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Generation Biedermeier: Flucht ins Private

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Sie ziehen sich ins Private zurück, meiden hitzige Debatten und fokussieren primär auf ihr eigenes Wohlbefinden. Psychologen sprechen von einer Renaissance der Generation Biedermeier – einer stillen Rebellion gegen Dauerkrisen, Unsicherheit und Zukunftsfrust. Doch der Rückzug ins Private ist mehr als nur ein Trend unserer Zeit: Er ist ein Symptom gesellschaftlicher Erschöpfung.

Selbst an den Wochenenden bleiben viele Lokale der Wiener Innenstadt oft leer. Das Phänomen des „Clubsterbens“ schaffte es sogar in die Berichterstattung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Auf die Frage, wo sie ihre Freizeit verbringen, zucken viele junge Menschen mit den Schultern: „Na ja, zu Hause halt.“

In der Pandemie kämpften Clubs ums Überleben, die Lockdowns waren dann oft ihr Todesstoß. Ausgehen wurde erst stigmatisiert und letztendlich verboten. Die „Sturm und Drang“-Phase der damaligen Jugend musste sich auf gemeinsame Spaziergänge mit mindestens einem Meter Abstand beschränken. Kaum hatte sich das gesellschaftliche Leben nach der Pandemie erholt, folgte die nächste Krise: Mit dem Ukraine-Krieg kamen Teuerung, steigende Mieten, Arbeitslosigkeit und wirtschaftlicher Abschwung in Teilen der EU.

Zwischen Rückzug und Resignation

Nun schließen viele der Kultclubs der 90er und 00er-Jahre, die früher einmal Orte der Verbundenheit, des Experimentierens und der Freiheit waren, für immer ihre Türen. Viele, gerade junge Menschen, können sich nicht einmal mehr den Eintritt leisten, geschweige denn die Getränke. Aber auch soziale Ängste, Reizüberflutung und digitale Alternativen sind Gründe, warum Clubs für die Jugend nicht mehr so relevant sind.

Und nicht nur die Clubs sterben aus: Generell, so scheint es, ziehen sich immer mehr Menschen aus dem öffentlichen Raum zurück. Sie gehen seltener essen oder ins Kino, schauen stattdessen Netflix und kochen selbst. Diskussionen über Politik und das Leben finden nun weniger im öffentlichen Raum statt, zum Beispiel beim After-Work-Drink, sondern über WhatsApp. Nicht nur im Job, auch im Privaten verlagert sich das Leben immer mehr ins Digitale.

„Crisis Fatigue“

Gleichzeitig erlebt Konservativismus ein Revival. Traditionelle Werte und Familienstrukturen kommen wieder in Mode. Diese Entwicklung ist wohl kein Zufall, sondern die Konsequenz der letzten Jahre. Laura Stoiber ist Psychologin in Wien und weiß um die aktuellen Sorgen der Menschen.

Sie erklärt: „Krisen lösen psychischen Stress aus, der mit Angst, Kontrollverlust und Überforderung verbunden ist. Studien zeigen, dass Menschen in unsicheren Zeiten stärker nach Stabilität und Sicherheit suchen – oft im Privaten. Zudem führt eine Dauerbelastung durch Krisen zu ‚Crisis Fatigue‘, also psychischer Erschöpfung. Das kann dazu führen, dass sich Menschen aus Selbstschutz immer weiter aus gesellschaftlichen und politischen Debatten zurückziehen.“

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 © akg-images / picturedesk.com

Krise als Dauerzustand

Der Rückzug ins Private dient, so nennt man das in der Psychologie, als „Coping-Mechanismus“. Er ist also eine Bewältigungsstrategie, um sich psychisch zu stabilisieren, „indem man sich auf Selbstfürsorge, klare Strukturen und das unmittelbare Umfeld konzentriert“, erklärt Stoiber.

Auch die Fokussierung auf Selbstverwirklichung kann eine Strategie sein, um Kontrolle zu gewinnen. „Viele junge Menschen setzen auf Selbstverwirklichung, weil sie den Eindruck haben, dass systemische Veränderungen schwer zu erreichen sind. Dies ist oft eine rationale Anpassung an eine als starr empfundene Gesellschaftsstruktur. Gleichzeitig kann es aber auch eine Vermeidungsstrategie sein, um sich nicht mit überwältigenden Themen wie Klimawandel oder sozialer Ungerechtigkeit auseinanderzusetzen.“

Parallelen zum 19. Jahrhundert

Diese Phänomene sind nicht neu. In den vergangenen Jahrzehnten sprachen Experten immer wieder mal von einer neuen „Generation Biedermeier“. Der Begriff stammt aus der gleichnamigen Epoche: Nach den Wirren der napoleonischen Vorherrschaft und dem Wiener Kongress 1815 zogen sich viele Menschen ins Private zurück. Häuslichkeit, Gemütlichkeit, die Sehnsucht nach Harmonie und Naturverbundenheit waren charakteristisch für diese Zeit und spiegelten sich vor allem in Kunst und Kultur wider. Kurz gesagt: Im Biedermeier flüchteten die Menschen vor der Welt und ihrer zunehmenden Komplexität und suchten Sicherheit im Vertrauten.

2010 sprachen Forscher des Kölner Rheingold Instituts in ihrer Studie zur Jugendkultur erstmals von einer jungen „Biedermeier“-Generation, nachdem sie in psychologischen Tiefeninterviews mit 18- bis 24-Jährigen ein hohes Maß an Zukunftspessimismus ermittelten. Diese Generation, so der Bericht, empfand die eigene Zukunft als fragil und war deshalb enorm anpassungswillig. Kein Wunder: In dieser Zeit preschte die Digitalisierung nur so voran. Zugleich verunsicherten Handelskonflikte, geopolitische Umwälzungen, die Weltfinanz-, die Euro- und die Klimakrise. 2020 sprach dasselbe Institut dann von einer „Art Corona-Biedermeier“: Während die Welt im Chaos versank, versuchten viele, ihre Existenzängste mit dem Backen von Sauerteigbrot und Ordnungstechniken einer Marie Kondo zu bekämpfen.

Protest im Privaten

„Im 19. Jahrhundert zog sich das Bürgertum nach gescheiterten Revolutionen ins Private zurück. Aus Frustration, aber auch aus dem Wunsch nach Ordnung und Harmonie. Heute spielen neben politischer Enttäuschung auch digitalisierte Lebensstile, veränderte Arbeitswelten und eine ständige Informationsflut eine Rolle,“ ergänzt Stoiber. Doch soziale Netzwerke sind nicht nur Treiber der Reizüberflutung, sie können auch Orte des Protests sein.

„Viele werfen jungen Menschen vor, sie seien unpolitisch und gleichgültig gegenüber gesellschaftlichen Problemen. Doch das ist zu einfach gedacht“, meint Stoiber. Ein Gefühl der Machtlosigkeit sei eher bezeichnend für die heutige Jugend, zudem spielt psychische Erschöpfung eine immer größere Rolle. „Krisen und Unsicherheiten kosten psychische Energie. Manchmal schützt es die eigene mentale Gesundheit mehr, sich nicht mit allem zu beschäftigen.“

Kein Ersatz für echte Nähe

Kurzfristig kann ein Rückzug beruhigend wirken, meint die Psychologin, doch sie warnt vor langfristigen Folgen: „Menschen sind soziale Wesen. Wer sich dauerhaft zurückzieht, kann das Gefühl verlieren, wirklich Teil von etwas zu sein. Zudem gibt Engagement, ob für andere Menschen oder eine Sache, dem Leben Bedeutung. Wer sich komplett ins Private zurückzieht, riskiert, dass das Leben sich irgendwann leer anfühlt.“

Soziale Medien können Verbindung schaffen, aber auch Rückzug verstärken. Denn einerseits hat man durch den ständigen Austausch ein Gefühl von Verbundenheit, jedoch fehlt die Tiefe realer Begegnungen: „Online-Kontakte oder oberflächliche Gespräche können echte zwischenmenschliche Nähe niemals ersetzen.“ Zudem verstärken soziale Netzwerke die allgegenwärtige Krisenstimmung. „Die Dauerkonfrontation mit negativen Nachrichten kann das Gefühl verstärken, dass die Welt chaotisch und unkontrollierbar ist und damit den Wunsch nach Rückzug fördern.“

Bildung, Mut und Optimismus

Stoiber ermahnt, sich nicht zu sehr von Krisenstimmungen anstecken zu lassen. Gerade junge Menschen brauchen dringend ein Gefühl von Selbstwirksamkeit und Optimismus. Ständig nur negative Schlagzeilen zu konsumieren, sich immer weiter zurückzuziehen und die Welt auszuklammern hält die Psychologin nicht für sinnvoll.

„Der Rückzug ist eine verständliche Reaktion auf eine überfordernde Welt. Doch wenn Menschen wieder das Gefühl bekommen, dass ihr Handeln etwas bewirken kann, kann daraus eine neue Bewegung entstehen.“ Es braucht Mut, Inspiration und Räume für Engagement. Resignation war noch nie eine Lösung, weder damals noch heute.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 09/2025 erschienen.

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