Das jährliche Klagenfurter Wettlesen braut sich schon wieder zusammen. Seit 26. Juni treten literarische Hoffnungen in Konkurrenz mit zelebrierter Kritikereitelkeit. Die aber oft auch das Richtige für gut erkannt hat
Dass die in Hamburg sesshafte, aber in Wien geborene und im Burgenland aufgewachsene Johanna Sebauer, 36, für Interviews nicht zur Verfügung steht, kann durchaus ein Mangel sein. Erstens ist ihr Roman "Nincshof" über eine dem Weltgetümmel entrückte Aussteigerkommune im Niemandsland ein beachtliches Stück Prosa. Vor allem aber wurde sie für das am 26. Juni beginnende Bachmann-Wettlesen vom österreichischen Juror Klaus Kastberger nominiert. Und der weiß meist, wen er in den Bewerb rückt. Die Preisträgerinnen der Jahre 2021 und 2022 kamen aus seinem Portfolio. Und hätte vor einem Jahr die Österreicherin Helena Adler antreten können, statt den im Jänner 2024 verlorenen Kampf gegen den Gehirntumor aufzunehmen, wäre kaum jemand um ihren atemberaubenden Text herumgekommen.
Aber Kastberger hat auch die Grazerin Ulrike Haidacher im Portfolio, die beim Vortrag im vertrauten Bereich zwischen Literatur und Kabarett Benefizien sammeln kann. Am vielleicht interessantesten ist freilich die Tatsache, dass der Germanist und Literaturkritiker Kastberger, 61, heuer den Jury-Vorsitz innehat. Nicht, dass das auf die Voten der Kollegen Einfluss hätte. Aber dass sich die Vorgängerin Insa Wilke im vergangenen Dezember nicht nur vom Vorsitz, sondern nach fünf Jahren auch gleich aus der Jury verabschiedete, könnte auch mit einem mittleren Eklat zu tun haben: Die von ihr nominierte Valeria Gordeev gewann im Vorjahr verdient, aber nicht unumstritten, vor der formidablen Österreicherin Anna Felnhofer. Es wäre im Finale zu einem Stechen gekommen, hätte Jurorin Wilke der favorisierten, von sämtlichen Kollegen hoch bewerteten Felnhofer nicht unelegant null Punkte zugedacht (wir haben als Einzige berichtet). Der interne Unmut war entsprechend. Zu Recht verärgert zeigte sich vor allem die österreichische Jurorin Brigitte Schwens-Harrant ("Furche"), deren Kandidatinnen, unter ihnen Anna Felnhofer, stets Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Heuer sind das die in Slowenien geborene Schriftstellerin und Violinistin Tamara Stajner und die gebürtige Wienerin Kaska Bryla, zweisprachig aufgewachsene und deutsch schreibende Tochter polnischer Eltern.
Die drei, die sich zu Interviews bereit erklärten, sind jedenfalls aller Obacht wert. Was ihnen bevorsteht, ist nach wie vor ebenso chancenreich wie riskant. Jeder der sieben Juroren aus Deutschland, Österreich und der Schweiz wählt aus Einsendungen (bisweilen auch nach eigener Recherche) zwei Kandidaten. Die tragen vor dem Publikum im Klagenfurter ORF-Zentrum ihre Texte vor. Doch die Aufmerksamkeit kommt traditionell der folgenden, mitunter eitel zerstörungsfreudigen Kritikerdiskussion zu.
Kaska Bryla: Den Sprachlosen eine Sprache geben
Die Wettbewerbstexte lagern, wohl aus dramaturgischen Gründen, bis zu ihrer Verlesung durch die Autoren unter Verschluss. Einschlägige Interviewfragen müssen also unter Androhung der Disqualifikation unbeantwortet bleiben.
Aber auch das, was von Kaska Bryla, 46, schon erschienen ist, würde jedes Interviewformat rechtfertigen: "Roter Affe" (2020) ist Prosa aus der Hölle. Der Schnitt nach der einleitenden herzenswarmen Kindheitsidylle kann härter nicht sein: Das Mädchen wurde Gefängnispsychiaterin und therapiert einen Mörder und Vergewaltiger. Und der Kindheitsidyllenbub ist verschwunden und hat mit allem zu tun.
Nein, sagt Kaska Bryla, in diesen psychopathologischen Extrembereichen wird sich ihr Klagenfurter Beitrag nicht aufhalten. Aber Psychologie und Kriminologie konnte sie am Schauplatz studieren: Sie hat in einem Leipziger Gefängnis für dort einsitzende Delinquenten Kurse in kreativem Schreiben gegeben. Was die Teilnehmer begangen hatten, wollte sie nicht wissen, extreme Täterprofile hätten den neutralen Zugang unmöglich gemacht.
Gab es da am Ende Talente zu entdecken? Solche wie den späteren Massenmörder Jack Unterweger? Von solch naiven Vorstellungen müsse man sich verabschieden, sagt sie. Lautes Lesen, um das Gelesene überhaupt erst verstehbar zu machen, sei integraler Bestandteil des Kurses gewesen. "Der andere Teil war, den Menschen über das Mittel der Imagination ein Werkzeug in die Hand zu geben, sich selbst anders denken zu lernen." So hat sie es auch in ihren Kreativitätskursen für schwer traumatisierte Flüchtlingsfrauen gehalten.
Mit mehreren Projekten hat sie sich das Problemfeld des politischen Schreibens erschlossen. Was das ist? Nicht, sich tagespolitisch zu erklären, sondern den Zugang zu gesellschaftspolitischen Fragestellungen zu öffnen. Zur Minderheiten- und zur Frauenliteratur vor allem. Aber wird man denn derzeit nicht mit beidem förmlich überschüttet? Stimmt, räumt sie ein, aber zwischen dem unbestreitbaren Boom und gründlicher Veränderung bestehe ein Unterschied. Frauen seien, auch im Literaturbetrieb, finanziell und als Führungspersönlichkeiten benachteiligt. Und die Quoten, etwas doch in sich Kunstfremdes? "Sind wichtig, bis eine echte Gleichberechtigung hergestellt ist."
Roter Affe
Tamara Stajner: Die 100 Farben der Musik
Am Abend des Gesprächs, erzählt die gebürtige Slowenin Tamara Stajner, 36, tritt wieder die zweite Existenz in Kraft. Ehe die erste – die literarische – in Klagenfurt machtvoll ihr Vorrecht behauptet: Am Abend tritt die in Wien akademisch ausgebildete Bratscherin als Mitglied des Orchesters Wiener Akademie unter Martin Haselböck beim Liszt-Festival in Raiding auf.
Musik und Literatur vereint sie in ihren interdisziplinären Lyrik-Performances: ein unendliches Thema speziell im Österreichischen, wo die Sätze meist ein wenig melodischer ausschwingen als anderswo. Thomas Bernhard wollte Musiker werden, seine Sprechpartituren folgen klassischen Bauprinzipien. Und Elfriede Jelinek ist zertifizierte Organistin. Das Thema setzt die junge slowenisch-österreichische Kollegin sofort in Feuer: Ihre Magisterarbeit galt der Ergründung des Musikalischen in Jelineks Werk! "Ich durfte dafür ein Interview mit ihr machen. Sie war schon in Slowenien meine erste große Faszination mit Wien." Als sie 15 war, sah sie im Fernsehen die Verfilmung der "Klavierspielerin", las daraufhin über längere Zeit nur Jelinek und wollte selbst Schriftstellerin werden.
Die Literaturprofessorin im Gymnasium schickte das musikalisch hochbegabte Kind nach Wien. "Studier Musik", sagte sie. "Die Worte werden auf dich warten." Das war ein lebensverändernder Satz, wie der des legendären Bratschenlehrers Siegfried Führlinger, der seine Schüler zu Hause empfing, an der Adresse Beatrixgasse 26, wo zuvor Ingeborg Bachmann gewohnt hatte: "Versuch immer, die Klangfarben zu wechseln. So hältst du die Zuhörer wach. Das", sagt Tamara Stajner, "tue ich unbewusst auch in der Sprache."
Neben dem Musikstudium schrieb sie kleine Gedichte auf Slowenisch und beschloss dann über Nacht, auf die deutsche Sprache umzusteigen, dieses vielfarbige, verzaubernde, noch gar nicht beherrschte Instrument. Absichtlich habe sie das slowenische Studentenheim in Wien gemieden und die Internationalität gewählt, die sie jetzt in Orchestern und Kammermusikformationen lebt. Daher war der Zustand des Sesshaftwerdens ein tendenziell freudvoller. Er ist auch Gegenstand ihres Romans "Raupenfell" (2023): Drei Frauen aus verschiedenen Ecken Europas verarbeiten am Brennpunkt Wien ihre teils bizarren Biografien.
Dass während der Pandemie die Musik verstummen musste, hatte das Literarische wieder mehr in Gang gesetzt. Als Mitbegründerin des PEN Berlin lebt sie mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Paul-Henri Campbell, in Deutschland und Wien. Ein Kind hätte sie gern, beantwortet sie die vorsichtige Frage, die leicht harsche Sexismusvorwürfe nach sich ziehen könnte. Aber eben nicht in ihrem Fall, denn wo könnte die Freiheit größer sein als in den benachbarten Galaxien der Literatur und der Musik?
Raupenfell
Ulrike Haidacher: Giftiger Witz mit Sperrfrist Ende Juli
Bei der Grazerin Ulrike Haidacher, 39, ist manches anders, als die literarische Legislative es vorsieht. Der Roman zum Beispiel, aus dem sie in Klagenfurt eine Passage vortragen wird, ist schon gedruckt. Er heißt "Malibu Orange" (benannt nach einem tendenziell magenhebenden Partygetränk) und ist mit Sperrfrist 28. Juli vom Leykam-Verlag an die Redaktionen gegangen.
Hat man sich allerdings, zusehends amüsiert und beeindruckt, auf Seite 184 vorgearbeitet, taucht man unter der Kapitelüberschrift "Fasching" in das geschwärzte Meer ein. In Klagenfurt wird offenbar werden, was hier unkenntlich gemacht wurde in der Geschichte zweier Freundinnen. Deren erste, Anfang 30, hat sich aus der heillosen Zeit in ihr altes Provinzkinderzimmer zurückgezogen. Da steht plötzlich die andere vor der Tür, und mit ihr ein zutiefst suspekter Lebensgefährte namens Volker, der ihr offenbar nicht guttut, denn sie verfällt unter den Augen der zusehends besorgten Freundin und entrückt mit dem Subjekt endlich ins unwegsame Hochland.
Was tun?, fragt sich die Hinterbliebene. Einmischen? Aber mit welchem Recht? Genau das ist die Frage, bestätigt Ulrike Haidacher. "Bilde ich mir nur etwas ein, und es ist ohnehin alles normal? Das versuche ich aus einer feministischen Perspektive zu beantworten." Das heißt? "Ich versuche, bestimmte Ungerechtigkeiten und Strukturen zu thematisieren, aber nicht in der oft schon kommerzialisierten Form, sondern in einer Sprache ohne die hohlen Phrasen, die ständig verwendet werden." "Toxische Männlichkeit" etwa werde man bei ihr nicht zu lesen bekommen. "Und es ist mir wichtig, differenziert zu bleiben, nicht zu eindeutig zu sein."
Die Zweidamenkonstellation ist ihr quasi eingeschrieben: Die Tochter eines warmherzigen, Bücher schenkenden Richters und einer Übersetzerin im Fach Englisch kommt aus dem erfolgreichen Kabarettistinnen-Duo "Flüsterzweieck". Der erste Roman, "Die Party", war noch der Hybrid eines Programms, jetzt hat es der animierte Leser mit einem gestandenen Stück Belletristik zu tun. Ohnehin, sagt Ulrike Haidacher, sei am Anfang des Ganzen die Freude an witzig funkelnder Literatur gestanden, an Werner Schwab und Elfriede Jelinek. Deren frühen Hörspielen galt auch ihre Diplomarbeit in Germanistik. Dass sie sich da mit der Bachmann-Konkurrentin Stajner trifft, verblüfft nur auf den ersten Blick. Die Nobelpreisträgerin hat sich eben als A und O etabliert.
Die Party - Eine Einkreisung
Zum Gedenken an Helena Adler: Farbglühende Bilderstürze in eine andere Welt
Anlässlich des Bachmann-Wettlesens habe ich die todtraurige Pflicht, Ihnen die drei hinterlassenen Texte der Favoritin des Vorjahrs ans Herz zu legen, die unter dem Titel "Miserere" bei Jung und Jung erschienen sind. Das Interview mit der Salzburgerin Helena Adler war im Juni 2023 schon geführt, aber an Stelle der Autorisierung kam eine Nachricht: Ihre Teilnahme stehe vor der Absage. "Wenn ich jetzt sterben müsste, ich würde mich mit Händen und Füßen dagegen wehren", schrieb mir die verheiratete Mutter eines minderjährigen Sohnes wenig später. Wir haben einander nie getroffen, blieben aber im Kontakt, bis sie nicht mehr antworten konnte. Elfriede Jelineks Genesungswünsche machten sie glücklich. Meine Neujahrsgrüße haben sie nicht mehr erreicht, sie starb am 5. Jänner 2024 im Alter von 40 Jahren am Gehirntumor. Sie war die Größte unter den österreichischen Jungen. Die Hölle des Dorfs beschreiben seit den Siebzigerjahren viele, der großartige Franz Innerhofer brachte sich um, als er sich von dem Erlittenen leergeschrieben hatte. Aber Helena Adler, die bürgerlich Stephanie Prähauser hieß, hat die Dorfhölle mit bis dahin ungekannter sarkastischer Wortwut ausgemalt. Ihre Texte sind ein farbglühender Bildersturz, als habe sich der Höllenbreughel in die Arbeit eingebracht. Nichts und niemand kann das auslöschen.
Dass die drei hinterlassenen Texte vor der Krankheit geschrieben wurden, will man nicht glauben. Der kürzeste, "Unter der Erde", ist ein Bericht aus der Perspektive der Verwesung. "Ein guter Lapp in Unterjoch" beschreibt die Entgrenzung eines Hochzeitsladers. Und "Miserere Melancholia", geschrieben für Gregor Bloebs Volksschauspiele Telfs, lässt im Kopf der Erzählerin einen Gnom parasitieren.
Ein nach ihr benannter Preis wird an sie erinnern. Ihre Romane "Die Infantin trägt den Scheitel links" und "Fretten" sind Literaturgeschichte. Aber "Miserere" führt ein Stück weiter.
Zur Lektüre: Jung und Jung, € 17
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