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"Bleiben Sie zuhause", schallt es aus allen Kanälen. Im Sinne der Pandemiebekämpfung wiederholt die Bundesregierung unermüdlich ihren Aufruf, nicht notwendige soziale Kontakte so weit als möglich zu minimieren. Denn wo kein Kontakt, da keine Ansteckung. Was aber nicht heißt, dass Herr und Frau Österreicher von früh bis spät in den eigenen vier Wänden hocken. Im Gegenteil: Mehr denn je zieht es uns jetzt nach draußen. Im Sinne der Regeneration. Die Bewegung, die (mehr oder minder) frische Luft - gibt es nach einem langen Tag im Homeoffice denn etwas Besseres? Anstatt sich in einem Lokal auf einen Kaffee oder ein Glaserl Wein zu treffen, verabredet man sich nun zu einem Spaziergang. Einer vom Market-Institut durchgeführten Befragung zufolge ist das Spazierengehen und Wandern - in dem Fall in der Natur - sogar zum Stresskiller Nummer eins avanciert. Zweifelsohne: Spazierengehen erlebt gerade einen regelrechten Aufschwung.
Einer, der seit jeher um die Bedeutung des Spazierengehens weiß, ist Martin Schmitz. An der Kunsthochschule Kassel bringt er seinen Studenten die Grundsätze der Spaziergangswissenschaft näher. Spaziergangswissenschaft - klingt interessant. Doch worum genau geht es hier eigentlich? "Bei uns geht es um das Gehen", leitet der Promenadologe ein. "Das Gehen ist die einfachste Form überhaupt, eine Stadt oder eine Landschaft zu erschließen." Wer eine genaue Aussage über einen Raum machen wolle, müsse sich in diesem bewegen. "Das können wir zu Fuß machen. Wir können natürlich auch mit einem Auto fahren oder über eine Landschaft hinwegfliegen. Je schneller wir uns nun fortbewegen - und das ist ein wichtiger Aspekt, denn wir leben ja in einer Zeit einer noch nie dagewesenen Mobilität -, desto abstrakter nehmen wir die Welt wahr." Mit anderen Worten: Unsere Wahrnehmung verändert sich. Und mit ihr die Art und Weise, wie unsere Umgebung gestaltet wird. "Denn so, wie wir wahrnehmen, so planen wir ja auch."
An allen Schrauben der Mobilität wird gedreht
Jetzt, während der Pandemie, werde an allen Schrauben der Mobilität gedreht. Durch das Homeoffice fallen Wege weg, von Shoppingtouren keine Spur. "Und da passiert Folgendes: Die Menschen greifen auf die einfachste Form der Fortbewegung zurück: das Gehen." Um einen körperlichen wie geistigen Ausgleich zu schaffen. Und weil wir ohnehin schon lange genug sitzen, steigen wir jetzt nicht ins Auto, um ins Grüne zu fahren, sondern nutzen die Möglichkeiten vor der eigenen Haustüre. Plötzlich werden auch Wege, die zuvor mit dem Pkw erledigt wurden, zu Fuß erschlossen. So zum Beispiel der Gang zum Supermarkt. All das hat eine nicht unwesentliche Folge: "Die Leute schauen sich jetzt ihre eigene Umgebung an. Vielleicht sogar zum ersten Mal. Fragen Sie mal jemanden, welche Farbe das Haus am Anfang der Straße hat. Viele wissen das gar nicht."
Schmitz stützt seine Lehre auf die Forschung des Schweizer Soziologen Lucius Burckhardt. Der schlug die Brücke von der Architektur zur Soziologie, indem er die Welt darauf aufmerksam machte, dass Design allgegenwärtig ist. "Alles, was uns umgibt", so Schmitz, "ist menschgemacht." Um das zu erkennen, muss man genau hinschauen - und sich bewegen. Burckhardt gilt demnach als Vorreiter der Spaziergangswissenschaft, deren Weg allerdings ein steiniger war. "Man darf doch nicht einfach so eine Wissenschaft gründen. Für Akademiker ist die akademische Welt schön aufgeteilt. Dabei wissen wir ja gar nicht: Wo beginnt Musik und wo hört sie auf? Und wo fängt jetzt eigentlich Architektur an?", gibt Schmitz zu Bedenken. "2006 habe ich das Buch 'Warum ist Landschaft schön?'* herausgebracht. Da hat man sich noch über mich lustig gemacht. Heute erscheint jeden Tag ein neues Buch über das Gehen."
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Was macht einen guten Spaziergang aus?
Als "Experte fürs Spazierengehen" versteht sich Schmitz nicht. Wir wollten dennoch von ihm wissen, was einen guten Spaziergang ausmacht. Es gebe Leute, erzählt er, die ferne Länder bereisen, um diese dann zu Fuß zu erschließen. "Für die ist das ein guter Spaziergang. Ich selbst lebe seit über zehn Jahren an der gleichen Straße in Berlin und entdecke immer noch im Umkreis von, sagen wir mal, fünf Kilometern neue Dinge. Dinge, die ich zuvor nicht gesehen habe." In einer vertrauten Umgebung Neues zu erkunden, das ist also für Martin Schmitz ein guter Spaziergang. Mit unvoreingenommenem Blick und am besten zu zweit oder mehrt. Denn dann könne man sich gleich über das, was man sieht, mit seinen Begleitern austauschen. Dass man dabei seinen Gedanken freien Lauf lassen kann und sich das ein oder andere gute Gespräch ergibt, versteht sich von selbst.
Natürlich gebe es auch Spaziergangsmuffel. Schmitz erinnert sich an die sonntäglichen Ausflüge mit den Eltern, die in vielen Familien naturgemäß zu Auseinandersetzungen führen. "Als Kind ist es ja immer lustig, wenn einem Dinge gezeigt werden." Mit steigendem Alter allerdings sinke das Interesse an derartigen Unternehmungen. Wirklich arm dran seien aber Heranwachsende, die den ganzen Tag lang nur vor dem Fernseher sitzen. "Was haben die denn wohl für einen Eindruck von der Welt?" Dasselbe könnte man sich bei jenen fragen, die ihren Blick unterwegs lieber auf das Smartphone richten als auf ihre Umgebung. Sorgen bereitet dem Professor dieser Trend aber nicht. "Das ist insofern interessant, als dass sich die Orientierung durch die digitalen Möglichkeiten verändert." Wer braucht heute noch einen Stadtplan oder eine Landkarte? Dem Navi sei Dank kommen wir stets schnellstmöglich an unser Ziel. Wenn dabei auch die Wahrnehmung der Außenwelt auf der Strecke bleibt.
Von der Promenade in die virtuelle Welt
Interessant auch, dass aufgrund der zunehmenden Automobilisierung auf Fußgänger hin und wieder gänzlich vergessen wird. "Bei einigen Google-Karten wird gleich gar keine Route für Fußgänger angeboten", merkt Schmitz an. Doch nicht erst die neuen Technologien haben die Art und Weise, wie wir uns fortbewegen, verändert. Jedes Jahrhundert hat seine eigenen Ausprägungen. "Ab dem Moment etwa, wo sich das Bürgertum präsentieren wollte, wurden Promenaden gebaut." Auf denen konnte man dann nach Lust und Laune auf und ab stolzieren. Ganz anders in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts, als sich das Leben zusehends in virtuelle Welten verlagerte. Dieser Trend ist mittlerweile gebrochen. "Das Interesse an der analogen Welt hat wieder zugenommen." Und mit ihm das am Spazierengehen. Nicht erst seit der Pandemie, wohl aber verstärkt durch sie.
Eine Entwicklung, sie sich nicht zuletzt am steigenden Absatz von Spazierstöcken ablesen lässt. Dieses Phänomen nutzt der Spaziergangswissenschafter, um zur bewussten Auseinandersetzung mit der Umgebung anzuregen. Während Wanderer ihren Stock anno dazumal mit kleinen metallenen Plaketten schmückten, auf denen der Name oder ein Bild des Wanderziels zu sehen war, entwarf Schmitz einen Stocknagel - so nennt man besagte Wappen - der besonderen Art an. "Darauf steht: 'Hier ist es schön'. Das ist ein Universalwappen. Das kann man am Stock befestigen und überall hin mitnehmen. Und sich die Frage stellen: Stimmt das? Stimmt das nicht?" Auf die Frage, welchen Weg er dann doch lieber mit den Öffis fährt, antwortet Schmitz lachend: "Also nach Kassel geh ich nicht zu Fuß." Schließlich nimmt auch ein Spaziergangswissenschafter hier und da die Bahn.