Es war ein Morgen wie jeder andere. Doch dann bemerkte der Wiener Start-up-Gründer Mike Lanner, dass in seinem Kopf etwas passierte. Etwas, das er nicht kontrollieren konnte. In der übervollen U-Bahn auf dem Weg in die Arbeit konnte er keinen klaren Gedanken fassen. Im Büro wollte er sich wie gewohnt in die Arbeit stürzen, doch es ging nicht: Plötzliche Schweißausbrüche, klaustrophobische Zustände und ein beklemmendes Gefühl machten ihm Angst. Mike musste raus, so schnell wie möglich.
Er packte seine Sachen, verließ das Büro. Auf der Straße begann er zu laufen, in Jeans und Sakko, vom siebten in den zweiten Bezirk. Im Augarten lief er zwei Stunden lang wie verrückt im Kreis. "Ich dachte, ich habe einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt." Was Mike zu diesem Zeitpunkt nicht wusste: Er erlebte soeben seine erste Panikattacke.
Von 110 auf null
Er konsultierte seinen Freund, einen Arzt und Psychotherapeuten. Mikes Diagnose: generalisierte Angststörung und Panikattacken. Plötzlich ging gar nichts mehr: "Vier Monate lang war ich weg aus dem Business. Ich habe versucht, das Handy zu meiden. Den Laptop auch nur anzugreifen, war mir unmöglich. Da habe ich alle Zustände bekommen", schildert er seine Situation. Der Vorzeige-Jungunternehmer konnte plötzlich nicht mehr arbeiten. Er hielt sich für schwach, sein Selbstwertgefühl war im Keller. "Der Faktor Arbeit, dieses wichtige, sinnstiftende Element in meinem Leben, war plötzlich weg. Da fühlt man sich wie der letzte Dreck." Er stand weiterhin frühmorgens auf, fühlte sich sogar eher motiviert. Mike setzte alles daran, so schnell wie möglich wieder gesund zu werden. "Viele Menschen verstehen nicht, warum jemand mit Burnout nicht arbeiten kann: Das Denkvermögen und die Konzentrationsfähigkeit sind völlig weg!"
Dass er auf ein Burnout zusteuerte, war irgendwie klar, meint er, denn sein Beruf war alles für ihn: "95 Prozent meines Sinns habe ich aus dem Job gezogen." Drei Handys zu haben, viel unterwegs zu sein und ständiger Stress, das schaffte Selbstwert: "Ich dachte:,Super, die Arbeit, die ich mache, ist was wert!'" Ein Muster, das sich durch sein ganzes Leben zog: "Gymnasium, Eliteschule, WU: Was ich mein Leben lang einstudiert habe, war das Konzept 'Liebe und Anerkennung für Leistung'", so der 39-jährige Unternehmer. "Wenn Leute mir gesagt haben, ich schaue schlecht aus und arbeite zu viel, hat mich das weiter angespornt. Das hat mir Energie gegeben."
Er verbrachte viel Zeit in der Natur, schrieb fast 40 Notizbücher mit seinen Gedanken voll, analysierte seine Verhaltensmuster. Sein engeres Umfeld reagierte verständnisvoll, seine Freundin unterstützte ihn, wo sie konnte. Trotzdem: Psychische Krankheiten seien immer noch stigmatisiert und es sei sozial unerwünscht, dass man sie kommuniziert, sagt Mike nachdenklich. Gewissermaßen war er wohl derselben Meinung, denn Medikamente wollte er nicht nehmen: "Dann hätte ich nicht mehr sagen können, mir geht's ja eh nicht so schlecht. Wenn man Tabletten nimmt, ist man ein Psycherl." 2016 kam der nächste Zusammenbruch: "Ich war wieder voll im Arbeitsprozess drin und habe blöderweise aufgehört, zu reflektieren." Alte Muster verlernt man eben nicht so schnell, und so waren die Notizbücher nicht mehr gefüllt mit Gedanken, Situationen und Gefühlen, sondern wieder mit Businessnotizen.
Auch die zweifache Mutter Violeta Djuric weiß, wie schwer das Aufstehen nach der Katastrophe ist: 2015 brach sie nach wochenlangem starkem Husten in der Arbeit zusammen. Ein Warnsignal, das sie ignoriert hat. Ihre Beine waren plötzlich wie Wackelpudding, heftige Weinkrämpfe und Atemnot versetzten sie in Panik, erzählt sie. Der behandelnde Arzt stellte Burnout und eine mittelschwere Depression fest. "Bei der Diagnose ist eine Welt für mich zusammengebrochen", erinnert sich die 37-Jährige heute. "Ich habe mich ständig gefragt, wie es weitergehen wird. Innerlich habe ich aufgegeben." Dazu kamen Suizidgedanken. Aber was war der Auslöser? "Druck und Stress wurden zu viel, dazu kam eine schwierige Phase in meiner Beziehung." Violeta wollte ständig perfekt sein, alles richtig machen: sowohl in der Arbeit als auch zu Hause. "Ich war immer energiegeladen, ständig unter Strom. Dann bin ich ausgebrannt." Die Mutter von zwei kleinen Kindern fühlte sich unverstanden und mit ihren Problemen allein. "Ich habe mich gefürchtet, die Leute denken womöglich, ich sei faul geworden oder simuliere!"
Völlig verzweifelt
Violeta suchte sich sofort Hilfe, wollte so schnell wie möglich wieder die Alte sein, wieder funktionieren. Doch die Behördengänge waren mühsam, mit manchen Medizinern macht Violeta schlechte Erfahrungen. Sie hatte das Gefühl, dass ihr niemand glaubt, und zweifelte zunehmend an ihrer eigenen Wahrnehmung: "Man weiß nicht, ob man selber verrückt geworden ist oder die anderen." Belastend sind auch die hohen Kosten für die Behandlung, denn eine Familie mit 1.700 Euro durchbringen und dann noch krank zu sein, das ist schwer, weiß Violeta.
Ihr Körper war erschöpft und brauchte dringend Ruhe, aber Violeta wollte nicht "blöd dastehen". Krank zu sein war ihr unangenehm: "Es ist noch ein Tabuthema. Man wird nicht ernst genommen." Ein halbes Jahr lang stand sie täglich auf, brachte ihre Kinder in den Kindergarten und in die Schule und legte sich zu Hause sofort wieder hin. "Ich habe mich nicht mehr gespürt. Bis auf meine Kinder und meine Therapietermine konnte ich nichts wahrnehmen." Die permanente Überlastung, den Stress und die Erschöpfungszustände hat sie lange nicht ernst genug genommen. "Mein Körper hat mir oft gezeigt, dass es nicht mehr geht. Ich habe viel zu lange mit angezogener Handbremse weitergemacht."
Violeta fing an, viel über die Themen Burnout und Depression zu lesen, machte eine Therapie, bekam Antidepressiva verschrieben. Halt fand sie in dieser Zeit bei ihrer Familie. "Meine Kinder sind sehr an mir gepickt. Ich habe immer offen mit ihnen darüber gesprochen, denn ich wollte nicht, dass sie denken, sie seien an meiner Situation schuld."
Zu viel Stress
"Burnout ist ein Zustand, der mit übermäßiger Arbeit in Verbindung steht und im Gesunden beginnt", weiß Michael Musalek vom Wiener Anton-Proksch-Institut. "Arbeitsüberlastung wird nicht erkannt, Arbeit wird ständig mit nach Hause genommen: Die Betroffenen wollen immer noch mehr geben." Die Arbeit wird zum Lebensmittelpunkt. Es gibt kaum Burnout-Patienten, die nicht auch gleichzeitig arbeitssüchtig sind. Sie vernachlässigen ihr soziales Umfeld, Partnerprobleme können auftreten, Freunde sich abwenden. Soziale Isolation und körperliche Beschwerden wie erhöhte Herzfrequenz oder Magen-Darm-Probleme treten auf. Wird diese massive Überlastung nicht ernst genommen, bricht das System irgendwann zusammen, man wird krank: Antriebslosigkeit, Schlafstörungen, Depressionen und Suizid können die Folge sein. "Burnout hängt immer mit viel Arbeit zusammen", so Musalek. "Wer nicht gebrannt hat, kann nicht ausbrennen."
Menschen, die von Burnout betroffen sind, sind Perfektionisten, sie stellen sehr hohe Ansprüche an sich selbst. Ansprüche, an denen sie letztendlich scheitern. Eine bestimmte Hauptberufsgruppe, die besonders Burnout-gefährdet ist, gebe es nicht, meint Musalek. Zwar seien soziale Berufe oft betroffen, allerdings sind diese Berufsgruppen auch am besten erforscht. Die Mehrfachbelastung, zum Beispiel bei Frauen, die arbeiten und zudem Kinderversorgung und den Haushalt übernehmen, oder bei Menschen, die neben ihrem Job Schwerkranke zu Hause pflegen, sei zu wenig erforscht. "In Österreich wird alles, was nicht bezahlt wird, nicht als Arbeit angesehen. Das ist ein Problem", meint der Arzt. Denn diese Menschen haben keine Freizeit, keine Zeit für sich selbst und müssen bis auf die Zeit, in der sie schlafen, durchgehend funktionieren.
Burnout als Prozess
Ein Burnout zeichnet sich durch die Trias Erschöpfung, Zynismus und Entfremdung aus: Entfremdung gegenüber der Arbeit, den Arbeitskollegen und letztlich gegenüber sich selbst. Ein erster Indikator für Überforderung ist die erhöhte Reizbarkeit der Betroffenen, "Problemstadium" nennt sich die Phase, in der die für Burnout typischen Symptome auftreten, die von Betroffenen aber oft nicht als solche erkannt werden. Wird nicht präventiv eingegriffen, entwickelt sich das Burnout weiter in das "Übergangsstadium": Hier wird die massive Überlastung den Betroffenen zunehmend bewusster, völlige Konzentration auf die Arbeit, soziale Isolierung und psychosomatische Beschwerden treten ein. Je schneller ein Burnout erkannt wird, desto besser sind die Heilungschancen, denn wer bereits frühzeitig im "Übergangsstadium" Hilfe in Anspruch nimmt, kann den fatalen Verlauf verhindern, erklärt Musalek.
Bereits im zweiten Stadium ist das Burnout ein dermaßen komplexes Geschehen, dass die Diagnostik nur mehrdimensional erfolgen kann: Faktoren, die von außen wie innen körperlich, psychisch und sozial beeinflussend wirken, machen die Diagnose schwer. Dabei ist ebendiese Grundlage für zielführende Behandlungsund Rehabilitationsmaßnahmen. Im dritten und letzte Stadium ("Erkrankungsstadium") des Burnout kann eine chronifizierte Depression auftreten, die nicht selten zum Suizid führt.
Burnout ist übrigens nicht simulierbar, erklärt Musalek: "Das ist praktisch nicht möglich. Es gibt objektive Parameter, mit denen man ein Burnout messen kann." Gerade dieser Vorwurf trifft Burn-out-Betroffene oft besonders, eben weil sie sich so sehr über Leistung definieren.
Depression oder Burnout?
Ein Burnout von einer Depression zu unterscheiden, ist schwierig: "Diagnostisch gesehen ist jedes Burnout eine Depression, aber nicht jede Depression ist ein Burnout", erklärt Psychotherapeut Paul Braunger. Auch sei nicht jede Erschöpfungsdepression mit einer im Rahmen eines Burnout-Prozesses auftretenden Depression gleichzusetzen, ergänzt Musalek. Bei einem Burnout können Betroffene in den Anfangsphasen motiviert, arbeitsam und enthusiastisch sein. Oft aber werden Betroffene von Ärzten an Psychotherapeuten überstellt, wenn bereits Symptome einer Depression auftreten. Dazu zählen unter anderem Lustlosigkeit, Schwerfälligkeit, Konzentrationsstörungen.
Zustände, die dem ehemaligen ÖSV-Cheftrainer Alexander Pointner nicht fremd waren: Nachdem bei seinem Sohn 2012 Depression diagnostiziert wurde, kam vieles hoch, das Pointner lange Zeit hinuntergeschluckt hat. Dazu kam, dass der ÖSV seinen Vertrag 2014 nicht mehr verlängerte. In seinem Berufsleben ist er jahrelang an seine psychischen und physischen Belastungsgrenzen gegangen, Stress, zu wenig Schlaf, keine Erholungsphasen und eine schwierige private Situation kosteten ihn all seine Kräfte. Dann rächte sich die jahrelange Aus-und Erschöpfung seiner Ressourcen: Eine ständige Unruhe, die mit der Angst einherging, nicht mehr voll leistungsfähig sein zu können, zeigten sich bei ihm als Vorstufe zur Depression. "Es folgten die totale Erschöpfung, der Kampf gegen die ständige Müdigkeit, gleichzeitig hatte ich massive Schlafstörungen", erinnert sich der Erfolgscoach. Pointner rutschte zunehmend in die Depression, nahm die Anzeichen dafür aber nicht sofort wahr. Er litt unter Antriebslosigkeit, einem einengenden Gefühl in der Brustgegend und Herzrasen.
Die körperlichen Symptome wurden so stark, dass sie kaum noch auszuhalten waren. Seine Familie reagierte verständnisvoll, forderte aber von ihm, sich behandeln zu lassen: "Nach meinem heutigen Wissensstand hätte ich früher reagieren müssen." Bis er nach begonnener Therapie eine Besserung spürte, dauerte es mindestens drei Monate, erzählt er. Heute weiß er, dass er sich vor übermäßigem Stress schützen muss. "Ich habe gelernt, auch einmal Nein zu sagen, und versuche, mich mit Menschen zu umgeben, die mir guttun." Seit seiner Erkrankung ist viel in seinem Leben passiert, sein Sohn wurde gesund, seine Tochter starb nach einem Suizidversuch. "Bis heute lässt diese Krankheit unsere Familie nicht los. Davor kann ich mich nicht schützen, aber das angeeignete Wissen und die eigene Therapie sorgen für mehr Resilienz."
Eine Depression hat viele Gesichter, und die Auslöser für die Krankheit sind komplex, weiß Alexander Pointner. Sowohl äußere als auch innere Auslöser machen es schwierig, herauszufinden, warum jemand an einer Depression erkrankt. Wichtig sei, dass man auf die eigene körperliche wie psychische Gesundheit achte. Er rät Betroffenen, sich frühzeitig beraten zu lassen und professionelle Hilfe zu suchen, sobald man daran denkt, möglicherweise depressiv zu sein, und wenn körperliche Symptome auftreten. "Psychische Erkrankungen werden zum einen nicht oder zu wenig ernst genommen, auf der anderen Seite bekommt man quasi einen Stempel aufgedrückt, nicht mehr leistungsfähig zu sein", sagt er. Dabei gehöre es in manchen Ländern zum guten Ton, sich um sein psychisches Wohlbefinden präventiv zu kümmern, um gesund zu bleiben. "Bei uns ist im Moment noch das Gegenteil der Fall."
Gelassenheit lernen
Psychotherapeut Braunger weiß, dass die Behandlung von Burn-out-Patienten sehr individuell ist. Eine Psychotherapie sei nicht immer ein Muss, es komme drauf an, in welchem Stadium sich die Patienten befinden. Viele Menschen, die in seine Praxis kommen, sind sehr vergeistigt, so Braunger. Sie haben verlernt, die Warnsignale ihres Körpers ernstzunehmen: "Diese Warnsignale bekommt man mit Schmerzmitteln gut in den Griff, das eigentliche Problem wird dadurch aber nicht gelöst." Und das spüren viele erst in Ruhesituationen, wenn plötzlich Emotionen hervortreten, die man lange weggesteckt hat. "Es gilt, herauszufinden, welche Bedürfnisse die Menschen haben, und Maßnahmen zu setzen, um das soziale Leben wieder zu aktivieren." In seinen Therapieeinheiten versucht er, gemeinsam mit den Patienten herauszufinden, wie es den Menschen wirklich geht und wie ihr Verhältnis zu Leistung ist. "Man muss der Frage auf den Grund gehen, warum ein Teil in den Patienten ständig die beste Leistung erbringen will und warum sie sich über Leistung definieren."
Oft ist der Grund für diesen inneren Druck nicht eine ehrgeizige Persönlichkeit, sondern auch die Erziehung. "In der Therapie versucht man, eine Balance zu finden und einen Gegenpol zum inneren Kritiker zu installieren", so Braunger. Es könne hilfreich sein, Gelassenheit zu lernen. Braunger, der auch als Arbeitspsychologe in großen Unternehmen tätig ist, weiß, dass gerade Menschen, die gelassener mit Stress und Belastung umgehen, häufig bereits ein Burnout oder eine Erschöpfungsdepression hatten und gelernt haben, damit umzugehen. Wichtig sei in jedem Fall ein achtsamer Umgang mit sich selbst. Eine Woche Urlaub nach vielen Monaten der Belastung, das sei ineffizient: "Sich kurz Urlaub zu nehmen und danach weitermachen wie bisher, das funktioniert nicht", so der Psychotherapeut. Auch Angehörige sind gefordert, diese Probleme offen anzusprechen. Denn oft stützt die Familie ein System und hilft dadurch, dass die Person so lange weiter funktioniert, bis sie schließlich zusammenbricht.
Burn-out als Chance?
Weder Alexander noch Violeta noch Mike haben aufgegeben. Tapfer kämpften sie sich zurück, immer und immer wieder. Heute geht es ihnen besser. Unternehmer Mike Lanner sieht das Burnout im Nachhinein als "Medaille mit zwei Seiten":"Auf der einen Seite stehen Niederlage, Schwäche, Scheitern. Auf der anderen Reflexion, Chance, Auseinandersetzung mit sich selbst, Wachstum. Man kann ein Burnout also auch als Chance sehen für Wachstum und Entwicklung." Auf welche Seite der Medaille man schaue, das entscheide man dann selbst.