Laura war ein liebes Kind. Höflich und zurückhaltend, brav und anpassungsfähig. Manchmal war sie ein bisschen verschlossen, und oft lag ein sorgenvoller Ausdruck auf ihren hellbraunen Augen. Was es war, das in ihrem Leben nicht rundlief, hätte sie nicht sagen können. Das wurde ihr erst mit 25 Jahren klar. Da hatte sie zum ersten Mal den Kontakt zu ihrer Mutter abgebrochen.
Laura kam lange Zeit nicht auf die Idee, das Verhältnis zu ihrer Mutter kritisch zu hinterfragen. "Früher dachte ich, sie sei meine beste Freundin, meine Ratgeberin, meine engste Vertraute.“ Offene Kritik an der heiß geliebten Mutter kam ihr nicht in den Sinn. "Erst heute weiß ich, wie sehr sie mich damals manipuliert hat. Ich war süchtig nach ihrer Liebe und Anerkennung. Jedes Mal, wenn ich nicht so war, wie sie mich haben wollte, wenn ich ein Gedicht nicht aufsagen, die falschen Freunde oder das falsche Studienfach wählen wollte, drohte sie mit Liebesentzug. Also habe ich gespurt. Wenn ich nicht ‚brav‘ war, hat sie oft tagelang nicht mit mir gesprochen, später, als ich schon ausgezogen war, hat sie sich dann einfach nicht mehr gemeldet, bis ich wieder angekrochen kam“, erzählt Laura. Heute ist sie 37 Jahre alt und Juristin - ein Beruf, den sie hasst und den sie ihrer Mutter zu verdanken hat, die damals meinte, ihr Talent sei in einem Lehramtsstudium verschwendet.
Schuld daran, dass problematische Gefühle zwischen Müttern und Kindern oft jahrelang stillschweigend hingenommen werden, sind die unantastbaren Mythen, die das Thema Mutterliebe bis heute umgeben, sagt die Psychologin Standenat.
Mythos Mutterliebe
Dass Vater und Mutter zu ehren sind, gehört zu den unumstößlichen Grundlagen abendländischer Tradition. Am Bild der selbstlosen, aufopfernden Mutterliebe wagt kaum jemand öffentlich zu rütteln. "Mütterliche Liebe ist ein uferloses Meer unendlicher Tiefe“, heißt ein russisches Sprichwort, das dieses Ideal auf den Punkt bringt. Eine Mutter, so die zur Norm verklärte Vorstellung, liebt ihr Kind, bevor sie es kennt, und sie liebt jedes Kind gleich. Sie ist geduldig und bereit, den Lebensweg des Kindes unerschütterlich zu bejahen. Sie gibt Geborgenheit, ohne einzuengen, und ist zur Stelle, wenn sie gebraucht wird.
Der österreichische Schriftsteller Adalbert Stifter drückte es vor mehr als 150 Jahren so aus: "Das Mutterherz ist der schönste und unverlierbarste Platz des Sohnes, selbst wenn er schon graue Haare trägt - und jeder hat im ganzen Weltall nur ein einziges solches Herz.“ Die Vorstellung, diesen einen besonderen Platz zu verlieren, ist bis heute beinahe undenkbar. Wer gröbere Probleme mit seiner Mutter hat oder gar den Kontakt abbricht, ist in dieser Logik so gut wie verloren und hat als Kind versagt. Eine zerrüttete Mutter-Kind-Beziehung verstößt gegen eine Art Lebensgesetz - gesprochen wird darüber selten.
Befeuert wird der Mythos Mutterliebe von der Tatsache, dass viele Bindungen heute früher oder später in die Brüche gehen. Die Scheidungsrate ist hoch, die Mobilität untergräbt langjährige Freundschaften. "Da ist die Beziehung zwischen Mutter und Kind oft die letzte, die Stabilität suggeriert“, sagt Ulrike Zartler, Soziologin an der Universität Wien.
Die gesellschaftliche Anforderung, dass zwischen Müttern und Kindern ein emotional stabiles Band bestehen soll, ist erst in der Neuzeit entstanden, sagt Zartler. Das Bild der selbstlos liebenden Mutter, das uns heute so geläufig ist, dass wir es für das einzig Natürliche halten, ist eine Erfindung des 18. Jahrhunderts. "Mit diesem neuen Bild der fürsorglichen Mutter als Hauptverantwortlicher für das Glück und die Entwicklung ihrer Kinder entstand erst die Basis für das Schuldbewusstsein, diesem Ideal nicht zu entsprechen“, sagt Zartler. Freilich gab es auch vorher Mutterliebe, aber sie war nicht zu allen Zeiten, nicht in allen Schichten und schon gar nicht als angeborene Konstante vorhanden.
Auch eine intensive Betreuung der Kinder durch die Mütter fand früher nicht standardmäßig statt. In der bäuerlichen Bevölkerung war der Nachwuchs über weite Strecken des Tages auf sich selbst gestellt oder lief bei der Arbeit der Eltern nebenher. Für die Erziehung waren ältere Geschwister, in großen Haushalten auch Knechte oder Mägde, mitverantwortlich, und bereits im Kleinkindalter wurden Kinder als Arbeitskraft mit eingeplant.
In gesellschaftlich höheren Schichten beschränkte sich der Kontakt der Mütter zu ihren Kindern meist auf tägliche Kurzvisiten, bei denen Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht wurden. Eine liebevolle Bindung wäre als Verzärtelung, zu viel Sorgfalt als Pedanterie verurteilt worden. Die Erziehung wurde von Ammen, Gouvernanten und Hauslehrern übernommen. Eine Folge des weitverbreiteten Ammenwesens war allerdings die hohe Säuglingssterblichkeit.
Madonna mit Kind
Als im Lauf des 18. Jahrhunderts der Wert menschlichen Lebens - für die Produktivität und die Verteidigung eines Staates - erkannt wurde, galt es, das Überleben der Kleinkinder zu sichern. Dafür brauchte man die Mütter. Ihr Rollenverständnis sollte sich von nun an von der fleißigen Arbeitsgenossin des Mannes zur fürsorglichen Mutter und Hausfrau wandeln.
"Der Mann muss hinaus ins feindliche Leben (…) und drinnen waltet die züchtige Hausfrau, die Mutter der Kinder, und herrschet weise im häuslichen Kreise“, beschrieb Friedrich Schiller 1799 im "Lied von der Glocke“ das neue Familienideal. Der Nationalsozialismus trug zu einer weiteren Verklärung des Muttertums bei, während die Frau auf ihre Rolle als "Garant für stählerne, kampfbereite Nachkommen“ reduziert wurde. Die 50er- und 60er-Jahre stilisierten die Familie schließlich zum unantastbaren Ort der Liebe, des Glücks und des Friedens. Die Rolle der Frau war die der fürsorglichen, altruistischen Mutter, symbolisiert durch die Madonna mit Kind. Als Ideal ist dieses Bild in den Köpfen bis heute fest verankert.
Enttäuschung tut weh
Mit der Realität hat es oft wenig zu tun. Wie alle menschlichen Beziehungen kennt auch die zwischen Mutter und Kind Enttäuschungen, Widersprüche, Lügen und uneingestandene Gefühle von Zorn, Neid und Schuld, sagt Psychologin Standenat und fordert: "Wir müssen mit diesen Mythen aufräumen.“ Die Verhaltensstandards setzen nicht nur Mütter unter Druck, sie verstören auch Kinder, deren Mütter von dieser unhinterfragten Norm abweichen.
"Zu erkennen, dass ich für meine Mutter nur dann liebenswert war, wenn ich so war, wie sie mich haben wollte, war wahnsinnig schwer“, sagt Laura. "Noch schwerer war die Einsicht, dass ich nie die Mutter haben werde, die ich mir wünsche, die sich jeder wünscht. Das war für mich der schmerzhafteste Moment. Und es ist bis heute schwer aushaltbar.“
"Kinder sehnen sich im Grunde ihres Herzens immer danach, von Mama oder Papa lieb gehabt und anerkannt zu werden“, sagt Standenat. "Umgekehrt lieben Eltern ihre Kinder nicht immer.“ Manchmal trennen sich die Lebenswelten auch einfach. Man entwickelt unterschiedliche Interessen und Wertehaltungen und entfernt sich im Lauf der Jahre emotional. "Nur weil man blutsverwandt ist, muss man jemanden nicht für immer lieben“, sagt die 80-jährige Wienerin Mathilde F. Wenn ihr 57-jähriger Sohn Friedrich einmal im Jahr aus dem Waldviertel in die Bundeshauptstadt fährt und für eine Stunde bei seiner Mutter vorbeischaut, ist das für Mathilde, "als würde der Hausmeister von der Nebenstiege klingeln. Es kommt kein Gespräch zustande, keine Emotion.“ Und wenn er sich mit dem Hinweis auf den ablaufenden Parkschein verabschiedet, fragt sich Mathilde, warum er überhaupt gekommen ist.
Wie es so weit kam, kann die alte Dame nicht erklären. Eine Mitschuld sieht sie bei Friedrichs Frau, mit der er seit fast 40 Jahren verheiratet ist, der "nichts jemals gut genug war“ und zu der Mathilde nie einen Draht finden konnte. Die Schwiegertochter habe das wohl auch gespürt, und so wurden die Besuche weniger, bis der Kontakt irgendwann auslief. Es gab auch schon Jahre, in denen sich Friedrich gar nicht gemeldet hat - Mathilde auch nicht. Kränken lässt sie sich davon aber nicht mehr, sagt sie. "Ich bin ein nüchterner Mensch. Wer nicht will, der hat schon. Ich stelle mir manchmal vor, dass sie nach Amerika ausgewandert wären, dann würde ich sie auch nicht sehen.“
Mütter sind Menschen
Mütter sind auch nur Menschen. "Jede trägt ihren eigenen Rucksack an ungelösten Konflikten, Sorgen, Ängsten und Emotionen mit sich herum. Wenn sie nicht versucht, diese für sich zu lösen, gibt sie sie unbewusst an ihre Kinder weiter“, sagt Psychologin Standenat. Davor, dass ihr das mit ihren eigenen Kindern passieren könnte, fürchtete sich Katja B. Sie selbst war ein schwieriges Kind, wie ihr die Eltern zeitlebens versicherten. Aufmüpfig, zickig und trotzig. Ihre Mutter versuchte mit strengen Regeln, Kontrolle und Abwertungen entgegenzuhalten. "Nichts konnte ich ihr recht machen“, erinnert sich die 35-jährige Frau. "Ich hatte die falsche Kleidung, die falschen Haare, die falschen Freunde.“
Wenn Katja B. Schwierigkeiten in der Schule hatte, fühlte sich die Mutter bestätigt und meinte nur: "Wenn du zu deppert bist, dann hörst halt auf.“ Als Katja Anfang 30 mit ihrem Sohn schwanger wurde, sagte die Mutter schnippisch: "Du wirst dich noch anschauen, wenn du glaubst, das wird so leicht. Du hast ja keine Ahnung.“ Kein "Wir schaffen das“ oder "Ich helfe dir“. Als Katja kurz darauf mit ihrer Tochter schwanger wurde, lachte die Mutter nur und meinte, das geschehe ihr recht, dass sie nun auch ein so kompliziertes "Madl“ bekomme.
Katja, die mittlerweile in Wien lebt und für die jeder Aufenthalt bei ihren Eltern in Tirol mit Tränen und Verbitterung endete, dachte über einen Kontaktabbruch nach. "Der Gedanke hat sich gut angefühlt.“ Was sie daran hinderte, waren ihre Kinder. "Ich wollte sie nicht in die Situation bringen, dass sie ihre Großmutter nicht sehen können, und ich wollte das Ganze nicht auf sie übertragen. Auch aus Angst, dass es mir mit ihnen auch einmal so gehen könnte.“ Also entschied sich Katja stattdessen für eine Therapie, in der sie ihr Verhältnis zu ihrer Mutter aufarbeitete. Mit professioneller Hilfe lernte Katja, aus ihrer Kind-Rolle herauszufinden und ihrer Mutter auf Augenhöhe zu begegnen.
Vor allem lernte sie, ihre Mutter so zu sehen, wie sie ist, und zu erkennen, was sie bereit und in der Lage ist zu geben. Bestätigung und Anerkennung holt sich Katja B. heute von ihrem Partner, Freunden und Kollegen. "Früher hatte ich so viele Ansprüche an meine Mutter. Sie sollte liebevoll und empathisch sein, mich toll finden und am besten alles verstehen. Heute weiß ich, dass sie so einfach nicht ist. Ich versuche, mich auf ihre positiven Seiten zu konzentrieren. Manche Dinge, die früher so konfliktgeladen waren, spreche ich einfach nicht an. Und wenn ich mich doch kränke oder ein Konflikt zu eskalieren droht, dann sage ich: ‚Lass uns bitte das Thema wechseln, sonst streiten wir.‘“ Natürlich stößt die "neue“, erwachsene Katja damit bei ihrer Mutter nicht immer auf Verständnis. "Manchmal reagiert sie patzig, trotzig, und dann ist es fast so, als wäre sie das Kind, aber immer öfter lenkt sie dann tatsächlich ein.“
Exit Kontaktabbruch
Dass die Beziehung zwischen Müttern und erwachsenen Kindern nicht auf Augenhöhe stattfindet, ist ein häufiges Problem. Oft verpassen Mütter den Sprung vom Unmündigen zum Erwachsenen, von der Erziehung zur Beziehung, und wollen an alten Hierarchieebenen festhalten, sagt Standenat. Bevormundung, fehlende Anerkennung und Abwertungen sind die Folge.
So war es auch bei Laura, der Juristin. Als sie mithilfe ihrer Therapeutin erkannte, wie viel in der Beziehung zur Mutter schiefgegangen war, wollte sie über ihre Einsichten reden. Ihre Mutter wollte es nicht hören. Sie reagierte mit bitteren Angriffen gegen sie und die Therapeutin, die ihr den Blödsinn einrede. Laura versuchte es mit einem Brief, die Mutter antwortete auf 20 Seiten, gespickt mit wütenden Vorwürfen angesichts der "Undankbarkeit“ der "egozentrischen Tochter“.
Laura gab auf. Sie wollte und konnte nicht mehr die Rolle der angepassten, traurigen Tochter übernehmen, in der sie für die Mutter liebenswert war. Also meldete sie sich nicht mehr. Ihre Mutter auch nicht. Das ist nun zwölf Jahre her. Gut geht es Laura damit nicht, aber sie hat gelernt, mit der Situation zu leben und sich emotional von ihrer Mutter zu lösen. "Ich arbeite daran zu realisieren, dass ich liebenswert bin, auch wenn meine Mutter das nicht so sieht.“
Die Beziehung zwischen Müttern und Kindern ist kein Selbstläufer. Weder Dankbarkeit noch Muttersein allein sind auf Dauer tragende Säulen. Wie bei allen Beziehungen braucht es auch hier die Bereitschaft, den andere mit seinen Stärken und Schwächen zu erkennen und zu akzeptieren - in ständiger Beziehungsarbeit. Wenn das so gar nicht möglich ist, ist eben manchmal die Trennung der erträglichere Weg.
Buchtipps
Ein Ratgeber für verlassene Eltern aus Sicht einer betroffenen Mutter: "Wenn Kinder den Kontakt abbrechen. Hilfestellung und Strategien"* von Angelika Kindt, Südwest, € 17,50
Streitschrift für das Muttersein und gegen den Druck, in Familie und Beruf gleichermaßen performen zu müssen. Alina Bronsky und Denise Wilk: "Die Abschaffung der Mutter"*, DVA, € 18,50
Auf einfühlsame Weise geht Tina Soliman den Hintergründen rund um das Phänomen Kontaktabbruch nach: "Funkstille. Wenn Menschen den Kontakt abbrechen"*, Klett-Cotta, € 18,50
Wie die Biografien der Mütter das Leben, die Bindungs- und Liebesfähigkeit von Töchtern beeinflussen: "Mütter sind auch Menschen"* von Claudia Haarmann, Orlanda, € 20,-
Christina Mundlos spürt den Gründen für das Phänomen "Regretting Motherhood" nach und gibt Ratschläge für Betroffene: "Wenn Mutter sein nicht glücklich macht"*, MVG-Verlag, € 15,50
Ein Band mit Texten über Mutterschaftsmythen im Licht ihrer historischen, psychologischen und sozialwissenschaftlichen Dimension: "Mutterbilder"*, Psychosozial-Verlag, € 25,60
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