Es geht in sechs Etappen rund 230 Kilometer durch die Wüste Marokkos. Tagsüber erreichen die Temperaturen über 50 Grad, nachts herrscht klirrende Kälte. Geschlafen wird unterwegs im Zelt und die gesamte Ausrüstung muss selbst mitgeschleppt werden. Der Marathon des Sables gilt als einer der härtesten Etappen-Ultraläufe der Welt. Jedes Jahr sterben Menschen bei dem Versuch, den Bewerb zu absolvieren - und doch sind die begrenzten 850 Startplätze jedes Jahr innerhalb kürzester Zeit vergeben.
Es muss aber nicht gleich die Wüste sein. Jeder, der in den Bergen unterwegs ist, begegnet zunehmend Menschen, die scheinbar mühelos selbst steilste Wege bergauf laufen. Und die Veranstalter von Ultraläufen, Bergmarathons und Spartan Races erfreuen sich in den vergangenen Jahren deutlich steigender Teilnehmerzahlen.
Immer mehr Menschen trainieren also, um derartige sportliche Höchstleistungen zu schaffen. Doch was macht diese Sportlerinnen und Sportler, die 100 Kilometer oder Tausende Höhenmeter am Stück laufen können, so außergewöhnlich? Wie schaffen sie diese Höchstleistungen?
Prinzipiell verfüge fast jeder über die körperlichen Voraussetzungen, derartige Leistungen zu erbringen, ist Christopher Willis überzeugt. Als Sportpsychologe und Performance Coach betreut er im deutschsprachigen Raum Eliteathleten aus National- und Olympiakadern, Militär- und Polizei-Spezialeinheiten sowie High Performer aus den Bereichen Wirtschaft, Medizin und Musik. Allerdings, ergänzt Willis: "Nur einige Promille der Bevölkerung setzen diese Höchstleistungen um." In der Realität verlaufe die Entwicklung bei dem überwiegenden Teil der Menschen gegenteilig: "Die meisten schaffen heute Höchstleistungen im Sitzen."
Jeder kann Leistung steigern
Sportmediziner Piero Lercher ist ebenfalls überzeugt, dass "jeder gesunde Mensch bei richtigem Training immer eine Leistungssteigerung erzielen kann". Aus körperlicher Sicht sind die fünf motorischen Grundeigenschaften Ausdauer, Kraft, Beweglichkeit, Schnelligkeit und Koordination ausschlaggebend für die Leistungsfähigkeit. Es gibt aber individuell unterschiedliche biologische Grenzen. So verschafft eine größere Schrittlänge Läufern einen Vorteil. Die Spannweite der Arme kann wiederum bei Schwimmern ausschlaggebend sein. "Diese beträgt bei Rekordschwimmer Michael Phelps beispielsweise 2,04 Meter", so der Mediziner.
Christopher Willis, Sportpsychologe und Performance Coach
Bei Extrem- und Ultraläufen sind jedoch nicht einzig körperliche Konstitution und Schrittlänge entscheidend. Denn, erklärt Willis: "Die ersten 20 Kilometer bewältigt man mit dem Körper, die nächsten 80 mit dem Kopf."
Selbstdisziplin und Durchhaltevermögen
Schon die Kindheit entscheidet oft darüber, ob ein Mensch später Höchstleistungen erbringen wird oder nicht. "Das soziale Umfeld vieler Ultramarathonläuferinnen und -läufer ist von Sport geprägt. Von Anfang an wurden sie dazu ermutigt, sportliche Höchstleistungen zu erbringen, und Sport war schon immer ein wesentlicher Bestandteil ihres Lebens", sagt Willis.
Bei einer weiteren Gruppe der Hochleistungsathleten war ein einschneidendes positives oder negatives Lebensereignis Auslöser für den Trainingsbeginn. Und dann gibt es noch jene Menschen, "die mit diesen Höchstleistungen etwas kompensieren wollen", weiß Peter Gröpel, Sportpsychologe an der Uni Wien: "Sie sind zum Beispiel in der Beziehung oder im Beruf unzufrieden und beginnen deswegen mit intensivem Training."
Doch nicht jeder Mensch, der Läufe absolviert, wird automatisch Extremsportler. "Um erfolgreich zu sein, ist eine entsprechende Denkweise entscheidend", sagt Psychologe Willis. "Es erfordert ein enormes Maß an Selbstdisziplin und Durchhaltevermögen. Man muss auch die Fähigkeit entwickeln, Rückschläge zu akzeptieren."
Diese Sportlerinnen und Sportler weisen zudem ein außergewöhnliches Organisationstalent auf. Denn sie benötigen entsprechende Routinen, um Training mit Beruf und Familie zu vereinbaren.
Visualisierung und Affirmation
"Es sind Personen mit einem starken Willen, die ihre Komfortzone verlassen und über die Schmerzgrenze gehen können", ergänzt Gröpel. Denn ist diese erreicht, wird der Körper in eine Art Alarmzustand versetzt. Daher erreichen Sportlerinnen und Sportler ihre maximale Leistungsfähigkeit nicht. "Das wird autonome Reserve genannt. So wird sichergestellt, dass dem Körper noch etwas für den Notfall übrig bleibt", sagt Lercher.
Piero Lercher, Sportmediziner
Durch gezieltes körperliches und mentales Training ist es allerdings möglich, diesen Mechanismus zu überwinden. Dabei, warnt der Mediziner, "muss man sich aber bewusst sein, dass man den Körper in eine Extremsituation bringt". "Bei gewissen Höchstleistungen ist der Grat zwischen Sterben und Überleben auch oftmals durch die äußeren Bedingungen sehr schmal."
Zu den mentalen Methoden, um trotz Schmerzen und Erschöpfung weiterzulaufen und nicht aufzugeben, zählt laut Gröpel die Visualisierung. "Man denkt an jene Momente, in denen es schmerzt und stellt sich gleichzeitig vor, wie man weitermacht." Auch Affirmation ist eine Technik, die in extremen Situationen hilft. Dabei werden Wörter und Sätze für einen selbst entwickelt, die positiv sind und motivieren. Das könne etwa "Gib Gas!" oder "Das schaffst du!" sein, so Sportpsychologe Gröpel.
WETTBEWERBE
Ultralauf und Spartan Race
Extremläufe entsprechen dem Zeitgeist, ist Sportpsychologe Willis überzeugt. Sie werden prominent beworben und es gibt gut vernetzte Communities.
Bei Ultraläufen ist die Strecke länger als die Marathondistanz. Beliebt sind z. B. 100 Kilometer-Läufe. Mit 661 Kilometern und 19.000 Höhenmetern ist das Goldsteig Ultrarace der längste Non-Stopp Ultra-Traillauf Deutschlands.
Ein Spartan Race ist wiederum eine Extrem-Hindernislauf mit bis zu 50 Kilometer Distanzen. Dabei müssen die Sportlerinnen und Sportler u. a. Wände überklettern und Sandsäcke bergauf schleppen. Bei Bergläufen stehen die absolvierten Höhenmeter im Vordergrund.
Realistische Ziele setzen
Wer gerade erst mit dem Training für einen Ultramarathon beginnt, sollte laut Willis zwei bis drei Jahre dafür einplanen. "Es ist wichtig, zu Beginn realistische Ziele zu setzen und sich vorzustellen, wie die nächsten ein bis zwei Jahre aussehen sollen." Neueinsteiger können beispielsweise zunächst an einem Fünf-Kilometer-Lauf teilnehmen und dann allmählich die Distanzen erhöhen.
Um diese Ziele tatsächlich zu erreichen, hält Willis einerseits professionelle Betreuung für unerlässlich, sowohl auf medizinischer als auch auf psychologischer Ebene. Andererseits ist es hilfreich, sich mit anderen Läuferinnen und Läufern zu vernetzen, um die Motivation aufrechtzuerhalten.
Doch hartes Training lohnt sich. Es werden Endorphine ausgeschüttet, die Stress reduzieren, Schmerz hemmen und uns glücklich machen. Willis, der gerade selbst für den Paris-Marathon trainiert, weiß aus Erfahrung: "Das Training von Ausdauer kann sehr befriedigend sein. Bei längeren Läufen kann man irgendwann in den sogenannten Flow-Zustand geraten. In diesem Zustand ist man mit sich selbst und den erbrachten Leistungen zufrieden - und es macht einfach Spaß."
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 41/2023 erschienen.