgeber Jürgen Hosemann dauerte drei Stunden, bis der an komplizierte Klientel gewöhnte Verlagsmann erschöpft eine Kaffeepause forderte. „Gut, eine halbe Stunde“, willigte Roth ein und sagte dann zu seiner Frau: „Komisch, der ist ja viel jünger als ich.“
Nach zwei weiteren Korrekturstunden schrieb er dann noch einige Sätze aus der „Jenseitsreise“, klappte das Schreibheft zu und sagte: „Wenn ich vom Krankenhaus komme, schreibe ich es weiter.“ Im Grazer Klinikum wartete eine weitere Magenkrebsoperation. 2019 hatte ihn, der sich nach einem abgebrochenen Medizinstudium sein Leben lang vor Krankheit ängstigte, das Verhängnis erfasst. Die Chemotherapie hatte er schnell abgebrochen, aber der Weg schien gangbar, bis drei Jahre später wieder rasches Eingreifen notwendig wurde.
Der neue Tumor wurde im Februar 2022 problemlos entfernt, der Chirurg prognostizierte dem Rastlosen halbwegs unbeeinträchtigtes Weiterarbeiten, Roth war voller Optimismus. Da brach am 6. Februar solch ein ungeheurer Schlaganfall über ihn herein, dass keine Therapie möglich war. Zwei Tage später war es vorbei.
Und jetzt? Ist Senta Roth plötzlich in der Situation, nach einem halben Jahrhundert im Hintergrund (der namhafte Regisseur Thomas Roth entstammt der ersten Ehe des Schriftstellers) ein auch quantitativ ungeheures Vermächtnis zu verwalten.
Allein in den beiden stadtparknahen Wiener Mietwohnungen warteten 22.000 Bücher. Die waren per Vorlass schon lang an das Grazer Franz-Nabl-Institut gegangen, aber dort baute man sich zwischenzeitlich eine eigene Bibliothek auf, so dass Roths Konvolut, hinsichtlich seiner ursprünglichen Aufstellung genau dokumentiert, jetzt in Kisten in der Grazer Uni lagert. Auch das Anwesen in Obergreith ist voll von Büchern, dazu eine Wohnung im Pfarrhof, die Roth zu ebendiesem Zweck gemietet hatte. „Im Moment zahle ich Miete für 15.000 Bücher“, sagt Senta Roth, die es gleichwohl nicht über sich bringt, einen der Wohnsitze aufzulösen.
Und jetzt? Gibt es noch zwei Tagebücher aus der Frühzeit, als der Sohn eines Grazer Arztes gerade nach Wien übersiedelt war. Eine große Zeit war das, auch wegen der Nähe zu Bruno Kreisky und anderen Großen. Die Tagebücher bleiben vorerst unveröffentlicht.
„Ein freundlicher Maniac“
„Ich vermisse ihn sehr“, sagt Senta Roth. „Er war ein so geistvoller Mensch.“ Die zwei finalen Krebsjahre waren hart: immer das Hoffen, dass der nächste Tag erträglich sei. „Wenn du einen Menschen liebst und merkst, dass es ihm langsam immer schlechter geht, ist das schwer“, sagt sie. Und dass nun die sieben Katzen das Glück seien, das ihr verblieb. Während des Telefonats liegt Gerhard Roths Lieblingskater auf dem Schoß seiner Besitzerin. Den Platz, der seiner war, wenn Roth schrieb, hat er sich zögernd zurückgeholt. Einen Monat lang saß er nur wartend vor dem Sofa, als der Herr nicht wiederkam.
War Gerhard Roth, dessen Roman die Spuren von Zeit und Raum verlässt, ein Esoteriker? Nicht im religiösen Sinn, sagt Senta Roth. Aber er sei überzeugt gewesen, dass es Zufälle nicht gebe und der Tod ein endloser Schlaf ohne Erwachen sei. Im Romanfragment stürzt sich Lindner vom Steinbruch, der vom Roth-Anwesen mit freiem Auge auszunehmen ist. Roth liebte diesen Platz und besuchte ihn oft, er wollte zum Achtziger, den er nicht mehr erreichte, dort mit Freunden ein Glas Wein trinken.
Nach Wolfgang Bauer, der sich schon 2005 zu Tode gelebt hatte, ist er als Zweiter der österreichischen Gigantengeneration gegangen. Aber welch ein Privileg ist die Zeitgenossenschaft von Peter Handke, Peter Turrini und Elfriede Jelinek, die alle auf der Höhe ihres Schaffens stehen!
„Er war ein freundlicher Maniac, besessen von seiner Arbeit, vom Sehen und Weltwahrnehmen“, rühmt der Künstler Erwin Wurm, der Roth für das Titelblatt des Romans porträtierte. „Er war durch und durch ein Künstler, ein Schauender, Weltaufnehmender, der das Gesehene in seinem Werk wiedergegeben hat. Er verlässt die Realität, kommt auf andere, phantastische, surreale Fährten und Wege. Das ist eine Methode, die mir bekannt ist und die ich schätze.“
Sagt der eine Weltwanderer über den anderen, den Reisegefährten in die Zeitlosigkeit.
Das Buch
Gerhard Roths lebenslanger Protagonist Franz Lindner tritt die „Jenseitsreise“ * an. Roths hinterlassenes, 412 Seiten starkes Romanfragment schleudert den Leser durch Zeit und Raum. Großartig! S. Fischer, € 27,50
Jenseitsreise: Roman
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 24/2024 erschienen.
Dieser Beitrag enthält Affiliate-Links. Wenn Sie auf einen solchen klicken und über diesen einkaufen, bekommen wir von dem betreffenden Online-Shop oder Anbieter eine Provision. Für Sie verändert sich der Preis nicht.