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Wie Karies die Kasse klingeln ließ

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Karies Kriminalfall

©Ricardo Herrgott/News
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Kriminalfall zwischen Spritze und Bohrer: Eine als einfühlsam bekannte Zahnärztin soll systematisch gesunde Gebisse "saniert" und bleibende Schäden verursacht haben. Nun sprechen erstmals die Opfer.

Penibel listen die Experten des Gesundheitsministeriums in ihrem Nachschlagewerk "Öffentliches Gesundheitsportal Österreichs" die möglichen Ursachen für Zahnbehandlungsangst, verkürzt auch Zahnarztangst genannt, auf: "Verlust der Selbstkontrolle - das Gefühl, der Zahnärztin/dem Zahnarzt ausgeliefert zu sein", lautet da etwa einer der Punkte.

Zehn Prozent der Bevölkerung quält diese Angst in unterschiedlicher Ausprägung. Doch Herbert, 33, aus der Oststeiermark hat sie vollends verinnerlicht. Und wird sie, dessen ist er sich sicher, sein Leben lang nicht mehr loswerden: Arglos hatte er im Spätherbst 2019 zum ersten Mal auf dem Behandlungsstuhl von Dr. Erika W. (Name geändert) Platz genommen. "Es war ursprünglich nur ein Kontrolltermin", sagt er. Als er sich dann gegen Jahresende nach der letzten Behandlungsrunde erhob, waren ihm insgesamt 16 Zähne massiv beschliffen und überkront worden. 14.000 Euro hat ihn das gekostet und finanziell wie nervlich an den Rand des Ruins gebracht. "Ich hatte solche Schmerzen, dass ich phasenweise kaum Nahrung zu mir nehmen konnte, habe fünf Kilo abgenommen." Doch nun belegt ein Expertengutachten im Auftrag der Justiz: Fast die gesamte "Behandlung" war unnötig, das Gebiss von Herbert gesund!

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Herbert mit den Röntgenbildern seiner angeblich schadhaften Zähne -und dem neuen Gebiss, das ihm Dr. Erika W. anfertigte

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Doch das blieb kein Einzelfall. Mittlerweile hat sich beim Grazer Anwalt Frank Carlo Gruber, der Herbert vertritt, bereits ein gutes Dutzend weiterer Betroffener gemeldet. Sie alle verfügten einmal über leidlich gesunde Beißer und beruhigend gefüllte Sparkonten bis ihnen Frau Dr. W. in ihrer Ein Personen Ordination im Grazer Umland auf den Zahn fühlte. "Nach Sichtung der Leidensgeschichten und Beiziehung von Experten kann ich sagen: Bei der guten Dame standen schwerer gewerbsmäßiger Betrug und schwere Körperverletzung an der Tagesordnung", sagt Gruber, der bereits im Sommer des Vorjahres Anzeige bei der Staatsanwaltschaft Graz erstattete. "Bei mir melden sich tagtäglich neue Betroffene, nun sogar Eltern, deren minderjährigen Kindern das Gebiss verpfuscht wurde wer weiß, was da noch alles kommt."

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Anwalt Frank Carlo Gruber vertritt bereits gut ein Dutzend Dentalopfer, der Akt wird immer umfangreicher

 © Ricardo Herrgott/News

Staunen in der Kammer

Nun wurde die Medizinerin, die sämtliche Vorwürfe in Abrede stellt und für die die Unschuldsvermutung gilt, vom Land Steiermark bis zum Ende des Verfahrens mit Berufsverbot belegt. "Wir können das nicht nachvollziehen, sie hat einen tadellosen Leumund", heißt es seitens der Zahnärztekammer lapidar. Obwohl das mit dem Leumund so eine Sache ist: "Sie ist die Letzte, die ich Ihnen empfohlen hätte", sagt etwa jener Zahnarzt, bei dem Herbert nach seiner unheilvollen Begegnung mit Dr. W. in Behandlung war und der als Erster aufzeigte, dass ihre Eingriffe zu Unrecht erfolgten und bestätigt seine Bedenken auch im Rahmen seiner Zeugeneinvernahme. Waren die Machenschaften, die nun endlich von der Justiz durchleuchtet werden, in der Dentalbranche also längst ein offenes Geheimnis? "Es scheint so", meint Anwalt Gruber.

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Röntgenaufnahmen der Betroffenen

 © Ricardo Herrgott/News

Dabei, das bestätigen Herbert sowie vier weitere Betroffene übereinstimmend, sei die Expertin für Phantomschäden zunächst stets "besonders verständig und einfühlsam" aufgetreten. Stets habe sie behauptet, dass rasant und unaufhaltsam fortschreitende Karies die Wurzel allen Übels sei. Und stets habe sie gelächelt. "Heute weiß ich, das war ein manipulatives Grinsen", sagt Corina, 34, aus Graz, deren Behandlung bereits ein paar Monate vor jener Herberts begann.

Corina hat das, was man gemeinhin ein strahlendes Lächeln nennt, perfekte Zahnpflege sei ihr bereits seit Teenagertagen wichtig, erzählt sie. Als sie nun "auf Empfehlung" zu Dr. W. kam, hatte sie exakt eine einzige Plombe und wollte, wie danach Herbert, eigentlich nur zur routinemäßigen Kontrolle. Was folgte, war ein Radikalumbau: 16 vitale Zähne mussten dran glauben, wurden beschliffen und mit teuren In und Onlays aufgemotzt. Auch hier, das erwies sich im Nachhinein, hätten eigentlich in Summe ein paar kleine Handgriffe gereicht. 15.000 Euro musste Corina bezahlen, ihre gesamten Ersparnisse, mit denen sie sich eigentlich ein Chemiestudium finanzieren wollte. Das Geld ging, der Schmerz blieb: "Obwohl das jetzt alles schon mehr als ein Jahr zurückliegt, kann ich bis heute ohne Strohhalm nichts Kaltes trinken, und Obst kann ich nicht richtig beißen, eher nur lutschen."

Noch schlimmer hat es die Grazerin Sigrid, 58, erwischt - bei ihr nämlich wurde nicht "nur" geschliffen, ihr wurden gleich einmal vier Zähne gezogen, danach musste der Knochen neu aufgebaut werden, sodass die Schrauben für vier Implantate Halt im Kiefer fanden. Exakt 25.983 Euro und 50 Cent hat sie für all das an Dr. W. überwiesen. "Dabei hatte ich das Geld für ein neues Auto angespart", sagt sie. Jetzt fährt sie mit ihrem altersschwachen Ford herum, der 318.000 Kilometer auf dem Tacho hat, und hofft inständig, dass zumindest er noch ein Weilchen vom Zahn der Zeit verschont bleibe.

Das vernichtende Gutachten:

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Die Mutter-Masche

Kurt, 23, wiederum, der unerkannt bleiben möchte, lässt seine Freundin Jeannine, 22, für sich sprechen: Sie war es, die ihn an Dr. W. vermittelte, weil sie als "Angstpatientin" nur die besten Erfahrungen mit ihr gemacht habe. "Sie war fast schon mütterlich", erinnert sich Jeannine. Ein Trugbild: Denn als dann Kurt behandelt wurde, "mussten" plötzlich für 7.000 Euro sieben Inlays konstruiert werden. Bevor eine weitere Tranche um weitere 7.000 Euro in Angriff genommen wurde, wechselte Kurt allerdings den Zahnarzt: "Und der befand bis auf ein paar harmlose Verfärbungen alles für in Ordnung."

Einzig Vanessa, 26, aus Graz konnte noch den Stecker ziehen, bevor Frau Doktor zum Bohrer griff. Und zwar, weil sie sich die teure "Behandlung" nicht leisten konnte: "Sie hat mir gesagt, dass mindestens sieben Zähne kaputt sind und das etwa 7.000 Euro kosten würde", erzählt Vanessa. Unmittelbar danach, im Auto, sei sie dann in Tränen ausgebrochen, weil sie sich das als alleinerziehende Mutter nicht leisten konnte. Schließlich konsultierte sie in ihrer Not den Zahnarzt ihrer Mutter, um zu fragen, ob das Ganze nicht vielleicht doch eine Spur kleiner ginge. Und es ging. "Alles in Ordnung, nichts zu tun", lautete dessen knappe Diagnose nach Ansicht der Röntgenbilder.

"Durch das Anbohren von gesunden, kariesfreien Zähnen sind irreversible, nicht mehr gutzumachende Schäden entstanden", schreibt der gerichtlich zertifizierte Sachverständige in Bezug auf Herbert, der den Fall ins Rollen brachte (siehe Faksimile rechts). Doch Dr. Erika W. möchte nun ein Gegengutachten. - Will sie ihren Patienten noch einmal die Zähne zeigen?

Dieser Beitrag ist in der aktuellen Ausgabe von News (11/2021) erschienen.

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