Im Juli 2019 verstarb der führende dänische Familienexperte Jesper Juul nach schwerer Krankheit. Anfang 2020 erschien posthum sein letztes Buch, in dem er noch einmal verzweifelten Eltern Rat mit auf den Weg gibt. Dabei geht es vor allem um selbstbestimmte Kinder. Juul gibt Unterstützung für Eltern, deren Kinder früh nach Autonomie streben. Hier ein paar Auszüge und Tipps für besorgte Eltern:
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Was ist ein selbstbestimmtes Kind?
„Ein selbstbestimmtes oder autonomes Kind ist ein Kind, das von Geburt an auf sein Selbstbestimmungsrecht besteht und dadurch seine Eltern an ihrer Liebe und dem Wert ihrer Fürsorge zweifeln lässt“, beschreibt Juul eingangs. Damit sind also Kinder gemeint, die ihre Entscheidungen – auch schon im ganz jungen Alter – selbst treffen wollen. Sie scheinen zu wissen, was gut für sie ist und lassen sich weder durch Strafen noch Belohnungen manipulieren. Sehr oft kommen autonome Kinder mit einem „fertigen“ Körper und einem „reifen“ Gesichtsausdruck zur Welt und oftmals wollen sie auch nicht allzu viel Körperkontakt.
Zu beachten ist jedoch, dass nicht jedes Kind, das „frech“ oder unerzogen wirkt oder sich im „Trotzalter“ befindet, gleich ein autonomes Kind ist. Selbstbestimmte Kinder machen meist einen robusten Eindruck und „können sich im Zusammenspiel mit ihren Eltern nicht anders verhalten, solange diese ihre Grenzen nicht achten und ihr Bedürfnis nach Selbstbestimmung nicht akzeptieren.“
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Wie verhält man sich gegenüber dem eigenen, autonomen Kind?
Juul beschreibt eine verzweifelte Mutter, deren Tochter von Geburt an alles abwehrte, was die Mutter jedoch als notwendige und liebevolle Fürsorge verstand, wie etwa die Haar zu bürsten, sich dem Wetter gemäß anzuziehen, kuscheln oder genügend essen. Doch die Tochter wollte nicht. Juul dazu: „Selbstbestimmte Kinder haben genau dieselben Bedürfnisse wie andere Kinder, müssen aber über Zeitpunkt, Ort und Menge bestimmen können.“ Er rät also, dem Kind eine Art „Buffet“ anzubieten, damit das Kind selbst bestimmen kann. Angst davor, dass das Kind solche Angebote missbrauchen könnte, brauchen die Eltern dabei nicht haben, denn autonome Kinder hätten großen Respekt vor den Grenzen anderer, so Juul.
Jedoch dürfe man jedes Angebot nur einmal sagen, denn „jede Wiederholung signalisiert entweder, dass Sie dem Erinnerungsvermögen oder dem Kooperationswillen Ihres Kindes misstrauen“ und dadurch verliere das Angebot an Glaubwürdigkeit.
Wichtig sei auch, dass ein selbstbestimmtes Kind jedoch die Familie nicht steuere – und das wollen diese Kinder auch gar nicht. Die Eltern müssen sich, so Juul, ihrer Führungsrolle bewusst machen – und nicht so tun als sei das Kind „ein machtdürstendes Monster“.
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Autonome Kinder und Geschwister
In den meisten Familien gelten dieselben Regeln und Bedingungen für alle Kinder. Womit jedoch, so Juul „die alte Erkenntnis, dass eine gleichwürdige und gerechte Behandlung notwendigerweise eine unterschiedliche Behandlung sein muss, weil wir Menschen nun mal verschieden sind“ in den Wind geschlagen würde. Doch gerade bei einem selbstbestimmten Kind sollte man sich wieder darauf besinnen, denn nur so würden diese möglichst viel davon bekommen, was sie brauchen – und wenig von dem, was ihnen schadet. Dafür übernehmen autonome Kinder auch gerne Verantwortung für ihre Entscheidungen – was wiederum eine enorme Inspiration sein kann.
Beziehung statt Diagnose
Jesper Juul will mit seinem Buch, in dem es vor allem Briefe, die Eltern an den Therapeuten geschrieben haben, zu lesen gibt bzw. seine Antworten darauf, vor allem die Inspiration geben, diese Kinder so zu sehen, wie sie sind, statt als Phänomen. Und auch die Eltern werden dazu angehalten, sich nicht als jene zu sehen, die dieses „Phänomen“ kurieren müssten und könnten.
Warum ein Kind eben so sei, sei überhaupt zweitrangig und würde nicht dabei helfen, einen Weg zu finden. „Hinzu kommt, dass autonome Kinder, soweit ich weiß, schon als autonome Kinder geboren werden und dass alle Versuche, sie liebevoll, pädagogisch und therapeutisch zu manipulieren, zum Scheitern verurteilt sind“, schließt Juul.
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Zum Autor: Jesper Juul (1948-2019) war einer der bedeutendsten und innovativsten Familientherapeuten Europas, Konfliktberater und Gründer des Elternberatungsprojekts familylab international, die sich auf die Beratung von Eltern in Erziehungsfragen spezialisiert hat. Zentrales Thema von Juuls Arbeit war die Gleichwürdigkeit. Unter dem Begriff versteht man, dass Kinder und Schwache dieselben Rechte wie andere in der Gesellschaft haben.