Das vegetative Training ist eine ungewöhnliche Erfahrung: Man liegt auf dem Rücken, rührt sich kaum und plötzlich beginnt der Körper unwillkürlich Bewegungen auszuführen. Was passiert da genau, Herr Zallinger?
Das autonome Nervensystem, das vegetative System, das der Mensch nicht kontrollieren kann, reguliert. Das ist manchmal mit Empfindungen verbunden, manchmal mit spürbaren Bewegungen.
Ihr Buch trägt den Titel "Die Macht in Dir - Wie der Körper sich selbst heilt". Beschreiben Sie bitte diese Macht, die in unserem Körper wohnt.
Die Macht besteht einerseits in der Herrschaft des autonomen Nervensystems, durch die der Körper teilweise Dinge tut, die fernab einer willentlichen Entscheidung sind. Der wichtigere Aspekt sind die Regulationsmechanismen des Körpers, die durch diese Technik freigelegt werden.
Im Buch "Die Macht in dir"* erklärt Zallinger die Selbstheilungskraft des Körpers im Zuge des vegetativen Trainings
Sie berühren den Klienten beim Training nicht, Sie sprechen bis auf wenige Anleitungen kaum, Sie müssen nichts über die Beschwerden des Klienten wissen. Warum funktioniert das vegetative Training?
Anleitung gibt es von mir nur in der ersten Phase bezüglich der Atmung und den minimalen provokativen Bewegungen, die ausgeführt werden sollen. Wenn es notwendig erscheint, versuche ich Erinnerungen des Klienten hervorzurufen, aber das ist nicht zwingend. Das ist der Charakter, der dieser Methode zugrunde liegt: Sie ist so wenig wie möglich manipulativ, weil es dem Organismus überlassen bleibt zu tun, was er braucht, um in seine Balance zu kommen.
Dabei beginnt der Körper zu rütteln und zittern.
Ja, das sogenannte neurogene Zittern ist beim Training die stärkste Form von Bewegung. Es löst muskuläre Spannungen, die sich im Körper durch körperliche oder seelische Schmerzen manifestiert haben.
Das neurogene Zittern wirkt also regulativ bis hin zur Heilung auf den Körper?
Diese Reaktion des Körpers auf großen Stress ist nichts Neues. Man kennt sie aus Zeiten, in denen Menschen enormen Stress hatten, wie die Heimkehrer des Ersten Weltkriegs. Bei ihnen wurde das Zittern rasch versucht zu unterdrücken, weil es gesellschaftlich nicht erwünscht war. Im Grund ist das Zittern der sichtbare Konnex zwischen dem, was man empfindet, und der Art, wie der Körper versucht, aufgestaute Energie abzuarbeiten.
Anders gesagt: Aufgebaute Verhärtungen im Bindegewebe werden gelöst und Spannungen abgebaut.
Ja, ich erinnere dabei gerne an das Beispiel eines Säuglings, der auch mit Armen und Beinen gestikuliert und so seine Empfindungen abarbeitet. Beim Training kehrt im Organismus die Fähigkeit sich selbst zu regulieren zurück.
Sie sprechen nun bewusst von regulieren statt von heilen. Warum?
Weil ich mit dem Begriff Heilung gern demütig umgehe. Natürlich gibt es die Selbstheilung als Fähigkeit unseres Organismus. Aber davor finden Regulationsprozesse statt, die zu einer Spannungsverminderung führen, zu einer Vitalität. Sie stellen auch lange eingeschränkte Gelenksbeweglichkeiten wieder her. Da gibt es viele Vorstufen, darum bewege ich mich begrifflich gern auf dem Regulationsniveau.
Sie haben das vegetative Training seit 2012 vom Norweger Inge Jarl Clausen gelernt. Was fasziniert Sie daran am meisten?
Aufgrund meiner Vergangenheit interessiert mich besonders die Leistungsentfaltung im Sport. Ich halte es für eine Geheimwaffe im Leistungssport. Die Trainingsmethodik scheint ausgereizt zu sein. Das ahnt man, wenn man aktuelle Modelle, Umfänge und Intensitäten kennt. Viele Möglichkeiten zur Leistungssteigerung liegen aber in der Regenerationsphase, der Zeit, in der Kapazitäten wiederaufgebaut werden und sich der Organismus an die erhöhte Belastung anpasst. Bei Sportlern, die nach ihrem Leistungstraining das vegetative Training gemacht haben, habe ich beobachtet, dass sie sehr viel schneller wieder in eine neue Belastung gehen können.
Weil der Körper sich durch das vegetative Training anders regeneriert?
Ja, die Regeneration ist qualitativ besser und schneller.
Sie betreuen auch das Fußballnationalteam. Wirkt das Training bei Spitzensportlern anders als bei Hobbysportlern?
Dort habe ich andere Aufgaben und biete das vegetative Training nur zusätzlich an. Aber nein, Spitzensportler reagieren nicht anders. Entscheidend ist die jeweilige Körperhistorie, also was der Körper an Erfahrungen mitbringt. Zu mir kommen hauptsächlich Hobbyoder Nichtsportler. Diesbezüglich hat sich mein berufliches Umfeld sehr vom Spitzensport weg entwickelt. Es ist einfach eine besonders freudvolle Arbeit, wenn ich Menschen zeigen kann: Es geht so viel!
Wer sind Ihre Klienten?
Meistens Menschen mit Schmerzen im Bewegungsapparat, die schon sehr viel probiert haben, medikamentös, aber auch verschiedene Therapien. "Ich hoffe, Sie können mir helfen!", höre ich oft. Dann sage ich: Ich werde es nicht sein, aber sie selbst werden sich helfen.
In Ihrem Buch schildern Klienten ihre Erlebnisse beim Training, um die Wirkung zu veranschaulichen. Welche der Geschichten hat Sie besonders beeindruckt?
Wenn jahrelang mitgeschleppte Beschwerden relativ schnell gelöst werden können, beeindruckt es mich jedes Mal. Ein Klient hat seit 15 Jahren einen Asthmaspray benutzt, weil er die Diagnose Belastungsasthma bekommen hatte. Im Training hat sich herausgestellt, dass er in der Kindheit auf den Rücken gefallen ist und einen Atemschock gehabt hat. Wenn sein Organismus Stress hatte, wurde dieser Trigger bedient und die Atmung stockte wieder. Das kann man biochemisch durch einen Spray lösen. Aber wenn der Trigger im vegetativen Nervensystem beseitigt ist, gibt es kein Problem mehr. Er braucht heute keinen Spray mehr.
Ist es wichtig, sich beim Training an solche Erlebnisse wie diesen Sturz zu erinnern?
Nein, manche erinnern sich an gar nichts und das ist auch nicht notwendig. Man muss nichts nach oben holen, um es löschen zu können. Die körperliche Regulation wirkt auch, ohne dass man auf den psychologischen Hintergrund kommt.
Muss man an das Training glauben, damit es klappt?
Nein. Bei mir waren schon viele Skeptiker und Kontrollfreaks, die gesagt haben: "Ich bin so ein Kopfmensch, bei mir klappt das sicher nicht!" Doch, tut es.
Gibt es Menschen, für die es ungeeignet ist?
Mit lebensbedrohlich Erkrankten oder Menschen mit autoimmunen Erkrankungsbildern arbeite ich für gewöhnlich nicht. Mein Schwerpunkt liegt darauf, mehr Wohlbefinden zu ermöglichen.
Können auch Kinder trainieren?
Natürlich, mein jüngster Klient war vier Jahre alt.
Was ist Ihr Ziel für die Zukunft des vegetativen Trainings?
Es gibt im Moment sechs Menschen, die es in Europa praktizieren. Ich selbst habe acht Jahre lang von Inge Clausen gelernt. Schön wäre, wenn man es nun auf eine breitere Basis stellen könnte, mit mehr Trainern. Dazu wäre wichtig, die Erfahrungswerte mit Fallstudien auf eine wissenschaftliche Basis zu stellen.
Gibt es eine Ausbildung zum Trainer für diese Methode?
Nein. Als ich Inge Clausen das erste Mal gefragt habe, ob ich die Technik lernen kann, hat er mich ja auch ausgelacht. Er selbst hat jahrelang dafür studiert und dann in Indien ein Jahr lang zweimal täglich an sich selbst trainiert. Mich hat er dann begonnen auszubilden, weil er gesehen hat, wie wichtig es mir ist, die Technik zu lernen, um Leuten zu helfen. Wobei es keine klassische Ausbildung ist, er hat mir acht Jahre lang scheibchenweise sein Wissen weitergegeben.
Was macht die Anforderungen an einen Trainer dieser Methode so besonders?
Als Trainer ist man der Sicherheitsanker für den Klient, der seinen Organismus in die Regulation bringt. Dabei ist die besondere Aufgabe zu sehen, was der Klient gerade braucht und ihn dahingehend mit wenigen Anweisungen zu unterstützen. Man muss merken, wo fällt ihm gerade das Atmen oder die Bewegung schwer? Welche Bewegungen kann ich ihm ansagen, um die Regulation zu fördern? Dazu braucht man funktionell-anatomisches Wissen.
Welchen Stellenwert haben Emotionen beim vegetativen Training?
Mein Mentor Inge Clausen ist der Meinung, dass sie die Grundlage für alles im Organismus sind: "Emotions run the show" ist sein Spruch. Gemeint ist, dass unsere Körpersprache durch Gefühle bedingt wird.
Ein Beispiel bitte!
Wenn jemand zappelig ist, wenn jemand den Körper zur Seite lehnt oder das Becken nicht frei bewegen kann, basiert das alles auf Gefühlen und Erfahrungen. Konkret: Ein Jugendlicher ist mit starken Schmerzen in den Unterschenkeln zu mir gekommen. Wir haben beim Training entdeckt, dass die Schmerzen im Kontext zu einem speziellen mentalen Thema gestanden sind. Wenn das Thema für ihn präsent war, hat er geweint, mit den Füßen reagiert und dort, wo es wehgetan hat, stark geschwitzt. Man kann hier bildlich sprechen: Er wollte den eingeschlagenen Weg nicht mehr weitergehen und das hat sich körperlich ausgedrückt.
Gibt es Skeptiker, die die Methode für Hokuspokus halten?
Die Wirkung ist ja biologisch belegbar. Es gibt keine wissenschaftliche Beweisführung, aber das Modell ist grundbiologisch, weil nicht mit Energie gearbeitet wird, nicht manipuliert wird. Alles passiert in einem selbst, tief in den organischen Strukturen.
Wie entscheidend ist die Wechselwirkung von Körper und Geist für den Erfolg eines Trainings?
Es wird nicht zwischen Körper und Geist unterschieden. Der Organismus hat eine Erfahrung gemacht und darauf reagiert er. Zum Beispiel mit sympathikotonen Reaktionen wie Flucht oder Kampf oder Erstarrung. Wenn das Training Schmerzen auflöst, ist es gelungen, die Erfahrung auf der körperlichen Ebene abzuarbeiten und auf der geistigen Ebene unbedeutend werden zu lassen.
Was passiert, wenn sich beim vegetativen Training ein psychisches Trauma zeigt?
Zu mir kommen Menschen, die mehr Vitalität spüren wollen oder Beschwerden am Bewegungsapparat haben. Dass diese Beschwerden unterschiedliche Ursachen haben, ist eine andere Geschichte. Sollte etwas hochkommen, das medizinisch-psychologische Begleitung braucht, merke ich das rasch und empfehle entsprechende Begleitung.
Hilft die Methode auch arbeitstechnisch sehr geforderten Menschen?
Die sind oft stärker belastet als Leistungssportler, weil sie sich permanent beladen, aber keine Regenerationsphasen einplanen. Sie befinden sich permanent in einer Art Alarmmodus. Da hilft das vegetative Training, Arbeitsintensität und Entlastung in Einklang zu bringen.
Das Interview erschien ursprünglich im News 34/2020.
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