Er zählt zu den weltbesten Radiologen und ist der Vater der Mikrotherapie. Nun hat Dietrich Grönemeyer die Angst als Auslöser schwerer Krankheiten ins Visier genommen. Er beschreibt, wie Konfrontation Heilung bringen kann und fordert mehr Zeit für Patientengespräche. Wie sein Bruder, der Sänger Herbert Grönemeyer, blickt er trotz privater Schicksalsschläge zuversichtlich aufs Leben
Sie hatten als Kind große Angst vor Ärzten. Einmal wurden Sie ohnmächtig, weil Sie eine Spritze bekommen sollten. Trotzdem sind Sie Mediziner geworden. Warum?
Das hat mit meiner Überwindung dieser Angst zu tun. Ich habe in meiner Kindheit wirklich traumatische Erlebnisse gehabt. Mit mir wurde zum Beispiel bei Arztbesuchen kaum gesprochen darüber, was da passiert. Ich erinnere mich an dunkle Röntgenräume und Behandlungen mit damals noch selbst geschliffenen Spritzen. Unfassbar schmerzhaft. Dann dachte ich, jetzt helfe ich mit, dies zu ändern. In diesem Moment hat sich meine Angst verändert, weil ich sie verstanden habe. Ich habe sie genutzt und dadurch überwunden.
Ein Idealzustand! Hilft es, sich im ersten Schritt klarzumachen, dass Angst sinnvoll ist?
Ja. Angst hilft uns, auf Bedrohungen angemessen zu reagieren, entweder mit Flucht oder mit Totstellen. Denken Sie daran, wie Mäuse sich tot stellen, wenn die Katze sie ins Haus bringt. Nur um im passenden Moment weg zu springen. Angst ist ein Nutzen für Lebewesen. Aber sie kann auch zur Hölle werden und so bedrohlich, dass sie uns sozial, körperlich und mental einschränkt und auch chronisch krank machen kann.
Wie geht man mit Angst um, sodass sie keinen Schaden verursacht?
Mit Konfrontation. Das ist auch die wichtigste Therapieform bei Panikattacken. Wenn einfache Hilfsmittel zur Beruhigung nicht funktionieren wie zum Beispiel Bewegung oder Atemtechniken, dann gilt es, sich seiner Angst zu stellen, auch mit ärztlicher oder psychologischer Hilfe.
Heißt das im ersten Schritt, sich zu verdeutlichen, wovor man sich fürchtet?
Ja, und es erfordert unglaublich viel Mut, sich die Frage zu stellen: Was bedroht mich so, dass ich Schweißausbrüche, Herzrasen, Gedankenaussetzer bekomme? Eine weitere Methode, die Therapeuten anwenden, ist Exposition. Hat jemand Platzangst, geht man auf Plätze oder in Menschenmassen. Diesbezüglich habe ich ein persönliches Beispiel ...
Bitte schön!
Ich stürzte vor 30 Jahren in den Bergen zehn Meter in die Tiefe ab. Ich schlug am Boden auf, mein Fuß verdrehte sich. Ich versuchte in meiner Beklopptheit, den Fuß einzurenken. Ist mir gelungen! Dann war da Panik: Jetzt stirbst du wahrscheinlich, weil dich hier keiner findet. Ich wurde gerettet, und mit monatelangem Training ist alles wieder gut geworden. Aber: Ich hatte plötzlich panische Angst vor dem Fliegen. Mit jedem Ruckeln im Flugzeug kamen der Sturz und die Angst zurück. Trotzdem bin ich geflogen. Ich habe mich konfrontiert. Ich bin auch den Weg in diesen Canyon später wieder gewandert, auch an der Absturzstelle vorbei. So habe ich am Ende meine Angst überwunden.
Und das gelingt jedem dauerhaft?
Nein, es ist eine Möglichkeit. Ängste können immer wieder auftreten. Letztens bin ich mit meinem Sohn Achterbahn gefahren, das war für mich die Hölle!
DIETRICH GRÖNEMEYER
wuchs als ältester von drei Brüdern in Bochum auf. Der Humanmediziner und emeritierte Lehrstuhlinhaber für Radiologie und Mikrotherapie der Universität Witten/ Herdecke zählt in der Radiologie zu den weltweit führenden Kapazitäten. Er ist Verfechter der Weltmedizin, einer Integration von Natur-und Schulmedizin inkl. der psychosomatisch-sozialen, der Hightech-und Umweltmedizin. 1997 gründete er das Grönemeyer Institut für Mikrotherapie in Bochum und Berlin. Er ist vielfacher Autor und dreifacher Vater.
Kann man sich auf die Konfrontation mit seiner Angst vorbereiten? Was kann man tun, bevor man sich in die Angst-Situation wagt?
Zum Beispiel mentale Vorbereitung, wie es Profisportler machen, wenn sie sich eine Skiabfahrt oder eine Bobfahrt immer wieder vorstellen. Man stellt sich vor, wie die ideale Linie aussieht und wie man mit den Beschaffenheiten umgeht. Eine andere Form der Vorbereitung ist, Ruhe zu finden. Durch Atemtechnik zum Beispiel mit der 4-7-11-Regel: Vier Sekunden einatmen, sieben Sekunden Luft anhalten, elf Sekunden ausatmen. Das ist eine Technik, die ich selbst gerne anwende. Es hilft auch, sich ans Ohrläppchen zu fassen. Den Parasympathikus zu aktivieren, schafft Ruhe. Wo Angst zu einer chronischen Störung wird, braucht man professionelle Hilfe. Damit meine ich, jemanden zu finden, der zuhört.
Zuhören hat in Ihrer Arbeit als Arzt einen besonderen Stellenwert. Sie beschreiben in Ihrem Buch, dass Angst Muskelverspannungen verursachen kann, die sich anfühlen wie ein Bandscheibenvorfall, dass Angst zu einem erhöhten Blutzuckerspiegel führen kann und infektionsanfällig macht. Solche Ängste als Auslöser erkunden Sie im Gespräch mit Patienten. Wie schwierig ist es denn, Angst als Auslöser solcher Symptome zu identifizieren?
Herausfordernd. Vor allem in einem System der Zwei-Minuten-Medizin, die keine Zeit für die wichtigen Fragen lässt, die man stellen müsste: "Gibt es Situationen, in denen der Schmerz besonders stark ist? Haben Sie etwas erlebt, das Linderung bringt?" Deshalb fordere ich seit langer Zeit die Aufwertung des Gesprächs in der Medizin. Wir Mediziner arbeiten meistens sehr körperorientiert und nutzen Technik und medikamentöse Behandlung, um auf der körperlichen Ebene Ruhe zu finden. Aber eine zielführende Behandlung braucht die mentale und die emotionale Ebene. Und die braucht Zeit. Deswegen müsste ein Gespräch genauso abgerechnet werden wie ein CT oder eine kernspintomografische Untersuchung. Dann könnten wir eine andere Art von Medizin schaffen, die auf viele Behandlungsverfahren technischer oder medikamentöser Art verzichten kann.
Wie reagieren Patientinnen und Patienten auf Fragen nach Ängsten als Ursache? Machen da alle gerne mit?
Ich nehme es so wahr, ja. Wenn jemand merkt, es wird ihm zugehört, öffnet er sich und beginnt zu erzählen. Dann findet sich bald der Ansatz der Angst, die hinter dem Schmerz liegt. Ich arbeite vor allem im Bereich von Rückenschmerzen, denen häufig Depressionen zugrunde liegen. Durch das Wegducken-Wollen und Nicht-wegducken-Können wird die Last auf Schultern und Wirbelsäule groß. Wenn ich das als Arzt verstehe, habe ich den Ansatzpunkt, um Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten.
Ist der nächste Schritt für Patient oder Patientin dann Psychotherapie?
Nicht unbedingt. Zuerst muss man die Ärztin oder den Arzt des Vertrauens finden, jemanden, der dich versteht und deine Sprache spricht. Diese Ärztin oder dieser Arzt ist je nach Bedarf mit Kolleginnen und Kollegen aus vielen Bereichen wie Ernährung, Psychologie oder Naturheilkunde verbunden. Dann bin ich als Patientin oder Patient in einem fürsorglichen Team gelandet. Du musst deine Symptome und deine Ängste verstehen, du musst wissen, was du tun kannst. Das hat mit Bildung und Aufklärung zu tun und mit medizinischer Unterstützung.
Hatten Sie als Arzt schon immer einen ganzheitlichen Ansatz?
Ich bin in der sechsten Generation Arzt und in einer Familie von Ärzten aufgewachsen, in der sich Schulmediziner und Naturheilkundler nicht immer einig waren. Das hat genervt. Aber so habe ich gelernt, dass man einfache Schmerzen erst mal auch einfach behandeln kann. Virale und bakterielle Erkrankungen wie Husten, Schnupfen, Heiserkeit, Grippe kann man mit Thymianextrakten behandeln, die antiviral und antibakteriell wirken. Auch mit der Rolle der Ernährung bin ich früh konfrontiert worden. Meine Mutter war eine tolle Köchin. Kurkuma spielte bei uns eine große Rolle. Heute wissen wir, dass Kurkuma bei Arthritis und Gelenksbeschwerden genauso gut wirken kann wie manch herkömmliches Schmerzmittel. Man kann ruhig mit einfachen Dingen anfangen wie Naturheilkunde, Massagen, Akupunktur. Man muss es nur tun.
Heute kommen Ängste auch aus diffusen Bereichen - Angst vor Jobverlust, Angst vor Kriegen, die bedrohlich erlebt werden, Angst vor sozialem Unfrieden oder Klimawandel. Sind solche Ängste schwieriger zu behandeln als die konkrete Angst, nachdem man vom Berg gestürzt ist?
Es ist schwieriger, weil die Überlast, die Sie nennen, sich langsam einschleicht. Studien haben gezeigt, dass alles, was man selbst konkret als Tragik erlebt, Angst machen kann. Wer sich konkret bedroht fühlt, auch durch unterschwellige Botschaften - mental, sozial, körperlich -, kann mit panischer Angst reagieren. Und die kann krank machen.
Was fehlt Ihnen diesbezüglich seitens der Politik?
Mir fehlen als Arzt, der das täglich macht, die Gespräche mit Menschen in extremer Not. Ich rede mit allen, egal, ob rechts, links oder Mitte. Ich höre zu, und ich lerne. Ich lerne auch viel von Menschen, die anderer Meinung sind. Dafür muss man offen sein.
Ich versuche, Frieden zu schaffen. Damit meine ich, dass Menschen erkennen, dass sie selbst die wahre Instanz sind. Du bist einzigartig. Du weißt, was du kannst, was du vielleicht nicht kannst. Sei mutig. Versuche, mit kleinen Schritten den nächsten Schritt zu gehen. Sei zufrieden, guck nicht auf den anderen, sondern in dich und gib diese Haltung weiter. Das ist meine Haltung zum Leben. Wir leben in einer Welt voller Möglichkeiten. In der Medizin haben wir Hightech, Naturheilkunde, Psychologie, Psychosomatik, Sozialmedizin, Umweltmedizin, wir haben die Zutaten. Das gilt in der Politik genauso. Wir leben in der besten aller Welten und zerstören sie, indem wir Menschen, die unserer Haltung fern sind, nicht ernst nehmen.
Sie beschreiben in Ihrem Buch auch, wie Sie vor über 20 Jahren Ihren Bruder Willy als Arzt begleitet haben. Er starb an Lymphknotenkrebs. Als Mensch und Arzt haben Sie damals Ihre wichtigste Lektion gelernt, sagen Sie. Wie gelang dieser nach vorne gerichtete Blick nach so einer dramatischen Erfahrung?
Als Arzt habe ich daraus gelernt, demütig zu werden. Ich entscheide nicht, wann jemand zur Welt kommt oder wann jemand aus dieser Welt ausscheidet. Aber ich habe die Möglichkeit, die Patientinnen und Patienten, in diesem Fall meinen Bruder, so individuell zu behandeln, dass sie möglichst lange wohlbefindlich leben. Denn auch ein chronisch kranker Mensch, ein krebskranker Mensch wie mein Bruder, möchte die letzte Zeit seines Lebens wohlbefindlich und selbstverantwortlich gestalten. Das habe ich gelernt, als mein Bruder mit 44 Jahren an Krebs gestorben ist. Das hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Dann ist da die Trauer, die eigene und die in der Familie. Die Suche, trotz allem wieder zu Kräften zu kommen. Ich habe mich gefragt: Was hat das Leben danach noch für eine Bedeutung? In diesem Moment habe ich erkannt, dass es ein Geschenk ist, leben zu dürfen. Es ist traurig, dass ich es nicht mehr mit meinem Bruder erleben kann. Wir waren uns extrem nah, er ist in meinen Gedanken tief verwurzelt und in meinem ganzen Leben ein Bestandteil geblieben, aber wir entscheiden nicht über einen Abschied, wir sind verantwortlich für die Kunst des Lebens.
Diese Kunst des Lebens ist bei Ihnen von einem zuversichtlichen Grundton geprägt. Ihre Bücher erzählen davon. Ihr Bruder Herbert Grönemeyer pflegt einen ähnlich optimistischen Blick auf die Welt. Entspringt das einer Kindheitsprägung? Dem Zufall? Ist er erarbeitet?
Es ist wohl eine Mischung aus Familie, Erziehung, Freunden, Dingen, mit denen man konfrontiert wurde, wie Sport oder Musik. Die Väter meiner Generation, der Nachkriegsgeneration, waren alle vom Krieg gezeichnet. Die haben geschrien und geschlagen, das war bei uns nicht anders. Die Mütter waren wie meine Mutter oft der Gegenpart, der uns liebevoll getragen hat. Es wurde viel gelacht bei uns zu Hause. Wir haben gesungen und Instrumente gespielt. Wir hatten auch gemeinsam eine private Hausband, Herbert, Willy und ich. Meine Eltern haben uns viel ermöglicht, und die Grundstimmung unserer jungen Jahre war eine auf Frieden ausgerichtete Aufbruchstimmung nach den Kriegen. Die fehlt der Gesellschaft heute, und die müssen wir wieder erzeugen. Das ist zu schaffen. Wir können unsere Zukunft selbst entwickeln, davon bin ich überzeugt.
DAS BUCH
In "Leben ohne Angst" hilft Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer, Angst zu verstehen, zu nutzen und zu überwinden. Ein Wegweiser für (mehr) Lebensfreude mit persönlichen Erfahrungen, medizinischer Expertise und konkreten, individuellen Strategien. (Ludwig Buchverlag)
Leben ohne Angst: Wie wir in schwierigen Zeiten innere Stärke und Zuversicht finden
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 37/2024 erschienen.
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