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Der Kampf um die Schwerverletzten

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Unfälle reißen Menschen von einer Sekunde zur anderen aus ihrem bisherigen Leben. Im Traumazentrum Wien geht es um jede Minute. Die besten Unfallchirurgen und ihre Teams koordinieren in den Unfallkrankenhäusern Meidling und Lorenz Böhler ihre Einsätze

Die Rettung avisiert einen Schwerstverletzten. Gleich landet der Hubschrauber auf dem Dach des Unfallkrankenhauses in Meidling. Bis dahin hat sich schon das Akutteam zum Empfang versammelt. Es läuft wirklich ab wie im Film oder "Emergency Room". Genau genommen, sagt Christian Fialka, ärztlicher Leiter des Traumazentrums Wien der AUVA (Allgemeine Unfallversicherungsanstalt), zeigen Filme ganz gut, wie es in Wirklichkeit ist. Das Notarztteam berichtet, was passiert ist, welche Maßnahmen gesetzt wurden und welchen Eindruck es hat. Im Schockraum, der Akutbehandlungseinheit des Spitals mit vollem Equipment, werden lebenserhaltende Maßnahmen gesetzt, Atmung und Kreislauf stabilisiert, und die Diagnosephase läuft an.

In der Regel wird eine Computertomographie gemacht - vom Scheitel bis zum Beckenboden. In wenigen Minuten werden die lebenswichtigen Organe gescannt, um Überblick über die Verletzungen zu bekommen. Das Wundergerät, das Polytrauma-CT, steht gegenüber vom Schockraum. Die CT-Bilder zeigen den Körper in Schichten, wie eine aufgeschnittene Salami. "Man sieht in unglaublicher Geschwindigkeit, ob ein Gefäß aufgerissen ist oder ein lebenswichtiges Organ verletzt wurde", erklärt der Radiologietechnologe Gerd Nemeth, "oder ob irgendetwas dort ist, wo es nicht hingehört. Wenn der Patient hier landet, brennt der Hut."

Noch während die Bilder entstehen, bespricht das Team die ersten Erkenntnisse. Wenn die Bilder vorliegen, wird entschieden, was sofort behandelt werden muss und was warten muss. Das können auch schwere Brüche sein, doch hier geht es ums Überleben. "Das ist die Phase", sagt Fialka, Primar in Meidling, "die wir die goldene Stunde des Schocks nennen. Maßnahmen, die wir in dieser Zeit setzen, greifen wesentlich besser als nach Ablauf dieser ersten Stunde."

Bei hohem Blutverlust werden Organe schlecht durchblutet und stellen die Funktion ein. Es kommt zu Lungen-, Leber-oder Nierenversagen. Deshalb muss man sofort Blut-oder Flüssigkeit zuführen. Geschieht das innerhalb der ersten Stunde, erholen sich die Organe oft wieder komplett. Danach können Organe teilweise absterben: das gefürchtete Multiorganversagen, das die PatientInnen vielleicht noch zwei oder drei Tage überstehen, aber aufgrund der Organschäden nicht überleben.

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Vom Hubschrauberlandeplatz in den Schockraum... © Copyright 2018 Matt Observe - all rights reserved.
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Die Radiologietechnologen Gerd Nemeth (li.) und Jochen Ranner mit dem Polytrauma-CT, das minutenschnell Bilder von Kopf bis Beckenboden macht © Copyright 2018 Matt Observe - all rights reserved.

Höchste Konzentration

Was und wie es im Schockraum abläuft, ist genau festgelegt, der "Schockraum-Algorithmus" hängt an der Wand, die Stoppuhr läuft mit. Für jeder Phase des Geschehens sind zehn Minuten vorgesehen: Stabilisierung, Diagnostik, Vorbereitung für die Operation. Selbst bei laufender Wiederbelebungsmaßnahmen gibt es alle paar Minuten sogenannte Time-outs, in denen Anästhesisten, Chirurgin oder Chirurg und Pflege ihr Feedback geben. Fialka erklärt das so: "Ich habe zum Beispiel den Eindruck, dass der Patient zu wenig Blut hat. Wenn das Herz massiert wird, um es zum Schlagen zu bringen, funktioniert das nur, wenn das Herz durchblutet ist. Wenn der Patient zu wenig Blut hat, weil er Blut verloren hat, ist das eine sinnlose Maßnahme. Wenn nun der Anästhesist aber sagt: Der Eindruck täuscht, ich habe schon acht Blutkonserven gegeben, kann der Gedanke abgehakt werden, und man sucht nach einer anderen Ursache."

In diesen dramatischen Minuten bleibt keine Zeit für Diskussionen. Für jeden Tag wird ein sogenannter Traumaleader bestimmt, der sich mit dem Team bespricht und dann die Entscheidungen trifft. Er trägt unter höchstem Druck die Verantwortung. Am nächsten Tag ist ein anderer der Traumaleader, sodass sich die Belastung verteilt.

Später ist Zeit für die Nachbesprechung: Was hätten wir besser machen können? Fialka: "Man lernt in jedem Fall etwas dazu." Unfallchirurgen und -chirurginnen müssen hohe Stressresistenz und Entscheidungsfreude mitbringen. Das ganze Team absolviert regelmäßig Simulationstrainings. Da sind Zeitdruck und Stresslevel sehr nahe an der Wirklichkeit, sodass die Abläufe standardisiert werden und jeder und jede immer weiß, was zu tun ist. Durchschnittlich 47 Minuten dauert es hier von der Einlieferung in den Schockraum bis zur Operation. Das ist ein Spitzenwert: Europaweit sind es 70 Minuten. "Ein-und dieselbe Behandlung kann in der Sekunde ein Leben retten", sagt Fialka, "und eine halbe Stunde später wirkungslos sein."

Das "Traumanetzwerk"

Fialka leitet das neue Traumazentrum Wien. Die AUVA hat mit Jahresbeginn ihre beiden Wiener Unfallkrankenhäuser an den Standorten Meidling und Lorenz Böhler (Brigittenau) organisatorisch zusammengelegt. Das war nicht unumstritten, denn von Samstag früh bis Dienstag früh ist der Schockraum im Lorenz-Böhler-Spital gesperrt. Das heißt aber nicht, dass dort keine PatientInnen aufgenommen werden. In dieser Zeit werden die Schwerstverletzten von der Rettung nach Meidling gebracht. Beide Häuser sind gleich ausgerüstet, die Kräfte werden jetzt gebündelt und die Personaleinsatzpläne aufeinander abgestimmt. In der Brigittenau werden PatientInnen genauso akut versorgt wie in Meidling.

Fialka erklärt die Zusammenarbeit am Beispiel der höchstspezialisierten Handchirurgen, die es in beiden Spitälern gibt. Es sind aber nicht so viele, dass sie rund um die Uhr in beiden Häusern im Dienst sein können: "Durch hausübergreifende Dienstpläne können wir gewährleisten, dass zu jedem Zeitpunkt ein Handchirurg höchsten Ausbildungsgrades anwesend ist." Ähnlich bei der Replantationschirurgie, auf die nicht viele Spitäler in Österreich spezialisiert sind. Das Traumazentrum stellt sich so auf, dass jederzeit ein Replantationschirurg Dienst hat. Die Rettung weiß dann, in welches Haus sie die Schwerverletzten bringen kann.

Das Traumanetzwerk, das für ganz Österreich ausgebaut wird, sieht eine Abstufung der Versorgung vor: von den Spitälern mit Maximalversorgung (wie AKH), wo alle Spezialisten rund um die Uhr verfügbar sind, über "Level 2" mit Schwerstverletztenversorgung, aber mit einigen Ausnahme wie Kindern und Schwangeren, und die dritte Stufe, wo bei Großereignissen wie einem Zugunglück Schwerverletzte "anversorgt", danach aber in spezialisierte Spitäler gebracht werden. Die größten Fortschritte in der Unfallversorgung kommen daher, dass die Rettungskette besser geworden ist und PatientInnen schneller im "richtigen" Spital landen, denn jeder Weitertransport kostet wertvolle Zeit - eine Überlebensfrage.

Wiederherstellung

In Meidling liegt der Schwerpunkt auf der Akutversorgung von Polytraumapatienten, im Lorenz-Böhler-Spital auf der rekonstruktiven Chirurgie. "Wir rekonstruieren," sagt Thomas Hausner, Primar am Standort und Stellvertreter des Ärztlichen Leiters des Traumazentrums, "bei Patienten mit schwersten Verletzungen und Funktionsausfällen der Extremitäten so, dass wir ihnen die Funktion wieder zurückgeben." Da werden Nerven, die schwerst verletzt wurden, wiederhergestellt oder Haut und Muskeln von einer Stelle des Körpers an eine andere transplantiert -hochkomplizierte Arbeit unter dem Mikroskop. Oder es werden, wenn massive Schmerzen die PatientInnen quälen, Nervenenden so miteinander verbunden, dass ein Teil der Schmerzen schwindet.

Die meisten Patienten können wir sehr gut wiederhergestellt ins Leben entlassen

Hausner berichtet von einer wenige Tage zurückliegenden Operation, bei welcher der Oberschenkelknochen eines Verletzten rekonstruiert wurde, von acht Uhr früh bis ein Uhr nachts. Einem anderen Patienten wurde kürzlich der Unterschenkel replantiert. Der stellvertretende Primar, Alexander Graff, erzählt von einem Patienten, dem bei einem Sportunfall der Beckenkamm zertrümmert wurde. Das Becken und die zerstörten Muskelansätze von Bauch und Bein wurden wiederhergestellt: "Das ist personal-und ressourcenaufwendig, aber wenn es funktioniert, lohnt es sich."

Ein neuer Daumen

Eine Schneidemaschine hatte Doina Moldovan den Daumen abgerissen. Ohne Daumen ist eine Hand fast nicht zu gebrauchen. In einer sechsstündigen Operation wurde der Daumen durch den Zeigefinger ersetzt. Jetzt schmerzt die Hand schon nicht mehr. Graff erklärt: "Dass der Zeigefinger nun als Daumen fungiert, lernt das Gehirn schnell und registriert den Unterschied später gar nicht mehr."

Das Besondere an der Unfallchirurgie ist, dass sie so unmittelbar wirkt. Fialka beschreibt das so: "Unsere Patienten sind durch den Unfall aus völliger Gesundheit in eine lebensbedrohliche Situation geraten. Durch das, was wir machen, gelingt es nun -leider nicht immer -, sie ins ganz normale Leben zurückzuführen." Manchmal stehen Patienten nach drei Jahren plötzlich wieder da, um kurz Hallo zu sagen. Fialka: "Das ist unglaublich befriedigend, medizinisch und menschlich." Aber es gibt Situationen, die trotz maximaler Leistung des Teams nicht beherrschbar sind. Fialka: "Es gibt Verletzungsfolgen, die mit dem Leben nicht vereinbar sind. Das ist immer sehr frustrierend."

Dieser Artikel erschien ursprünglich in News Wien 01/18

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