Die Freestyle-Snowboarderinnen fristeten ein Schattendasein in der Skination Österreich. Bis Anna Gasser ins Rampenlicht sprang. Nach Gold in Sotschi 2018 holte sie bei den Olympischen Winterspielen in Peking 2022 eine weitere Goldmedaille. Wer ist die Frau, die die Snowboard-Szene revolutioniert hat?
Steckbrief Anna Gasser
Name: Anna Gasser
Geboren am: 16. August 1991 in Villach
Wohnort: Millstatt am See
Sternzeichen: Löwe
Größe: 165 cm
Beruf: Snowboarderin (Big Air und Slopestyle)
Erfolge: 3-fache Gewinnerin der X-Games (Slopestyle 2017; Big Air 2018 und 1019), Weltmeisterin (2017) und zweifache Olympiasiegerin (2018 und 2022) im Big Air
Familienstand: liiert mit Snowboarder Clemens Millauer
An einem milden Tag im Jänner schreitet eine junge Frau mit einem Snowboard unterm Arm durch die Wiener Kärntner Straße. Vor ihr, neben ihr und hinter ihr versuchen Kamerateams und Fotografen, Bilder von ihr aufzunehmen. Ein deutscher Tourist beobachtet die Szenerie und spricht eine Passantin an. "Entschuldigen Sie bitte, können Sie mir sagen, ob es sich um ein Mitglied der englischen Königsfamilie handelt?" Der Angesprochenen erwidert: "Das ist doch unsere Snowboard-Olympiasiegerin." Während sie ihr Handy zückt, um die Sportlerin zu fotografieren, steckt der Tourist das seine weg. "Ich dachte", sagt er enttäuscht, "das ist jemand, den man kennt." Zwar wird Anna Gasser in der Presse oft als Schneekönigin bezeichnet. Doch hat sie ihre vielen Titel nicht geerbt oder erheiratet, wie das in Adelshäusern üblich ist. Ihr Werdegang ist sogar für eine Spitzensportlerin ungewöhnlich.
Anna Gasser, dreifache Sportlerin des Jahres
Auch deshalb hat es die Freestyle-Snowboarderin zu einem Bekanntheitsgrad gebracht, der in der Alpenrepublik nur Skirennläuferinnen vorbehalten schien. 2017 und 2018 wählten sie die Journalisten schon zur Sportlerin des Jahres obwohl ihre Sportart noch ein mediales Schattendasein fristete. In Snowboard-Berichten standen die Alpinen meist im Fokus. Die Freestyle-Spezialisten blieben Randnotiz. Dann galt die Aufmerksamkeit den Männern. Frauen wurden sowieso nicht ernst genommen. Im Jahr 2022 gewann Gasser ein drittes Mal.
In Wien biegt Anna Gasser in das Gebäude ihres Sponsors ein. Die Medien haben hier die Möglichkeit, die 30-jährige Kärntnerin vor dem Abflug nach Peking zu interviewen. Am 6. Februar geht Gasser bei Olympia in der Disziplin Slopestyle an den Start, und neun Tage später wird sie im Big Air um Medaillen springen - und holte Gold. Slopestyle, für die, die es nicht wissen, ist ein Hindernisparcour mit eingebauten Sprüngen. Im Big Air geht es darum, maximal spektakuläre Sprünge zu zeigen. Bei den Spielen 2018 in Pjöngjang (Nordkorea) holte Anna Gasser Gold in dieser Disziplin. 2017 wurde sie Weltmeisterin.
Anna Gassers Bildungsauftrag
"Ihr habt schon etwas dazu gelernt", lobt Gasser die Journalisten, die vor ihr im Halbkreis sitzen. Einst habe sie bei Interviews Begriffe aus dem Freestyle-Sport umschreiben oder erklären müssen. "Ich habe eben Skisprungschanze gesagt, damit mich alle verstehen. Jetzt kann ich vom Kicker sprechen." Am Fachwissen der Journalisten könne sie deutlich sehen, dass sich die Anerkennung ihrer Sportart verändert habe. "Als ich angefangen habe, wurden Snowboarder oft mit Partymachen in Verbindung gebracht." Dass dies heute nicht mehr so ist, ist hierzulande auch ihr Verdienst.
Als Anna Gasser im Jahr 2010 mit dem Snowboardsport begann, war sie als Turnerin klassische Spitzensportstrukturen gewohnt. Die Freiheit des Snowboardsports habe sie begeistert. "Ich habe in Videos Tiefschnee-Tricks gesehen. Das wollte ich gerne lernen." An Wettkämpfe habe sie damals nicht gedacht. Schon gar nicht an Olympia. Slopestyle wurde erst 2014 und Big Air vier Jahre später ins Programm aufgenommen.
Nicht ernst genommen als Quereinsteigerin
Als Quereinsteigerin wurde sie nicht ernst genommen. Jamie Anderson (USA), die 2014 und 2018 Olympiasiegerin im Slopestyle werden sollte, besaß bereits zwei X-Games-Titel, als Anna Gasser noch lernen musste, wie sie korrekt auf dem Snowboard steht. "Springen", erzählt Anna Gasser heute, "war weniger mein Problem." In nur drei Jahren erlernte die Kärntnerin mit dem "Cab Double Cork 900"(doppelter Rückwärtssalto mit zweieinhalb schraubenförmigen Drehungen) einen Sprung, den vor ihr noch keine Frau gestanden hatte.
Längst hat sie mit weiteren "Firsts" Aufsehen erregt: 2018 feierte der Cab Triple Underflip (dreifacher Rückwärtssalto mit halber Drehung) Weltpremiere bei den Frauen, 2019 der Cab Double Cork 1260 (dreieinhalb Drehungen, dabei zwei Mal über Kopf). Diese Leistungen, erzählt man sich heute, verhalfen den Freestyle-Snowboarderinnen zum Durchbruch in der Szene.
Auch in anderer Hinsicht setzte sie sich durch. Als die Organisatoren eines Wettbewerbs in China das Preisgeld kürzen wollten, drohten die Kärntnerin und ihre Kolleginnen, den Start zu boykottieren. Erst als die Summe wieder stieg, wurde der Wettkampf durchgeführt. "Wir wollten keinen Schritt zurück machen", erzählt Gasser. "Die nächste Generation soll sehen, dass Siege von Frauen den gleichen Wert besitzen wie die der Männer." Dieses Ziel, sagt sie, sei fast erreicht. "Als ich begonnen habe, konnte nur eine Handvoll Athletinnen von diesem Sport leben. Inzwischen sind es viele."
1.000 Versuche für den neuen Trick
Dass Anna Gasser etwas verändern will, merkt man an ihrem Redestil. Sind die Fragen noch so unkonkret, sie bringt ihre Message an. Die 30-Jährige ist Medienprofi. Allein auf Instagram hat sie 467.000 Follower. Im November 2021 präsentierte sie mit "The Spark within" einen einstündigen Film über ihre Karriere.
Besonders eindrücklich zeigt der Streifen Stürze. Bei den X-Games 2020 kracht sie aus der Höhe immer wieder auf die Piste. Um bei dem Wettkampf ihren neuen Trick zu zeigen, nahm sie am Ende den letzten Platz in Kauf, anstatt mit einer Sicherheitsvariante eine Medaille zu holen. Manchmal, gibt sie unumwunden zu, sei ihr der Fortschritt wichtiger als der Sieg.
Nach einigen Verletzungen, gibt sie aber zu, sei sie heute nur noch unter Topbedingungen so draufgängerisch wie früher. Heuer tue ihr immerhin nichts weh, "da fühle ich mich nicht älter als meine Konkurrentinnen."
Bei Olympia sind es junge Japanerinnen, die im Fokus stehen. Die Sprünge, mit denen die Österreicherin bei Olympia 2018 gewann, gehören inzwischen zu deren Standardprogramm. Aber Anna Gasser sagt: "Ich habe auch noch nicht alles gezeigt, was ich kann." Drei Jahre Entwicklungszeit benötige ein neuer Sprung, rund 1.000 Mal müsse sie ihn springen. Nun sei wieder einer wettkampftauglich. Mehr wird nicht verraten.
Letztlich wiederholte die Kärntnerin ihren Triumph von Sotschi vier Jahre zuvor. "Ich kann es noch gar nicht glauben. Ich hätte heute wirklich nicht damit gerechnet. Ich hätte mir nicht gedacht, dass ich heute Favoritin bin", erklärte Anna Gasser in einer ersten Reaktion im ORF. Im Finale stand sie erstmals in einem Bewerb den Cab Double Cork 1260, einen Sprung mit dreieinhalb Drehungen, zwei davon über Kopf.
Anna Gasser und der ÖSV
Rund drei Stunden dauert der Termin in Wien. Nach einem Gruppeninterview absolviert die Olympiasiegerin Einzelgespräche für Fernsehsender und ein Fotoshooting für den Sponsor. Anna Gasser bleibt entspannt. Nur was Entwicklungen im Snowboardsport betrifft, geht es ihr nie schnell genug voran. Junge Mädchen, erzählt sie stolz, würden ihr schreiben. "Ich habe sie inspiriert. Es gibt kein größeres Kompliment." Allerdings wisse sie kaum, wohin sie die Talente zum Training schicken solle. Zwar gäbe es in Österreich die perfekten Kicker, "auf denen Nachwuchsfahrerinnen anderer Nationen üben. Vom ÖSV gibt es kein ordentliches Nachwuchsprogramm". Als sie ihre Karriere begann, steckte sie ihr ganzes Geld in den Sport. Jetzt will sie zumindest die Voraussetzungen für eine Thronfolge vererben.
Immerhin: Seit Mai 2023 gibt es ein neues Freestyle-Referat innerhalb des ÖSV, in dem Matthias Schenk die sportliche Leitung hat. "Wir haben einiges vor. Die Teams haben sich ja vorher schon gekannt und waren im regen Austausch", so Schenk gegenüber der APA. Anna Gasser gehört zu diesem Team und arbeitet weiter an neuen Tricks.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 5/2022 erschienen und wurde leicht upgedatet.