"Jetzt reicht es aber!" Kaum jemand macht Eltern so wütend wie die eigenen Kinder. Doch wie bleibt man auch in Stress-Situationen oder Trotzphasen ruhig und liebevoll, wie viele Fehler darf man sich als Eltern erlauben? Und schreien Papas eigentlich nicht? Das beantworten Eltern- und Familientherapeutin Sandra Teml-Jetter sowie die Kommunikationstrainerin Jeannine Mik im Gespräch zu ihrem Buch "Mama, bitte nicht schreien", das bereits vor Veröffentlichung (27. Mai) aufgrund der großen Nachfrage nachgedruckt werden musste. Ein Thema also, das offenbar den Nerv der Zeit trifft ...
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News.at: Ihr Buch heißt "Mama nicht schreien". Ein sehr präsentes Thema in eurer Arbeit?
Sandra Teml-Jetter: Ja, es ist allgegenwärtig. Viele Mütter fühlen sich schlecht, weil sie ihrem Idealbild der "perfekten Mutter" nicht entsprechen: Sie sind nicht die Mutter, die sie in ihren Augen sein sollten oder müssten, um "gut" zu sein. Wir Eltern sind da vorbild- und orientierungslos!
Jeannine Mik: Mit unserem Buch wollen wir eben diese Orientierung geben, indem wir Mamas wieder mit ihrem inneren Kompass und ihrem eigenen Wollen in Kontakt bringen.
Der Untertitel lautet "Liebevoll bleiben bei Stress, Wut und starken Gefühlen". Wie kann das gelingen?
Teml-Jetter: Dazu muss man das Buch lesen! Kurz gesagt geht es darum, dass man zuerst einmal anerkennen muss, wo man selbst stehst: Was geht (schon) und was nicht? Es geht um die "Selbstanbindung", wie Thomas Harms es nennt, also das Verbundensein mit dem eigenen Körper – auch bei Stress. Es geht darum, die eigenen Emotionen und den Umgang damit kennenzulernen.
Mik: Die meisten Menschen sind ihren Emotionen gegenüber im Vermeidungsmodus – wir laden ein, emotionale Wellen zu surfen, anstatt sie zu bekämpfen. Dasist Umgang mit der Realität. Erkennt man seine Emotionen an, nimmt man sie wahr und geht man mit ihnen um, können sie weiterziehen. Versucht man hingehen, sie zu "umgehen", bleibt die Energie und kann nicht verarbeitet werden. In unserem Buch stellen wir den "Werkzeugkoffer" dafür bereit, aber die Handwerkerin ist und bleibt die Leserin selbst.
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© Video: News.at
Was stresst Eltern in der Regel oder macht sie so wütend, dass sie ihr Kind anschreien?
Mik: Die Gründe dafür sind so vielfältig wie Elternschaft selbst. Um ein paar häufige anzusprechen – neben der Tatsache, dass viele Mamas zu wenig an sich und ihr Wohlergehen denken: Oftmals ist der Wille des Kindes das, womit Eltern nicht umgehen können, wenn er sich von ihrem eigenen unterscheidet und sie ohnehin schon gestresst bzw. überfordert sind. Einerseits kann dies daran liegen, dass wir selbst, dank unserer Erziehung, als Kinder oftmals nur wenig oder nichts "wollen" durften, weil es unseren Eltern unangenehm war oder "es sich nicht gehörte". Andererseits sorgen auch die starken, klaren Emotionen unserer Kinder mitunter für elterliche Überforderung. Etwa dann, wenn Eltern selbst den Umgang damit in ihrer eigenen Kindheit nicht erlernen durften. Wenn Kinder in unser Leben treten, wird es höchste Zeit, sich mit dem eigenen Werden zu beschäftigen. Solange wir nicht bereit sind, hinzuhören und hinzufühlen auf das, was uns selbst geprägt hat, werden unsere Kinder uns immer wieder solche "Einladungen" schicken, damit wir hoffentlich endlich ins Spüren kommen.
Teml-Jetter: Unsere Kinder leben mit uns, in unserem Paar- und Familienklima, und reagieren darauf. Jesper Juul nennt das "Kooperieren". Sie weisen uns also punktgenau darauf hin, wo was nicht stimmt. Und dann liegt es an uns, hinzuschauen und Verantwortung zu übernehmen.
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Ist das ein reines "Mama-Problem"? Oder schreien auch die Väter?
Teml-Jetter: Auch Väter schreien. Leider nutzen noch immer weniger Männer Beratungsangebote im privaten Kontext. Aber viele Väter gehen aus Liebe zu ihren Frauen mit zum Coaching - und sind dann ganz überrascht, dass da nicht die Besserwisserin sitzt, die ihnen sagt, was sie zu tun haben, sondern sie fragt, ob sie mit der Beziehung zu ihrem Kind zufrieden sind. Darüber können sie dann nachdenken.
Vermutlich rutscht jedem Elternteil mal ein Schrei aus, wenn das Kind in einer stressigen, unangenehmen Situation trotzt. Ab wann wird das zu viel?
Mik: Jesper Juul hat einmal gesagt, dass 25 Fehler am Tag ganz normal sind. Man muss das ja nicht immer ausreizen. Solange man bemüht ist, immer wieder den Kurs zu korrigieren, Allianzbrüche zu reparieren und sein Bestes zu geben, ist alles gut. Es ist ein Prozess! Liebe, Vertrauen und Mut helfen auf dem Weg.
Was hat das eigene Elternhaus damit zu tun, wie oft ich als Elternteil mein Kind anschreie?
Teml-Jetter: Viel! Was sind meine Prägungen? Was hat sich wie ein Automatismus in mein Hirn eingebrannt? Wenn ich keine bewusste, wache Elternschaft lebe und mich auf meine Muster beschränke, wiederhole ich Altbekanntes. Und dabei darf man nicht vergessen, dass Kinder bis etwa Mitte der 1990er-Jahre noch nicht als "echte Menschen" und kompetente Wesen gesehen wurden. Erst ab dieser Generation verändert sich auch gesellschaftlich etwas und immer mehr Eltern beginnen, ihren Kindern anders zu begegnen. Das beginnt schon damit, dass Kinder nach der Geburt nicht einfach zur Schonung der Mutter automatisch von ihr getrennt und nur zum Stillen gebracht werden. Diese traumatische Erfahrung ist unseren Kindern glücklicherweise zum großen Teil erspart geblieben!
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Was bewirkt es bei Kindern, wenn sie angebrüllt werden? Was löst das in ihnen aus?
Teml-Jetter: Wenn es im Affekt passiert, dann erschrecken Kinder. Wenn sie hingegen als (emotionaler) Blitzableiter gebraucht werden, kommt zuerst Ekel und dann Hass in ihnen hoch. Und Entsetzen, dass jemand, der vorgibt, sie zu lieben, so etwas tut. Das hat traumatische Folgen – sowohl für das Gehirn als auch für die Beziehung. Es entsteht nämlich so etwas wie eine "traumatische Bindung" und die ist später nur sehr schwer aufzulösen.
Sie schreiben: "Unsere Kinder gehören uns nicht. Sie sind nicht unser Besitz." Ist das eine verbreitete Annahme?
Mik: Wir stellen immer wieder fest, dass blinde Erziehung mit willkürlicher Machtausübung und erwartetem Gehorsam einen nach wie vor viel größeren Platz in unserer Gesellschaft einnimmt, als uns lieb und für die Entwicklung unserer Kinder gesund wäre. Wie Sandra bereits angesprochen hat: Wenn wir nicht selbst denken, unser Großwerden reflektieren und neue Wege suchen, wiederholen wir nur das, was wir aus unserer eigenen Kindheit kennen. Und für viele Eltern heißt Erziehung immer noch: "Ich sage, du machst!" Manchmal servieren sie die bittere Pille mit Zuckerguss und säuseln, statt zu schreien – aber an ihrer Haltung ändert das nichts. Erst, wenn wir wirklich verinnerlichen, dass unsere Kinder eigenständige Menschen mit ihrem eigenen Willen, Realität und Gedanken sind, können wir wirklich beginnen, ihnen gleichwürdig zu begegnen.
Teml-Jetter: Kinder sind gekommen, um zu gehen. Auch damit müssen wir uns anfreunden. Der Tag kommt! Ich weiß, wovon ich spreche!
"Dass das Fass so randvoll wurde, liegt in deiner Verantwortung", schreiben Sie. Was kann man unternehmen, damit dieses Fass erstens wieder leerer und in Folge gar nicht mehr so voll wird?
Teml-Jetter: Ich freue mich immer, wenn ich was dazu beitragen kann, dass Fässer übergehen. Oft träufle ich in meiner Arbeit den letzten Tropfen in das Fass. Dann kann sich das Ganze neu sortieren. Das ist sehr unangenehm, irritierend. Das ist Wachstum. Und dann kann sich alles wieder beruhigen - bis das nächste Fass voll wird. Wie gesagt: Es ist ein Prozess! Es ist das Leben - und darüber haben wir begrenzt Kontrolle!
Wie oft hören Sie den Satz: "Ich kann meinem Kind doch nicht alles durchgehen lassen?"
Teml-Jetter: Oft. Wir raten aber auch nicht, zu allem Ja und Amen zu sagen. Das wäre ja nicht einmal annähernd kreativ! Wir Eltern müssen Alternativen finden, die zu unserer jetzigen Situation passen. Dazu müssen wir nachdenken, unser Gehirn benutzen, wach sein. Das ist anstrengender, als sich in Gewohnheiten zu suhlen.
Ist Schimpfen erlaubt, erwünscht? Um Grenzen zu setzen?
Teml-Jetter: Alle Emotionen sind erlaubt und erwünscht, und ein bedachter Umgang mit ihnen. Und Grenzen haben wir. Dem widmen wir im Buch ein ganzes Kapitel!
"Wenn dein Kind dich schlägt, ist das seine Ausdrucksmöglichkeit, die ihm gerade in diesem Moment zur Verfügung steht. In einer solchen Situation hat es keinen Sinn, das Kind darum zu bitten, dass es aufhört, weil es noch nicht anders kann", schreiben Sie. Ab wann kann ein Kind es anders?
Mik: Das kommt in erster Linie darauf an, was es bei seinen Eltern gesehen hat: Wie gehen sie mit ihrer Wut um und wie lösen sie Konflikte? Geben sie ihrem Kind begleitende Worte und den Raum, den es braucht, um sich auszudrücken? Erlauben sie ihrem Kind, die emotionale Welle zu surfen? Oder erwarten die Eltern, dass das Kind seine Gefühle (möglichst still und schnell) managen können muss, obwohl sie sich von ihren eigenen immer wieder ganz erfassen lassen und ihr Emotionsmanagement in Wahrheit einer einzigen Baustelle gleicht?
Teml-Jetter: Ab vier Jahren können sich Kinder langsam, langsam immer besser selbst beruhigen. Aber, wie gesagt: Wie beruhigen sich die Eltern?
Eine weitere Aussage des Buches ist: "Willst du in Gleichwürdigkeit leben und dein Kind auf Augenhöhe begleiten, hat erwarteter Gehorsam keinen Platz." Wie lässt sich das bei unumgänglichen Dingen wie etwa dem täglichen Zähneputzen umsetzen? Kleine Kinder müssen das auch machen – aber verstehen vielleicht noch nicht ganz, warum.
Teml-Jetter: Kinder putzen Zähne, wehren sich aber dagegen, wenn sie damit auch gleichzeitig die Zukunftsängste ihrer Eltern vor zahnärztlichen Katastrophen und schwarzen Zähnen regulieren müssten. Sobald sie merken, dass sie ihre Eltern emotional managen sollen, schalten sie auf NEIN: "Nein, kümmere du dich um deine Ängste! Ich putze meine Zähne."
Ist es doch einmal passiert und das Kind wurde angeschrien - wie verhält man sich danach am besten?
Teml-Jetter: Kinder merken es sofort, wenn wir bereuen, was wir getan haben - nach der Rage. Da ist eine Entschuldigung oft nur noch das ausgesprochene Sahnehäubchen. Schon kann alles wieder gut sein. Ich bin übrigens gegen Selbstgeißelung - mehr für: Aufstehen, Krone richten, weitermachen.
Mik: Für uns Eltern ist es wichtig anzuerkennen, dass wir nicht liebevoll zugewandt sein können, wenn wir selbst noch immer in Rage sind. Sind wir einmal so außer uns, läuft unser Handlungsspielraum gegen Null. Dann gilt es, uns zu stoppen, den Kontakt mit unserem Körper wiederherzustellen, ins Spüren zu kommen. Das kann sehr herausfordern, aber es ist möglich. Und es lohnt sich! Mit der von uns entwickelten Notfallhilfe "C.I.A.", die wir im Buch ausführlich beschreiben, kann das nach und nach immer besser gelingen.
"Wir müssen also bei uns selbst anfangen, um uns um alles andere hinreichend kümmern zu können", schreiben Sie. Wie schwer fällt das den Müttern in der Regel? Und wie oft wird es zwar vom Umfeld so gesagt – aber im Endeffekt dann doch nicht gewünscht, dass sich Mütter auch mal um sich selbst kümmern?
Teml-Jetter: Selbstfürsorge, bei sich bleiben, Selbstanbindung sind für ganz viele Menschen Fremdwörter. Deswegen verzweifeln auch so viele Mamas, schließlich sollten das schon können oder zumindest kennen ... Aber wir haben es nicht gelernt! Wir ermutigen Mütter, sich selbst genauso zuzuwenden, wie sie sich ihren Kindern zuwenden: "Was brauchst du jetzt? Was willst du? Wie willst du sein? Was ist los?" Man soll sich selbst die Fragen stellen, die einem nie gestellt wurden. So ist es, laut Milton Erickson "nie zu spät für eine glückliche Kindheit". Und man darf ruhig in der dritten Person mit sich sprechen. Es gibt so viele Stimmen in uns, die das auf ablehnende Weise tun - warum nicht mal was Neues probieren?
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Kinder kennen in der Regel die wunden Punkte der Eltern. Sie wissen ganz genau, welche Knöpfe sie drücken müssen, um die Eltern zur Weißglut zu treiben. (Wie) ist es schaffbar, sich genau davon nicht provozieren zu lassen?
Teml-Jetter: Indem man es nicht als Provokation sieht. Das ist es nämlich nicht - die Frage suggeriert das aber. Damit wird schon ein Bild vom "bösen" Kind suggeriert, eine Realität geschaffen, die es so nicht gibt. Kinder tun das, um ihre Eltern auf etwas hinzuweisen oder um etwas zu kämpfen. Man soll es also als Einladung sehen, seine innere Orientierung immer wieder nachzuschärfen, zu korrigieren.
Haben wir in der Regel zu hohe Erwartungen an unsere Kinder – oder trauen wir ihnen zu wenig zu?
Teml-Jetter: Wir erwarten von Kindern, dass sie mehr können als wir. Sie sollen glücklich sein und sich ausdrücken und Emotionen haben und einen freundlichen Umgang pflegen. Wir selbst schnauzen unsere Partner an, sind miesepetrig und angefressen. Das nenne ich Heuchelei. Deswegen frage ich immer: Gibst du schon dein Bestes?
Was entgegnen Sie Sätzen wie: "Mir hat das auch nicht geschadet"?
Teml-Jetter: Wer so etwas zu mir in meinem Coaching sagt, der sagt ja, dass er/sie nichts verändern will. Der ist dann bei mir falsch. Das sage ich dann auch, dass ich nicht die Richtige für ihn/sie bin.
Mik: Wer so etwas sagt, der lässt erahnen, dass er sich der Erforschung seines eigenen Werdens und der Chance auf Wachstum nicht nur verschließt, sondern auch, dass ihm auf seinem Weg bis ins Heute – womöglich durch seine eigene Erziehung – auch seine Empathie abhanden gekommen ist. Denn sonst würde er es spüren, diesen dumpfen Stich, immer, wenn Kinder Ablehnung, Trennung oder Gewalt erfahren.
Mama, nicht schreien!: Liebevoll bleiben bei Stress, Wut und starken Gefühlen. - Mit zahlreichen Übungen & Notfallhilfe
"Jetzt reicht’s mir aber!!" Kaum jemand macht Eltern so wütend wie die eigenen Kinder. Denn häufig bestimmen übermäßige Angst, Kränkbarkeit und andere Stressreaktionen den Familienalltag. Diese Emotionen führen schnell dazu, dass Eltern ganz anders reagieren, als sie es sich eigentlich wünschen. Dieses Buch mit seinen vielen Reflexionsimpulsen hilft Eltern zu unterscheiden, wann sie erwachsen denken und wann sie mit ihrem Verhalten in automatische Muster fallen. So wird es möglich, den Kindern auf Augenhöhe zu begegnen, mit ihnen in Beziehung zu treten und gemeinsam nach Lösungen zu suchen, die für alle Beteiligten in Ordnung sind.
Zu den Autorinnen:
Jeannine Mik ist als diplomierte Kommunikationstrainerin in der Erwachsenenbildung tätig und Gründerin des "Zentrums für bewusste Elternschaft" in Wien. Sie bloggt seit 2014 auf Mini and Me, einem der erfolgreichsten Eltern-Blogs in Deutschland und Österreich.
Sandra Teml-Jetter ist Einzel- und Paarcoach sowie Eltern- und Familienberaterin mit zahlreichen Weiterbildungen, u. a. bei Jesper Juul und David Schnarch. Sie arbeitet in ihrer eigenen Familienberatungspraxis "Wertschätzungszone" und tritt nachhaltig für den emotionalen Klimawandel in Familien ein.
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