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„Heute diskutiert die ganze Welt darüber“

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250 Millionen Mädchen und Frauen sind Opfer weiblicher Genitalverstümmelung. Eine davon ist Waris Dirie. Von der Nomadentochter zum Model zur Menschenrechtsaktivistin - ihre Geschichte ging um die Welt. Seit mehr als zwanzig Jahren kämpft sie gegen das grausame Ritual. Und für eine gerechtere Welt. Im Interview mit News spricht sie über ihr eigenes Schicksal, über fremde Kulturen, frauenverachtende Gesellschaften und darüber, ob der Kampf gegen Genitalverstümmelung je gewonnen werden kann.

Viele kennen Waris Dirie womöglich aus dem Buch oder dem gleichnamigen Film „Wüstenblume“. Sie wurde als Tochter einer Nomadenfamilie geboren und im Alter von fünf Jahren genital verstümmelt. Mit 13 flüchtet sie vor einer Zwangsheirat durch die Wüste und landete in London. Dort wurde sie als Model entdeckt und gelangt so zu internationaler Berühmtheit. Als sie zum ersten Mal öffentlich über ihr Schicksal und das grausame Ritual der Genitalverstümmelung an Frauen spricht, entschließt sie sich dazu Menschenrechtsaktivistin zu werden. Seit mittlerweile zwanzig Jahren kämpft sie für die Selbstbestimmungsrechte von Frauen und setzt sich weltweit für ein Ende der Female Genital Mutilation, zu Deutsch: Weibliche Genitalverstümmelung, ein.

News: Zwischen jahrtausendealter Tradition und skrupellosem Gewaltakt – wieso werden Mädchen nach wie vor beschnitten?

Waris Dirie: Leider unternehmen die internationale Staatengemeinschaft, die UN und ihre Institutionen sowie die großen Religionsgemeinschaften viel zu wenig, um gegen diese brutale Folter an unschuldigen kleinen Mädchen vorzugehen. Laut UN Generalsekretär António Guterres verbreitet sich FGM heute viel schneller als noch vor 20 Jahren. Grund dafür ist die Bevölkerungsexplosion in Afrika.

Weil unbeschnitte Mädchen als untreu gelten, findet man keine Käufer für sie. Mit Käufer meine ich Ehemänner.

Eine große Rolle spielt auch die Bildungskrise und die Armut in Afrika. Für die Eltern sind die Töchter eine wichtige Einnahmequelle. Jedes Mädchen, das auf grausame Weise beschnitten wird, ist auch Opfer einer Zwangsheirat. Und weil unbeschnittene Mädchen als untreu gelten, findet man keine Käufer für sie. Mit „Käufer“ meine ich Ehemänner.

Die Zahl der von Genitalverstümmelung betroffenen Mädchen und Frauen beläuft sich mittlerweile auf weltweit 200 Millionen. Tendenz steigend. Und das, obwohl seit Jahrzehnten NGO-Arbeit in diesem Bereich betrieben wird. Was braucht es im Kampf gegen weibliche Genitalverstümmelung?

Es braucht die Bereitschaft aller Regierungen, gegen diese unmenschliche Folter vorzugehen. NGOs wie meine „Desert Flower Foundation“ schaffen Awareness und investieren in die Prävention sowie in die medizinische Betreuung von Opfern. Das Problem kann aber nur global gelöst werden.

Kann dieser Kampf je gewonnen werden?

Die UN spricht heute bereits von mindestens 250 Millionen Millionen Frauen, die Opfer von weibliche Genitalverstümmelung wurden. 68 Millionen Mädchen sind akut bedroht. Ausgerottet kann weibliche Genitalverstümmelung nur dann werden, wenn die Staatengemeinschaft gemeinsam dagegen vorgeht.

Welche Rolle hat die Politik hier einzunehmen?

Die Politik muss in Bildung investieren. Die Aufklärung muss bereits im Kindergarten beginnen. Ärzte, Krankenschwestern, Jugendämter, Fürsorge, Asylbetreuer, Polizisten und Richter müssen genau über weibliche Genitalverstümmelung informiert werden.

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 © Waris Dirie / Desert Flower Foundation

Das alles fordere ich seit mittlerweile 20 Jahren in meinem Manifest. Leider haben die Behörden und die Politik nur wenig davon umgesetzt.

Die Dunkelziffer der Genitalverstümmelungen soll noch um einiges höher sein. Auch in Österreich gibt es zwischen 8.000 und 18.000 Opfer. Wie lässt sich erklären, dass FGM in westlichen Gesellschaften Europas verbreitet ist?

Menschen, die nach Europa kommen oder in anderen Kulturen sozialisiert wurden, ändern nicht plötzlich ihre Verhaltensweisen. Dazu gehören eben auch gesundheitsschädigende Traditionen, die in Europa zu Recht verboten sind. MigrantInnen denken, dass die genitale Verstümmelung von Mädchen zu ihrer kulturellen Identität oder religiösen Pflicht gehört. Nur Aufklärung und strenge Strafen, die bis zur Aberkennung des Aufenthaltsrechts gehen können, werden sie davon abhalten, ihre Töchter auch in Europa zu beschneiden.

Nur Aufklärung und strenge Strafen, die bis zur Aberkennung des Aufenthaltsrechts gehen können, werden sie davon abhalten, ihre Töchter auch in Europa zu beschneiden.

2003 und 2004 habe ich mit meiner „Desert Flower Foundation“ und mit einem Team von JournalistInnen eine Undercover Recherche in Europa durchgeführt. Die erschreckenden Resultate wie weit diese Praxis schon damals in Europa verbreitet war, habe ich in meinem Buch „Schmerzenskinder“ 2005 veröffentlicht. Die europäische Union hat daraufhin erstmals das Thema weibliche Genitalverstümmelung in Europa auf ihre Agenda gesetzt. 2006 konnten wir vor dem EU Ministerrat in Brüssel unsere Ergebnisse präsentieren. Viele europäische Länder haben danach Gesetze erlassen oder verschärft
und Kampagnen gegen FGM gestartet.

Der Umgang mit anderen Kulturen ist in Österreich derzeit ein großes Thema. Was würden Sie sich hier wünschen?

Im Vergleich zu vielen anderen Ländern in denen ich gelebt habe, habe ich Österreich als weltoffenes Land kennengelernt. Die Menschen hier fürchten sich nicht vor anderen Kulturen, sondern vor Gewalt, die von einigen wenigen ausgeübt wird. Gegen diese Gewalttäter muss hart vorgegangen werden. Sie bringen auch alle anderen in Misskredit.

Genitalverstümmelung hat immer auch etwas mit patriarchalen Machtstrukturen zu tun. Auch Sie sind Opfer dieser Strukturen geworden.

Das stimmt. Ich habe extrem brutale physische und sexuelle Gewalt in meiner Familie und in meinem Land Somalia gegen Frauen und auch gegen mich selbst erlebt. Als Mädchen und Frau zählst du NICHTS in Afrika.

Als Mädchen und Frau zählst du nichts in Afrika.

Man kann dich verprügeln, vergewaltigen, genital verstümmeln, kaufen oder verkaufen und dich wegwerfen, wenn man dich nicht mehr will. Du wirst täglich gedemütigt, erniedrigt und gebrochen, lernst das alles hinzunehmen und zu akzeptieren.

Aber Sie haben es nicht hingenommen.

Ich habe diese frauenverachtende Gesellschaft nie akzeptiert. Schon als Kind habe ich mich dagegen aufgelehnt, bin mit 13 Jahren vor einer Zwangsverheiratung geflüchtet und habe mich vor 20 Jahren entschlossen meine Mission gegen weibliche Genitalverstümmelung und gegen Gewalt an Frauen zu starten.

Wie stehen Sie zur Metoo-Debatte?

Ich unterstütze die #Metoo-Bewegung, weil sie notwendig und richtig ist. Als Menschenrechtsaktivistin habe ich viele berühmte Menschen, Hollywood Stars, Nobelpreisträgerinnen, Supermodels, Olympiasiegerinnen und Spitzenpolitikerinnen getroffen, die mir für meine Mission wohlwollend auf die Schulter geklopft haben. Und dabei ist es auch geblieben.

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Waris Dirie mit Freundin, Hollywood Star Salma Hayek © Waris Dirie / Desert Flower Foundation

In Afrika leben ungefähr 600 Millionen Frauen und Mädchen, die Hälfte ist unter 15 Jahre alt. Auch sie haben ein Recht, dass man sie nicht vergisst. Dass ihnen geholfen wird und dass man sie aus dem Teufelskreis von Gewalt und Respektlosigkeit befreit. Als afrikanische Frau rufe ich im Namen aller Frauen in der dritten Welt, die täglich Opfer von grausamer physischer und sexueller Gewaltwerden und die keine Lobby in Hollywood haben: Bitte vergesst uns nicht! #Wetoo

Was bedeutet es für Sie, eine Frau zu sein?

Eine Frau hat das Recht auf Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung und gesellschaftliche Gleichstellung, egal in welchem Land sie lebt. Dafür kämpfe ich.

2002 gründeten Sie die „Desert Flower Foundation“ in Wien. Was konnten Sie in den letzten 15 Jahren erreichen? Sind Sie zufrieden?

Als ich meine Mission vor 20 Jahren begann, wussten nur wenige Menschen über das brutale Verbrechen der weiblichen Genitalverstümmelung Bescheid. Selbst für die UN war es nur ein Randthema. Heute diskutiert die ganze Welt darüber. Nur vier afrikanische Staaten hatten Gesetze gegen weibliche Genitalverstümmelung. Heute gibt es nur mehr drei afrikanische Staaten, die noch kein Gesetz gegen weibliche Genitalverstümmelung haben.

Als ich meine Mission vor 20 Jahren begann, wussten nur wenige Menschen über das brutale Verbrechen der weiblichen Genitalverstümmelung Bescheid. Heute diskutiert die ganze Welt über dieses Thema.

2002 gab es nirgendwo Behandlungsmöglichkeiten für die Opfer von weiblicher Genitalverstümmelung. Heute gibt es unsere „Desert Flower Centers“ zur ganzheitlichen Behandlung von Opfern von weibliche Genitalverstümmelung in Berlin, Stockholm, Amsterdam, Paris, Australien, den USA und bald auch in Afrika. Alle Erfolge hier aufzuzählen, würde den Rahmen dieses Interviews sprengen. Zufrieden bin ich allerdings erst dann, wenn kein Mädchen auf unserem Planeten mehr Opfer von diesem unmenschlichen Verbrechen wird.

Schreiben Sie noch Bücher?

Letztes Jahr habe ich mein erstes Lesebuch, „My Africa – The Journey“ für Kinder in Afrika verfasst. Es wird von meiner „Desert Flower Foundation“ mit einer Bildungsbox an Schulen in Afrika verteilt. Mein Ziel ist es eine Million Bildungsboxen bis 2025 zu verteilen. In Afrika herrscht ein enormer Mangel an Schulmaterialien. Nur eines von 30 Schulkindern besitzt ein eigenes Lesebuch. Viele Kinder können auch nach Beendigung der Schulzeit weder lesen noch schreiben. Laut UNESCO sind 38% der AfrikanerInnen immer noch AnalphabetInnen. Davon 80% Frauen und Mädchen. Statistiken zeigen, dass Länder mit hoher Analphabeten-Rate diejenigen Länder sind, in denen auch weibliche Genitalverstümmelung am weitesten verbreitet ist.

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Waris Dirie mit Safa, dem Mädchen aus dem Film Wüstenblume, die sie vor FGM gerettet hat © Waris Dirie / Desert Flower Foundation

Was sind ihre Pläne und Ziele für die nächsten Jahre?

Ich bin im Gespräch mit europäischen Regierungen darüber, wie Afrika endlich wirkungsvoll geholfen werden kann. Die Entwicklungshilfe hat leider kläglich versagt. Armut und Analphabetismus haben in Afrika dramatisch zugenommen. Junge Menschen in Afrika sehen einfach keine Perspektive mehr auf ihrem Kontinent zu leben. Dabei ist er immer noch voller Schönheit und Reichtümer.

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