Fast jeder hat diesen Tintenklecks-Versuch irgend wann einmal machen müssen oder ihn selbst versucht. Er wird bei Bewerbungen und in der medizinischen Diagnostik eingesetzt, das US-Militär benutzt ihn, und Illustrierte bieten ihn zum Selbsttest an. Bei der Diagnose von psychischen Störungen und dem Erkennen von individuellen Verhaltensformen gehört die Methode zum Handwerk der Psychologen, Psychiater und Psychotherapeuten - von den einen verteufelt, während andere sie verteidigen.
Zehn symmetrische, zufällige Bilder werden vorgelegt, die durch Zusammenklappen von Papier mit Tinte entstehen, einige schwarz-weiß, andere farbig. Die Testpersonen sollen beschreiben, was sie erkennen, welche Gefühle die Figuren auslösen und was ihnen dazu einfällt.
Wie die Reaktionen zu interpretieren sind, was sie über die Personen aussagen und Verdecktes verraten, welcher Charakter sich hinter der Fassade der Sprache verbergen könnte und ob mögliche Störungen erkennbar sind -darüber streiten Fachleute seit genau 100 Jahren. 1921 veröffentlichte der erst 37-jährige Hermann Rorschach seine Theorie des Rorschach- Tests. 1922 verstarb er an einer Blinddarmentzündung.
Bis in die Dreißigerjahre beachtete das Buch niemand, seine revolutionären Methoden wurden weitgehend ignoriert. Dann entwickelten sich unterschiedliche Rorschach-Schulen in den USA, Europa und Japan, bis der amerikanische Psychologe John Exner in den 60er-Jahren ein einheitliches Schema für die Auswertung schuf, die bis heute weltweit akzeptiert wird.
Sehen und Reden
Hermann Rorschach wurde 1884 als Sohn eines Zeichenlehrers in Zürich geboren. Er verlor die Eltern früh und übernahm schon im Alter von 18 Jahren die Verantwortung für seine jüngeren Geschwister. Wie sein Vater war er auch ein begabter Zeichner und Maler, doch der Tod seiner Eltern weckte das Interesse für Medizin. Er studierte an der medizinischen Fakultät Zürich. Sein zeichnerisches Talent und seine Begabung, optische Eindrücke zu verarbeiten, schufen in der Kombination von Grafik und Medizin die Grundlagen für seine späteren wissenschaftlichen Entwicklungen. Trotz seiner Bewunderung für Sigmund Freud und die Psychoanalyse war er überzeugt, dass das "Sehen" - die Reaktionen der Menschen auf optische Eindrücke - ein ebenso wichtiges Erlebnis sei wie das "Reden" und bei der Untersuchung der Psyche eine wichtige Rolle spiele.
1904 lernte er auf einer Reise nach Dijon in Frankreich einen engen Freund von Tolstoi kennen, der ihn für die russische Kultur begeisterte. Er studierte die Sprache, beschäftigte sich mit russischer Malerei und Literatur und traf 1906 in Moskau seine spätere Frau, die Medizinstudentin Olga Stempelin. Nach mehreren Versuchen, in Russland als Arzt zu arbeiten, kehrte er zurück in die Schweiz und übernahm 1915 eine einfache Stelle als Sekundararzt in einem Krankenhaus in der Nähe von St. Gallen.
Seine Begeisterung für Theater, Pantomime, Schattentheater und Fotografie beeinflussten seine Untersuchungs-und Behandlungsmethoden. Er entwickelte in St. Gallen, wo er im Krankenhaus als einziger Psychiater arbeitete, neue Diagnosemodelle, die zu der Theorie des "Erlebnistypus" führten -einer der Grundlagen seines später entwickelten Tests.
Kunst und Medizin
Seine seltene Begabung und Begeisterung für die Bereiche Kunst und Medizin bildete die Grundlage für eine eigene diagnostische Denkweise und ein neues Verständnis für psychische Erkrankungen. Rorschach ging davon aus, dass das kreative Element in einem Menschen die beste Quelle für medizinische Untersuchungen sei, nicht nur die verbale Auseinandersetzung. Er experimentierte mit Gedichten, Musik, Malerei und Grafik, um eine psychische Störung zu erkennen und den Zugang zum Unterbewussten zu erarbeiten. Nach Vergleichen der kreativen Methoden konzentrierte er sich auf die optischen Eindrücke. Er ließ Patienten immer wieder dieselben Bilder beschreiben, versuchte, Entwicklungen abzuleiten und Störungen zu diagnostizieren.
Bevor die Psychiatrie den Wert der Bilder-Interpretation erkannte, war es im 19. Jahrhundert nicht viel mehr als ein Gesellschaftsspiel, ein Zeitvertreib. Ein wenig Tinte auf ein Blatt Papier, in der Mitte zusammengefaltet, und jeder musste die Gesellschaft mit originellen Deutungen unterhalten. Bei "Blotto" - wie eines dieser Spiele hieß -sollten die Teilnehmer erraten, was sich hinter den Bildern verbergen könnte, die Gedanken dann in Verse oder kurze Anekdoten verarbeiten.
Erst das Zeitalter der Psychoanalyse veränderte das "Spiel" in eine Methodik der medizinischen Untersuchungen. Rorschach wählte aus mehreren Hundert selbst produzierten Grafiken zehn Bilder aus, nicht zu abstrakt und nicht konkret, und legte sie Patienten mit psychischen Erkrankungen vor. 1921 veröffentlichte er die Untersuchungen unter dem Titel "Psychodiagnostik" und beobachtete fünf grundsätzliche "Erlebnistypen":
- introversiver Typus: lebt zurückgezogen, geringe Anpassungsfähigkeit, wenige, jedoch intensive soziale Bindungen
- extraversiver Typus: stark der Außenwelt zugewandt, hohe Anpassungsfähigkeit, praktisches Denken
- kartierter Typus: eher steif, zuverlässig, stur, geringe Schwankungen
- ambiäqualer Typus: abwechselnde Phasen von Zurückgezogenheit und Interesse an der Außenwelt
- dilatierter Typus: Kombination von intround extraversiv und ambiäqualem Verhalten, sprunghaft, unberechenbar
Körperausdruck
Rorschach zeichnete auch seine Patienten, ihre Haltungen, Gesichtsausdrücke, wobei manche Skizzen so präzise waren, dass Patienten sich nach Jahren auf den Zeichnungen wiedererkannten. Seine Beobachtungen und die Veränderungen des Gesichtsund Körperausdrucks spielten eine wichtige Rolle für das diagnostische Vorgehen.
Die Auswertung der Reaktionen konzentrierte sich auf mehrere Bereiche. Welche Teile der Bilder fallen der Testperson zuerst auf? Wie schnell oder langsam reagiert sie, zögert sie, kann sie sich nicht entscheiden, gibt sie mehrere Deutungen ab, wiederholt sie sich bei verschiedenen Bildern? Wie komplex oder einfach sind die Antworten, inwieweit wird Fantasie in die Beschreibung eingebaut, oder sind es einfache, kurze Antworten? Wie wird auf Farben reagiert im Vergleich zu Schwarz-Weiß-Bildern. Kommt es zu emotionalen Ausbrüchen wie Ärger, Ablehnung, Begeisterung, Lachen, oder reagiert sie gleichgültig und gelangweilt? Jedes scheinbar nebensächliche Detail wird bei der Auswertung berücksichtigt und setzt eine langjährige Erfahrung des Therapeuten voraus, um zu aussagekräftigen Ergebnisse zu kommen.
Der Rorschach-Test ist nicht unumstritten. Er hat gleich viele begeisterte Anhänger wie Gegner. Die Kritik konzentriert sich auf den Missbrauch bei Entscheidungen, die ohne Vergleichsstudie zu einem oft dramatischen Ergebnis führen. Als psychologisches Messinstrument kann es eine Entscheidung beeinflussen, ob jemand eine Stelle bekommt, das Sorgerecht für ein Kind zugesprochen wird, eine Einweisung in eine psychiatrische Anstalt notwendig ist.
Missbrauch
So einfach die Methode ist, der Testperson einfach ein paar Bilder zu zeigen, so kompliziert ist die Ausarbeitung der Antworten, sie erfordert jahrelange Übung und Training. Die Verteidiger des Rorschach- Tests heben die Einfachheit der Untersuchung hervor, die Patienten seien meist gelöst und entspannt und dadurch auch offen, spontan und authentisch. Sie hätten nicht das Gefühl, "untersucht" zu werden. Der Missbrauch komme von schlecht ausgebildeten Therapeuten, nicht von Mängeln der Methode.
Kritiker bezweifeln das und behaupten, man könne die Befragten auch eine Tapete beschreiben lassen und daraus als Therapeut seine Schlüsse ziehen. Der Psychiater James Wood wollte die Methode verbieten, doch die Pro-Rorschach-Gemeinde protestierte und schwört auf den Test.
So debattieren Fans und Skeptiker 100 Jahre nach dem Tod von Rorschach immer noch Sinn und Unsinn der Methode -dieser Umstand alleine spricht für die Genialität der Idee und der Untersuchungsmethode.