Wenn die Stille kommt, macht sich oftmals auch der Tinnitus bemerkbar. Ein Geräusch, das Betroffene wortwörtlich in den Wahnsinn treiben kann. Doch es gibt Hoffnung: HNO-Spezialist Uso Walter erklärt, warum Hören vor allem Kopfsache ist.
- 1. Was ist ein Tinnitus?
- 2. Welche Ursache hat der Tinnitus?
- 3. Wo genau liegt das Problem?
- 4. Welche Rolle spielt Stress?
- 5. Wie gehen Betroffene mit dem Tinnitus um?
- 6. Wann sollte man zum Arzt gehen?
- 7. Wie sieht eine Tinnitustherapie aus?
- 8. Welche Aktivitäten oder Geräusche tun den Ohren gut?
- 9. Wann macht ein Hörgerät Sinn?
1. Was ist ein Tinnitus?
Als Tinnitus wird das Wahrnehmen von Geräuschen bezeichnet, die ihren Ursprung nicht in der Außenwelt, sondern im Körper haben, erklärt HNO-Spezialist Uso Walter in seinem Buch "Zu viel um die Ohren - Wie Stress das Hören verändert"*. Man unterscheidet zwischen objektivem Tinnitus, den jeder wahrnehmen kann (zum Beispiel durch körpereigene Geräusche wie das Strömungsgeräusch des Blutes) und subjektivem Tinnitus, der nur von den Betroffenen gehört werden kann. Ein Tinnitus kann sich entweder anhören wie ein Pfeifton, aber auch brummend, summend, pulsierend, hämmernd, klingelnd, zischend oder knarrend. Er kann auf einem oder auf beiden Ohren auftreten.
Zu viel um die Ohren: Wie Stress das Hören verändert
2. Welche Ursache hat der Tinnitus?
"Tinnitus entsteht durch irreguläre Erregungen im Bereich der Hörbahn, durch kaputte Sinneszellen im Ohr. Akut kann ein Tinnitus durch einen Hörsturz oder eine Ohrenerkrankung auftreten oder auch einfach mit zunehmendem Alter durch Verschleiß. Ein typisches Geräusch bei Verschleiß ist ein hoher konstanter Ton, ähnlich wie der Testton beim Fernsehen", erklärt Uso Walter. Brummgeräusche oder pulsierende Geräusche treten dagegen häufig bei Verspannungen in der Nacken-, Schulter- oder Kiefermuskulatur auf, so der Experte, und die können ebenfalls Tinnitus hervorrufen.
3. Wo genau liegt das Problem?
"Tritt mit zunehmendem Alter Schwerhörigkeit auf, kann auch ein Tinnitus entstehen", so Walter. "Schwerhörigkeit macht Tinnitus, nicht umgekehrt. Also kann das Ohr durch einen Tinnitus nicht kaputt gehen, aber es kann zu subjektiven Hörminderungen und Geräuschempfindlichkeit kommen." Nicht immer ist das Ohr aber selbst das Problem, erklärt der Experte. "Wenn die Hörleistung langsam abnimmt, filtert die Hörverarbeitung im Kopf störende Ohrgeräusche weg. Dieser Filter im Kopf sortiert, welche Geräusche für uns wichtig sind und welche nicht." Ein allmählich entstehendes Ohrgeräusch, das mit zunehmendem Alter deutlicher wahrgenommen wird, wird in der Regel als weniger störend bewertet. "Wenn ein Tinnitus plötzlich auftritt, zum Beispiel durch ein Knalltrauma oder extreme Lautstärke in der Diskothek, dann merkt die Hörverarbeitung: 'Da stimmt etwas nicht!', und genau dann wird das lästige Geräusch von unserem Filter verstärkt - dann nimmt man es wahr."
4. Welche Rolle spielt Stress?
Stress macht hellhörig, erklärt Walter in seinem Buch. "Durch Stress wird die Hörverarbeitung durchlässig. Das macht evolutionär gesehen Sinn, denn bei Gefahr wäre ein Filter, der sämtliche Geräusche wegfiltert, kontraproduktiv." Bei Gefahr muss der Körper schließlich wissen, was um ihn herum passiert. "Wenn wir ständig unter Stress stehen, fängt das Gehirn an, immer mehr Geräusche durchzulassen. Deshalb kann Tinnitus bei Stress auftreten, aber dieses Geräusch, das wir dann hören, ist nicht unbedingt ein neues Geräusch. Es kann sein, dass das Ohrgeräusch schon immer da war, nur nehmen wir es jetzt eben wahr, weil unser Filter durchlässiger geworden ist. Das Problem ist in der Regel also nicht das Ohr, sondern der Kopf." Somit ist auch nicht der Ton selbst das Problem, sondern die Reaktion darauf.
5. Wie gehen Betroffene mit dem Tinnitus um?
"Betroffene geraten oft in einen regelrechten Teufelskreis", erklärt der Experte. "Denn der Tinnitus selbst erzeugt ja auch Stress. Wenn wir den Tinnitus emotional negativ bewerten, nehmen wir das Geräusch noch intensiver und lauter wahr." Dadurch kann der Tinnitus Krankheitswert und Eigendynamik bekommen - mit verheerenden Folgen: "Ängste, Aggression, Depression und soziale Isolation können dann mögliche Folgen sein." Auch Suizidgedanken können auftreten.
6. Wann sollte man zum Arzt gehen?
Bei einem akuten Ohrproblem durch Lärm oder einen Gehörsturz ist Zeit ein ganz entscheidender Faktor, weil die Regeneration der Sinneszellen nur durch die Einnahme von Cortison als Tabletten oder Infusionen gerettet werden können, so Walter. "Die ersten 14 Tage sind hier entscheidend. Bei einer chronischen Erkrankung durch psychische Eskalation dauert es eher länger, wenn das Problem schon länger besteht." Aber auch hier können selbst nach Jahren noch gute Therapieerfolge erzielt werden: "Wir haben Studien durchgeführt, die belegen, dass man auch nach zehn oder 20 Jahren Tinnitus noch gute Therapieerfolge erzielen kann." Oft vergehen aber Monate, bis Betroffene bei einem Tinnitusexperten Hilfe suchen.
7. Wie sieht eine Tinnitustherapie aus?
Hier geht es primär darum, die Geräuschverarbeitung zu beeinflussen. Zu akzeptieren, dass das Geräusch bleiben wird und nun zum Ohr dazugehört, ist für viele Betroffene oft schwer, gerade bei chronischem Ohrensausen. Walter betont, dass sich aber sogar chronischer Tinnitus mit den richtigen Maßnahmen nach relativ kurzer Zeit verbessern lässt: "Die Verarbeitung im Kopf kann man immer noch positiv beeinflussen, also dass die Geräuschverarbeitung den Tinnitus nicht mehr als wichtig wahrnimmt", erklärt Walter. "Das ist ein unterbewusster Prozess, und hier spielen Stress und Emotionen eine ganz wesentliche Rolle."
Kognitive Verhaltenstherapie kann Betroffenen dabei helfen, mit dem Tinnitus umzugehen und das Geräusch anders zu verarbeiten: "Dadurch sinkt auch der Leidensdruck." Das Grundprinzip besteht darin, sich die emotionalen Bewertungen und unterbewussten Einstellungen zunächst selbst bewusst zu machen und dann abzuschätzen, ob diese nützlich sind oder schaden, schreibt Walter in seinem Buch. Wer sich ständig als Opfer seines Tinnitus sieht und sich selbst einredet, dass gegen das Ohrgeräusch nichts mehr zu machen ist, wird mehr Leidensdruck verspüren, so der Experte. Wer anfängt, den Tinnitus als Geräusch des eigenen Körpers zu akzeptieren wie den eigenen Herzschlag oder den Atem, kann sich zunehmend Taktiken zurechtlegen, um auf das auftretende Geräusch effektiv zu reagieren. Zum Beispiel mit Stressreduktion oder einer Verringerung der emotionalen Bewertung. Allerdings stellt die kognitive Verhaltenstherapie einen Lernprozess wie jeder andere dar. Deshalb muss man bei einer Verhaltenstherapie geduldig sein. "Das Gehirn muss erst neue Synapsen bilden, alte Synapsen auflösen und regelrecht trainiert werden. So eine Therapie kann mehrere Monate dauern, bis man erste Erfolge bemerkt."
8. Welche Aktivitäten oder Geräusche tun den Ohren gut?
"Stressmanagement ist einer der wichtigsten Bausteine in der Tinnitustherapie", erklärt Uso Walter. Also: Alles, was uns ruhiger macht, ist gut. "Es gibt hier keine spezielle Technik oder Tipps, das ist oft ganz individuell. Für viele ist es der Sport, für andere Yoga oder ein Spaziergang in der Natur. Alles, was unseren Körper ruhiger macht, macht auch das Geräusch ruhiger." Von Rückschlägen sollte man sich als Betroffener zudem nicht entmutigen lassen. Gerade bei chronischen Beschwerden sind Schwankungen der Intensität eher die Regel als die Ausnahme, so Uso Walter.
Bewegung und angenehme akustische Klänge können außerdem dabei helfen, dass sich unser Gehör vom lärmenden und stressigen Alltag erholen kann. Wichtig ist dieser Ausgleich vor allem für Menschen, die im urbanen Raum leben. "Interessant ist, dass gerade Städter gestresster sind. Unser Gehirn spricht deshalb so positiv auf Naturgeräusche wie Regen, Blätterrauschen oder das Plätschern eines Baches an, weil es diese Geräusche als natürlich wahrnimmt. In der Stadt haben wir relativ wenig natürliche Geräuschzustände. Oft ist es in der Stadt entweder sehr ruhig oder sehr laut - beides macht Stress und versetzt unser Gehirn in Alarmbereitschaft."
9. Wann macht ein Hörgerät Sinn?
Wenn ein Hörverlust vorhanden ist, macht es durchaus Sinn, ihn durch ein Hörgerät auszugleichen: "Damit Umgebungsgeräusche wieder deutlicher wahrgenommen werden können und der Tinnitus so in den Hintergrund tritt", erklärt Uso Walter. Wichtig ist, dass Menschen ihr Gehör nicht ständig überfordern und darauf achtgeben. "Eine dauerhafte Hörschädigung ist abhängig von Lautstärke, Schalldruck und Einwirkzeit. Wenn man in einer extrem lauten Diskothek steht und das Gehör massiv belastet wird, reichen schon fünf Minuten aus, um das Gehör dauerhaft zu schädigen." Die Konsequenzen daraus trägt man dann vielleicht ein Leben lang.
Der Beitrag erschien ursprünglich im News 39/2021.
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