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Ali Khamenei: Der alte Mann und das Mullahreich

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Ayatollah Ali Khamanei

©IRANIAN SUPREME LEADER PRESS OFFICE / HANDOUT/Anadolu Agency via Getty Images
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Ali Khamenei ist seit 35 Jahren oberster Führer des Iran. Er hat ein Attentat und eine Krebserkrankung überlebt und sich eisern gegen Konkurrenten und Volksaufstände behauptet. Favorit für seine Nachfolge war der tödlich verunglückte Präsident. Wer ihn nun beerben soll, wird zur Schlüsselfrage des Fortbestands der islamischen Republik.

Totgesagte leben länger, heißt es. Dass allerdings Irans 63-jähriger Präsident Ibrahim Raisi vor dem greisen höchsten spirituellen Führer Ali Khamenei stirbt – damit hatte niemand gerechnet. Seit Jahre kursieren Spekulationen, was nach dem Tag X, dem Tod des Langzeitmachthabers Khamenei geschieht. Ein Fixpunkt dabei war: Präsident Raisi ist Favorit für die Nachfolge. Doch für das Szenario, dass Khamenei länger lebt als er, gab es keinen „Plan B.“ Eilig müssen nun geeignete Kandidaten für die Präsidenten-Wahl am 28. Juni gefunden werden. Was aber noch wichtiger ist: Eine neue Figur, die Khamenei in seiner Spitzenfunktion beerben kann, fehlt. Der auf Lebzeiten bestellte oberste spirituelle Führer hat das Oberkommando über die Streitkräfte sowie das letzte Wort in der Außenpolitik, bei juristischen Fragen und in der Wirtschaft. Und er bestellt das Gremium, das entscheidet, wer für die anderen Wahlen kandidiert.

„Die aktuelle Lage nach Raisis Tod ist so etwas wie ein Stresstest für den entscheidenden Moment, wenn Khamenei sterben sollte“, sagt der im italienischen Exil lebende Politikwissenschaftler Abdolrasool Divsallar. In der Geschichte der islamischen Republik gelte dies als eigentlicher Schlüsselmoment, der über Sein und Nichtsein der Mullah-Herrschaft entscheiden werde. Erfahrungswerte dazu sind rar. Denn diese Machtübergabe erfolgte bisher nur ein einziges Mal, vor exakt 35 Jahren. Am 5. Juni 1989 beerbte Khamenei den eben verstorbenen Revolutionsführer Ruhollah Khomeini.

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Ruhollah Khomein (re.) stürzte als Revolutionsführer Schah Reza Pahlevi und regierte danach die Islamische Republik Iran mit eiserner Hand. Ali Khamenei (li.) war damals an seiner Seite und wandelte sich vom reformorientierten Prediger zum Hardliner

 © imago/imagebroker

Die Staffelübergabe war anfangs von durchwachsenem Erfolg gezeichnet. Der damals 60-jährige hagere, wenig charismatische Mitstreiter Khomeinis war zwar Präsident, aber er galt als notdürftige Interimslösung. „Khamenei wird nur so lange das Amt verwalten, bis die Machtkämpfe der eigentlichen Kandidaten für die Führung geklärt sind“, wurde damals Massoud Rajavi, ein Führer der Opposition, in der amerikanischen Zeitung „New York Times“ zitiert. Zu diesem Zeitpunkt verfügte Khamenei über keine eigene „Hausmacht“. Auch sein Rang im System der Kleriker war eigentlich nicht ausreichend für das hohe Amt. Die Frage rückte in den Raum, ob das Mullah-Regime angesichts des schwachen neuen Mannes überhaupt den Tod seines Führers Khomeini überstehen wird.

Doch Khamenei agierte klug und sicherte sich seine Langzeitherrschaft durch zwei Schachzüge: Schritt für Schritt entledigte er sich aller möglichen Konkurrenten und baute die Miliz der „Revolutionsgarden“ zu einem Machtapparat aus: Sie schützte ihn, half ihm, Volksaufstände zu unterdrücken, und er schanzte ihr im Gegenzug lukrative Aufträge und militärische Macht zu. Für die Ära nach Khamenei hat der Iran nun exakt mit diesen Folgen zu kämpfen: Es fehlt eine neue Führungsgeneration, und die Macht der Revolutionsgarden könnte das Mullah-Regime in eine Militärdiktatur verwandeln.

Somit ist das Mullah-Regime an einer ähnlich kritischen Weggabelung angelangt wie an dem Tag, als Khamenei die Macht übernahm. Was ist, wenn der oberster Führer nicht mehr ist? Diese Funktion scheint untrennbar mit seiner Person verbunden. Der überwiegende Großteil der 80 Millionen Iranerinnen und Iraner, die im Schnitt dreißig Jahre alt sind, hat nur ihn als Machthaber erlebt. Einen Mann, der immer das letzte Wort hat und mit allen Mitteln um die Macht kämpft: prinzipientreu und skrupellos.

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Khamenei: Vom Fortschritt zum Hardliner

Khamenei wurde 1939 in Maschhad in die Familie eines Geistlichen geboren, studierte als Khomeinis Schüler Theologie und schloss sich dessen Oppositionsbewegung an. Mehrfach wurde der sechsfache Familienvater während der Ära Schah Reza Pahlewis verhaftet, verbrachte Jahre im Kerker und im Exil. Vor dem Umsturz im Iran galt Khamenei als fortschrittlicher Prediger, rauchte Pfeife und schrieb in seiner Freizeit Gedichte. Nach der Revolution 1979 machte er im neuen System rasant Karriere und trat als erklärter Hardliner auf. Als Leiter der Freitagsgebete in Teheran ab 1980 hielt er mit einem Gewehr in der Hand seinen Sermon, geprägt von Hasstiraden gegen den „Satan Amerika“. Er war an der Besetzung der US-Botschaft beteiligt, wo 444 Tage 52 Geiseln festgehalten worden waren.

Khamenei war da schon Mitglied des Revolutionsrats und Vizeverteidigungsminister. 1981 wurde er Präsident und 1985 wiedergewählt. Einen Monat vor Khomeinis Tod skizzierte er präzise jene Rolle, die er später einnehmen würde. „Das Land braucht einen einzigen Führer“, predigte er im Mai 1989 in Teheran. „Die Menschen sollten an diese Person Forderungen richten, gegen ihn protestieren und ihn allein zur Rechenschaft ziehen.“ Exakt dies wurde sein Programm. Kein Machthaber im Nahen Osten hielt sich so lange wie er.

Der Überlebenskünstler hat die Folgen eines Bombenanschlages überstanden, eine Krebserkrankung und massive Herzschwächen. Und er überlebte im Herbst 2022 eine gleich mehrfache massive politische und auch gesundheitliche Krise. Erst hohes Fieber, dann eine Darmverschluss brachten Khamenei damals in akute Le-bensgefahr. Fast zeitgleich, während die Ärzte mit einer Not-OP um das Leben des obersten Führers kämpften, starb Mahsa Amini in einem Spital in Teheran. Die 23-jährige Studentin war nach ihrer Verhaftung durch die Sittenpolizei schwer am Kopf verletzt worden. Sie erwachte nicht mehr aus dem Koma. Ihr Tod war die Initialzündung des nach wie vor ungebrochenen Aufstands.

Der Führer außer Tritt

Khamenei blieb damals lang verschwunden, erst zwei Monate später meldete er sich zu Wort, der schier unbezwingbare Macht-Kleriker schien außer Tritt. „Diese Unruhen sind von den USA und den Zionisten angestiftet worden“, wetterte er in seiner ersten Rede seit Beginn der Proteste im Oktober. Über nötige politischen Reformen oder Maßnahmen gegen die Krise der Volkswirtschaft, die von Streiks und Sanktionen nach dem Ausstieg der USA aus dem Atomprogramm schwer havariert ist, wollte er nicht sprechen und will es noch immer nicht tun. Die Inflation liegt bei 48 Prozent, ein Drittel der Bevölkerung darbt unter der Armutsgrenze. So dehnt sich die Kluft zwischen der nach Freiheit und Chancen lechzenden Bevölkerung und dem sklerotischen Mullah-Regime unter Khamenei bedrohlich aus.

300 meist junge Menschen starben bei der brutalen Unterdrückung dieses Aufstands, der niemals wirklich erlosch. Der Widerstand flackerte zuletzt auch kurz nach dem Tod des Präsidenten Raisi wieder sichtbar wieder auf. Zahlreiche Aufnahmen vor allem von jungen iranischen Frauen kursierten während der vergangenen Tage auf Sozialen Medien. Mit Bier, Wein und Whiskey, in der Islamischen Republik eigentlich strikt verbotenen Getränken, und Feuerwerken feierte der inoffizielle Iran das Ende eines willfährigen Vollstreckers eines brutalen Unterdrückungssystems. Der 63-jährige war nicht nur der formale Staatschef, sondern zählte auch zu den brutalsten Vertretern der Islamischen Republik: Nach der Revolution war er Scharfrichter, verantwortete mit Schnellurteilen den Tod von Zehntausenden Regimegegnern, seit seiner Wahl zum Präsident vor drei Jahren steht er für die brutale Unterdrückung der Frauenproteste. Raisi wurde so aus Sicht des obersten Führers der ideale Kandidat für sein Erbe und somit den Weiterbestand der islamischen Republik.

„Du, Khamenei, bist der nächste, der geht“ – solche Slogans haben in den vergangenen Tagen Frauen mit wehenden Haaren auf Häuserfronten in den Städten des Irans gemalt. Die Hoffnung, dass mit dem Wegfall des logischen nächsten obersten Führers die Machtstrukturen zu bröseln beginnen, sorgt für Aufwind der aufbegehrenden Jugend. Doch es droht das Gegenteil. Raisis Tod könnte den Weg für noch konservativere Kräfte ebnen, die sich in dem nun beginnenden Machtkampf ihren Weg an die Spitze bahnen.

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OFFENE FRAGEN. Zehntausende nahmen am Begräbnis von Präsident Ibrahim Raisi teil. Dieser war bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben gekommen. Sofort begannen Spekulationen über den Unfallhergang und darüber, wer nun erster Anwärter auf Khameneis Erbe ist

 © IMAGO/Aksonline

Wer Khamenei folgen könnte

Formal obliegt laut der iranischen Verfassung die Entscheidung, wer das Land als spiritueller Führer regiert, dem so genannten Expertenrat, einem Gremium, dessen 88 Mitglieder weit über achtzig Jahre alt sind. Dessen Zusammensetzung wurde im März erst neu bestimmt, der Einfluss erzkonservativer Kräfte hat seither noch stärker zugenommen.

Derzeit gilt Khameneis Sohn, der 55-jährige Mojtaba, als aussichtsreicher Erbe des Vaters. Bislang wurde er als „zweite“ Wahl neben Raisi gehandelt. Eine „Erbfolge“ innerhalb der Familie gilt als verpönt in der Islamischen Republik, die sich als Kontrastprogramm zur Monarchie unter dem Schah verkauft. „Es kursieren nun auch Gerüchte, dass der Unfalltod Raisis etwas damit zu tun haben könnte, dass der Weg für den Khamenei-Sohn geebnet wird“, räumte einer der weltweit führenden Iran-Experten, Karim Sadjadpour, in einer ersten Analyse über den Nachrichtenkanal X ein. Wobei der Absturz des Präsidenten-Helikopters, bei dem auch der Außenminister ums Leben kam, vor allem ein Indiz dafür ist, wie hoch der Reformbedarf in dem Land ist.

Während Satelliten ins Weltall geschossen werden und Terrorgruppen im Nahen Osten aus den Schatullen der islamischen Republik üppig finanziert werden, scheint das nötige Budget zu fehlen, simple Wartungsarbeiten bei so wichtigen Transportgeräten durchzuführen.

Milliardenschwere Machtspiele

Mittlerweile hat eine offizielle Untersuchungskommission geklärt, dass keine Sabotage im Spiel war, doch es halten sich die Gerüchte, dass der Kampf um das Erbe des obersten Führers längst eskaliert ist. Mojtaba Khamenei ist derzeit Boss in der zentralen Säule des Machtapparats seines Vaters, dem Büro des obersten Führers. Hier sind Tausende Angestellte tätig, verwalten die üppigen Einnahmen der religiösen Stiftungen und Firmenbeteiligungen. Vor einem Jahrzehnt ergaben Recherchen der Nachrichtenagentur Reuters, dass Khameneis Büro über ein Vermögen im Wert von 100 Milliarden Euro verfügen dürfte; ein Wert, der laut aktuellen Daten der US-Botschaft im Irak bereits beim Doppelten liegt. „Im Gegensatz zu Khomeini hat Khamenei das Kabinett des Spirituellen Führers massiv ausgedehnt. Heute fungiert es quasi als Regierung in der Regierung“, sagt Ali Ansari, der an der Universität St. Andrews moderne iranische Geschichte lehrt.

Wie einflussreich die Rolle des Sohns des Spirituellen Führers ist, lässt sich an der Begründung der US-Regierung ablesen, warum Mojtaba Khamenei im November 2019 persönlich auf die Sanktionenliste gesetzt wurde: „Er vertritt den Vater in einer offiziellen Funktion und es ist anzunehmen, dass Ali Khamenei Teile seiner Agenden an den Sohn übertragen hat.“ Dieser gilt als ausgewiesener Hardliner, ist mit der Tochter eines einflussreichen, erzkonservativen Predigers verheiratet und verfügt über exzellente Kontakte zum Militärkomplex der Revolutionsgarden. Als Mittelsmann zwischen dem Vater und Revolutionsgarden soll Mojtaba bei der Niederschlagung von Volksprotesten mehrmals eine zentrale Rolle gespielt haben.

Viel mehr weiß kaum jemand über ihn. „Es gibt keine Medienauftritte, nichts, die Leute wissen nicht einmal, wann und wo er seinen Lunch einnimmt“, skizziert der Politologe Ali Alfoneh das kaum vorhandene politische Profil des potenziellen Erben. Er hat in einem Buch die eigentlich hoch komplexe und brisante Frage der politischen Nachfolge im Iran beleuchtet: „Wer König wird, kann heute niemand sagen. Aber wir wissen, wer die Königsmacher sind. Es ist eindeutig, dass der Machtkomplex um die iranischen Revolutionsgarden faktisch entscheiden wird, wer im Iran der nächste spirituelle Führer wird,“ betont Alfoneh.

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DER KANDIDAT. Mojtaba Khamenei, Sohn von Ali Khamenei, gilt nach dem Tod von Ibrahim Raisi als ein möglicher Nachfolger für das Amt des höchsten geistlichen Führers des Iran. Schon jetzt sitzt er an mächtiger Stelle und hat die Hand auf einem Milliardenvermögen

 © imago images / ZUMA Press

Macht über den Iran hinaus

Ob Khamenei Junior oder ein anderer Kandidat das Rennen um die Nachfolge des Vaters machen wird, wagt niemand zu prognostizieren. Ebenso wenig, ob überhaupt jemand seine Rolle ausfüllen kann. So wie 1989 haben interne Machtkämpfe in der Islamischen Republik dazu geführt, dass sich zwar der aktuelle Machthaber halten konnte, aber der Weiterbestand des Systems dadurch gefährdet ist.

Denn bei dem Amt des obersten spirituellen Führers geht es um noch viel mehr als bloß die Führung des Irans. Er wird auch als Führungsfigur der mit dem Iran verbündeten Milizen in der gesamten Region akzeptiert, betont Arash Azizi, Historiker an der Clemson University: „Gruppen wie Hezbollah im Libanon, die schiitischen Milizen in Syrien und im Irak haben einen Treueschwur auf Khamenei geleistet. Er wird als ihr politischer Kopf gesehen und nicht die jeweiligen Staatschefs in diesen Ländern.“

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 22/2024 erschienen.

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