Die Bühnenlegende Otto Schenk ist heute im Alter von 94 Jahren verstorben. Heinz Sichrovsky über einen Maßstabsetzer, dessen Wirken in seiner Dimension schon fast aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden ist.
Über den dicht besetzten Reihen im Arkadenhof lag schon das Dunkel, aber das Licht von der Bühne war so intensiv, dass 1.200 Menschen aufsprangen und Beifall spendeten, viele unter Tränen. Wer am 7. September 2023 Zeuge war, wie der große, sehr große Schauspieler und Regisseur und Theaterdirektor Otto Schenk im Innenhof des Wiener Rathauses mit dem Österreichischen Musiktheaterpreis in der Unsterblichendisziplin für das Lebenswerk ausgezeichnet wurde, wird den Abend nicht vergessen.
Der alte Herr saß im Rollstuhl, das Sprechen wurde ihm schwer, aber das gab sich, denn die Wellen der Zuneigung trugen ihn in lichte Höhen der Beredsamkeit und der Selbstironie. Nicht viele konnten das: Menschen ergreifen, ohne sich ihnen anzudienen. Denn Otto Schenk, der am Donnerstagmorgen im gesegneten Alter von 94 Jahren gestorben ist, hat sich immer auch aus der Dialektik und Doppelbödigkeit des jüdischen Humors verstanden.
Was jetzt gefaselt wird, von Publikumsliebling, prototypischem Wiener und Pointenjongleur par excellence, verkörpert nicht einmal die Spitze eines vom Klimawandel devastierten Eisbergs: Gewiss, Schenk war ein Komödiant, einer der großen der österreichischen Theatergeschichte. Als kürzlich Robert Meyer und Herbert Föttinger in der Josefstadt mit Fortüne die „Sonny Boys“ gaben, referierten jeder Kritiker und zwei Drittel der Josefstadt-Besucher auf die Rollenvorgänger Schenk und Lohner. Aber dass er auch Harold Pinters „Hausmeister“, den alten Weiring in „Liebelei“, den Bockerer, den Salieri in „Amadeus“, die Uraufführung von Peter Turrinis „Liebe in Madagaskar“, zuletzt den Firs im „Kirschgarten“ gespielt hat, das wird schon vergessen.
Als er 1988 die von Todesfällen heimgesuchte Josefstadt mit Schnitzlers vivisektorischem Österreich-Befund „Professor Bernhardi“ übernahm, war das ein Zeichen der Erneuerung, bald auch in die Richtung der Gegenwartsdramatik. Dass Herbert Föttinger heute das vitalste Uraufführungstheater des Landes leitet, ist maßgeblich Schenk und seinem Nachfolger Helmuth Lohner zu danken.
Auch das Schauspielsegment der Salzburger Festspiele, das er bis 1988 leitete, blühte unter seiner Hand, wie man es heute nur erträumen könnte.
Streng und konsequent am Text
Zeit seiner Tätigkeit behängten ihn Mattbelichtete mit dem Diktum des Konservativen. Das war und bleibt Unsinn. Er arbeitete als Regisseur nur streng und konsequent am Text, auch, als eine Armee Zweit- und Drittklassiger das Postdramatische Theater zum Dogma erklärten.
Der Theatertext war ihm dabei so heilig wie der Notentext. Denn was überhaupt in Vergessenheit zu geraten droht, ist seine gewaltige Karriere als Opernregisseur, die ihn über Jahrzehnte durch die großen Häuser der Welt führte. Keiner hat es seit der Premiere anno 1968 gewagt, seinen mit Leonard Bernstein modellierten „Rosenkavalier“ aus dem Repertoire der Staatsoper zu eliminieren. Als das vor nicht so langer Zeit am Koproduktionsort München geschah, waren die Proteste ungeheuer. Aber noch verhalten angesichts des Sturms, der sich erhob, als die New Yorker Met seinen Wagner’schen „Ring“ ersetzte. In der Staatsoper bewährt sich unsinkbar sein „Liebestrank“. „Fidelio“, bekannterweise nicht seine beste Arbeit, wird nächstes Jahr durch eine Inszenierung des ebenfalls klug „konservativen“ Nikolaus Habjan ersetzt.
Der „Rosenkavalier“ war nicht die einzige Arbeit an der Wiener Staatsoper, mit der er bis auf weiteres uneinholbare Maßstäbe gesetzt hat. „Hoffmanns Erzählungen“ gerieten ihm zur Apotheose der deutschen Schwarzromantik, und wer in seiner „Lulu“ Anja Silja, Hans Hotter, Waldemar Kmentt und Gerhard Stolze erleben durfte, ist sich sicher, nie näher an Wedekind gewesen zu sein.
Vor zwei Jahren starb seine Ehefrau Renée, die für den Begabteren ihre Schauspielkarriere zurückgestellt und ihn mit oft eiserner Hand zur Arbeit diszipliniert hat. Er musste ihrem Verdämmern eine Ewigkeit lang zusehen. Sie beide, sagte er schon davor, hätten einander zugesichert, einander nicht lang zu überleben. Danke für jede Minute, die uns das Schicksal bis zur Einlösung geschenkt hat.
Zur Person
Otto Schenk wurde am 12. Juni 1930 in Wien geboren. Als Begünstigter einer „privilegierten Mischehe“ überstand er trotz des jüdischen Vaters das Nazi-Reich unbeschädigt, studierte am Reinhardt Seminar und wurde einer der erfolgreichsten Schauspieler auf der Bühne und im noch jungen Fernsehen. Ab 1957 war er einer der erfolgreichsten Theater- und Opernregisseure der Welt, 1988 bis 1997 leitete er die Josefstadt. Seine Frau Renée starb 2022. Sein Sohn Konstantin ist heute Gastronom. Am 9. Jänner starb die Bühnenlegende im Alter von 94 Jahren.