Expressiv und kraftvoll gestaltet sich die malerische Bildsprache des in Mexiko geborenen österreichischen Künstlers Enrique Fuentes. Stets getrieben, ein Narrativ zu finden, erstreckt sich sein Suchradius zwischen den Fixpunkten der Zeichnung, Farbe und Abstraktion.
Video: Atelierbesuch bei Enrique Fuentes
© VGN | Osama Rasheed
Gedimmtes Licht verliert sich sanft im meterhohen Deckengewölbe. Der schummrige Schein der hier ganztägig innewohnenden Dämmerung eröffnet einen vagen Blick auf das Ungewöhnliche: eine in einem Schaukasten präparierte Gottesanbeterin, die allem Anschein nach im unmittelbaren Moment des Abfluges unsterblich wurde. Der Panzer einer Meeresschildkröte, die ganz selbstverständlich die Hälfte eines der drei Sofas beansprucht. Toleriert vom wachsamen Auge der weißen Schnabelmaske, die das Antlitz einer Büste verdeckt. Untermalt wird die Szenerie von Beethovens „Mondscheinsonate“, die man virtuos dem in die Jahre gekommenen Flügel im Eck entlockt. Das leichte Knarzen des Pedals und das längst überfällige Nachstimmen tun der Stimmung keinen Abbruch – im Gegenteil.
Was beinahe den Eindruck erweckt, als hätte man sich in einem Kuriositätenkabinett verloren, ist in Wahrheit ein harmloses Wohnatelier. Die Arbeiten, die imposant an den Wänden hängend und lehnend die Grenzen des Raumes aufzeigen, laden nicht weniger zum Staunen ein als ihre skurrilen Mitbewohner. Das eine dient zumeist der Inspiration des anderen – für beides verantwortlich: Enrique Fuentes.
Die Frage nach der Heimat
Die zusammengetragenen Preziosen sind Souvenirs zahlreicher Reisen und Beweis dafür, dass es sich bei dem gebürtigen Mexikaner um einen waschechten Kosmopoliten handelt. Sieben Sprachen spricht Fuentes. Die eine Heimat gibt es in seiner Welt nicht. „Der Heimatbegriff ist für mich ein weitgefasster, das sind Orte, die ich nach einer gewissen Zeit beginne zu vermissen – wo es mich immer wieder aufs Neue hinzieht. Heimat ist immer da, wo ich mich gerade aufhalte“, erklärt der 44-Jährige, der ziemlich genau jedes Drittel seines Lebens in unterschiedlichen Kulturen verbrachte. Aktuell fühlt er sich am ehesten als Österreicher. Als Beweis dafür deutet er selbstironisch einen Schuhplattler an, was gänzlich mit seinem Erscheinungsbild – dem Künstlerhabitus inklusive getönter Brille, Nasenpiercing und zu einem willkürlichen Zopf gebändigter mexikanischer Mähne – konkurriert.
Die Selbstidentifikation kann morgen jedoch schon wieder eine andere sein. In drei Wochen ist sie es allerspätestens. „Länger halte ich es selten an einem Ort aus – der Tapetenwechsel ist unverzichtbar.“ Für sein Wohlbefinden und seine Kunst. Denn die Orte, an denen sich Fuentes aufhält, haben unmittelbaren Einfluss auf seine Arbeit. „Der Rhythmus der Musik ist überall ein anderer – man tanzt anders. So ist es auch mit der Malerei.“


© Enrique Fuentes, beigestellt
Künstlerische Prägung
Wie er zu dieser oder zur Kunst ganz allgemein gefunden hat? „Mit etwa sechs Jahren habe ich schlaflose Nächte am Schreibtisch verbracht – zeichnend“, erinnert er sich. Während andere Eltern dem Umstand wohl rasch ein Ende bereitet hätten, stieß man in der „Casa Fuentes“ auf Toleranz. Der eine Bruder ist Komponist, der andere Schriftsteller.
Aufgewachsen ist Fuentes umgeben von Musik und Literatur. Sein Klavierspiel ist Zeugnis dieser Sensibilisierung – seine Malerei das Ergebnis eines interdisziplinären Zusammenwirkens unterschiedlicher Kunstrichtungen: „So sind es in der Literatur etwa Ingeborg Bachmann und Charles Baudelaire, im Film Jean-Luc Godard und in der Musik György Ligeti, die mich und damit auch meinen künstlerischen Zugang, mein Werk, prägten.“ Seine Inspiration findet er im jeweiligen Schaffensprozess per se. Malerisch ist er als Kind der 80er-Jahre, aufgewachsen in Mexiko, geprägt vom abstrakten Expressionismus Amerikas. Ein Blick zu den Wurzeln seines Œuvres zeigt diese frühe Prägung in Form flächigen Farbauftrags, der an die Bildsprache Willem de Koonings erinnert.
Meine Malerei ist eine Art choreografierter Tanz – ich liebe es, wenn die Bewegung die Linie formt
Paris – zwischen Kunst und Liebe
1998 überquert Fuentes mit 17 Jahren den großen Teich – erster Halt seiner Europareise: Paris. Es ist das erste Mal seines Lebens, als er im Musée Picasso Paris vor einem tatsächlichen Gemälde steht. „Ein emotionaler Moment“, erinnert er sich. „Von Büchern und Drucken einmal abgesehen, war das meine erste Begegnung mit Kunst – ich stand da und habe geweint.“ Die Entscheidung, dass Paris künftig seine künstlerische Heimat werden soll, ist damit gefallen. Das Ziel: École nationale supérieure des beaux-arts de Paris.
Dank akribischer Vorbereitung an einer kleineren Kunstschule meistert er als erster Mexikaner in der Geschichte die Hürde des Aufnahmeverfahrens. Die französische Schule lehrt ihn während der folgenden acht Jahre den Umgang mit der Farbigkeit alter Meister und die technische Finesse des Handwerks. Um seinen Erfahrungshorziont zu erweitern, zieht es ihn ein Jahr nach Tokio – er vertieft sein vorangegangenes Studium der Sprache und erweitert sein künstlerisches Repertoire um das Medium Papier sowie um die Technik der Kalligrafie. Das Erleben neuer Kulturen wird zur Angewohnheit, die bleiben soll.


Gemeinschaftsarbeit. Mit Günter Brus entstand 2012 der Werkzyklus „Catrina die Große“
© Enrique Fuentes, beigestelltVon Rainer und Brus
Für die künstlerische Genese Fuentes’ sind seine Jahre in Österreich von größter Bedeutung. Auch sie finden ihren Anfang in Paris: Er trifft auf Arnulf Rainer, Begründer des österreichischen Informel und „Über-Maler“. Rainer wird schließlich zum Mentor Fuentes’ – ab 2005 wird Fuentes zum wohl bedeutendsten Assistenten Rainers und 2009 für drei Jahres zum Ehemann dessen Tochter. „Sechs Monate verbrachte ich Jahr für Jahr mit Rainer in dessen Atelier auf Teneriffa.“
Später werden der Aktionskünstler Günter Brus und dessen Frau Anna zu Fuentes’ Mentoren. Für die kommenden Jahre wird Graz somit zum neuen Lebensmittelpunkt, Brus zu einer Art künstlerischer Vaterfigur, der er bis zu seinem Tod im Frühjahr letzten Jahres treu bleibt. Er war es auch, der Fuentes in seinem grafischen Talent bestärkte, das er in zahlreichen Zusammenarbeiten mit seinem aktionistischen „Ziehvater“ in Werkzyklen wie etwa „Catrina die Große“ unter Beweis stellt.


2022 endet Fuentes' Kreuzweg, "Via Crucis", in der 9 x 4 Meter großen Arbeit "Die Auferstehung", die den Hauptaltar des Wiener Stephansdom verdeckt.
© Jenni KollerTonalität des Abstrakten
So entwickelt Fuentes schließlich seine eigene Bildsprache, die sich – mal mehr, mal weniger – Ausdrucksmittel seiner Lehrmeister zunutze macht. Epigonal ist seine Arbeit aber keinesfalls. „Solltest du jemanden kopieren, dann kopiere stets die Besten“, lacht er und beruft sich auf ein Zitat Picassos. Von Kopieren kann bei Fuentes aber keine Rede sein. Vielmehr sind es fragmentarische Einflüsse, die von Zeit zu Zeit auftauchen. Sein Malprozess, der im lichtdurchfluteten Atelier nebenan – das bei Bedarf zum Basketballplatz umfunktioniert wird – stattfindet, ist letztlich ein intrinsischer, zumeist intimer.
In Zweisamkeit findet die Ölfarbe ihren Weg in gestisch-expressiven Bewegungen auf den Bildträger, wird geschüttet, gepinselt oder mit bloßer Hand aufgetragen und so gewissermaßen zum Abbild seines emotionalen Ist-Zustands. Stets unter der Getriebenheit des lateinamerikanischen Temperaments. Der Bewegungsradius bestimmt das Format: „Ich verstehe meine Malerei als eine Art choreografierten Tanz und liebe es, wenn die Bewegung die Linie formt“, bekennt er seine Liebe zum Großformat. Kulturelle Veranlagung? Gut möglich: „Die in Mexiko entstandene und den kunsthistorischen Kanon beeinflussende Wandmalerei ist gewissermaßen Teil meiner DNA“, scherzt er. Der wohl beste Beweis dafür: 2022 führt Fuentes’ Kreuzweg, „Via Crucis“, mit seiner letzten Kreuzwegstation in den Wiener Stephansdom – ein monumentales Ölgemälde im Ausmaß von neun mal vier Metern verdeckt dort den imposanten Hauptaltar.
Das Kleinformat ist für Fuentes vielmehr ein Diktat. Die Vorskizze später auf eine große Leinwand zu übersetzen, ist ausgeschlossen. Viel zu wichtig ist ihm das Unmittelbare in der Entstehung. „Eine Skizze muss Skizze bleiben“, plädiert er.
Das Dreibein seiner Kunst
Formatunabhängig erstreckt sich der künstlerische Radius seines vielschichtigen Œuvres über die Fixpunkte der Malerei, Zeichnung und Philosophie. „Ein dreibeiniges Stativ“, holt er aus. „Zwei Beine sorgen noch nicht für einen festen Stand.“ Ähnlich dem Prinzip der Kartografie: „Erst der dritte Festpunkt sorgt für Orientierung.“
Orientierung, die Fuentes braucht, um seine Geschichten zu erzählen. „Als Künstler bin ich stets getrieben, ein Narrativ zu entwickeln.“ Das Ende seiner Geschichten kennt er im Regelfall nicht: Entzieht sich die Geschichte eines Bildes seiner Kenntnis, seinem Wissen, ist es fertig. Ein Kind, das er nach seinem Lieblingsbild fragte, begründete seine Entscheidung: „Weil ich es nicht verstehe.“ Deshalb forscht Fuentes an Themen, die ihm in ihrer Tiefe zumeist unbekannt sind. Zwei Jahre arbeitet er durchschnittlich – zyklisch – an seinen Themen. „Bis die Liebe abflaut und ich mich letztlich gänzlich entliebe“, zieht der Künstler den Vergleich zu einer amourösen Beziehung. „Bin ich im Kopf schon bereits beim nächsten Thema meiner Kunst, muss ich einen Schlussstrich ziehen.“ Bereit für die nächste Amour fou.
Kulturtipp
Bis 2. März sind Fuentes‘ Arbeiten in einer Einzelausstellung im Schütz Art Museum zu sehen.
Die „Collector’s Choice“ im Museum Angerlehner zeigt diese noch bis 30. März im Rahmen einer Gruppenausstellung gemeinsam mit Positionen wie Jungwirth, Brandl und Brus.
Im Rahmen der Kunstmesse „Art at the Park“ zeigt die Galerie artmoments noch bis 23. Februar eine Einzelpräsentation von Fuentes.