Mit der Lautstärke der Empörung hatte Salzburgs Landeshauptmann Wilfried Haslauer vermutlich nicht gerechnet. Es ist Mitte November 2021. Tag für Tag melden die Gesundheitsbehörden neue Rekorde bei den Corona-Infektionen. In Medien fordern Experten (und Journalisten) den nächsten Lockdown. In dieser Situation tritt Haslauer vor die Kameras und sagt: "Mir ist klar, dass den Virologen am liebsten wäre, wenn jeder Österreicher in ein Zimmer eingesperrt ist." Dass er ebenfalls anmerkt, damit "ein bisschen zu übertreiben" und dass es im Pandemie-Management eines Politikers nicht nur darum gehe "die rein virologische Wahrheit" umzusetzen, geht im Sturm der Entrüstung unter.
Eine Organisation, die sich im Anschluss an Haslauers Sager besonders deutlich äußerte, war die Österreichische Ärztekammer (ÖÄK). In einem Statement übte die gesetzliche Standesvertretung der Ärzte harte Kritik an den "Angriffen einzelner Politiker auf wissenschaftlich fundierte Aussagen von Experten".
Strenger Brief
Der Warnschuss in Richtung Politik war nur einer von vielen, die die Kammer seit Beginn der Covid-19-Pandemie gezielt platzierte. Dabei geraten nicht nur Politiker ins Visier von ÖÄK und ihrem Präsidenten, dem Humangenetiker und Facharzt für Labordiagnostik Thomas Szekeres. So fällt der strenge Blick der Kammer auch auf die eigenen Mitglieder. Unter Beobachtung stehen vor allem Ärzte, die bei der Impfung gegen das Coronavirus zurückhaltend sind.
Exakte Zahlen nennt die Standesvertretung nicht, man führe jedoch eine Reihe von Verfahren gegen impfkritische Mediziner. "Eine Handvoll", heißt es, hätte bereits die Zulassung verloren. Erst Anfang Dezember erging genau dazu ein Rundschreiben des Präsidenten an zahlreiche ranghohe Funktionäre. Demnach gebe es "keinen Grund, Patienten von einer Impfung abzuraten". Wer dies dennoch tue, werde "von den Disziplinarorganen geprüft (...) und entsprechend sanktioniert".
Bemerkenswert an der Geschichte ist: Es ist gar nicht so unwahrscheinlich, dass die Ärztekammer selbst eine gewisse Mitverantwortung dafür trägt. Ganz egal, wie man den zurückhaltenden Zugang einzelner Mediziner zur Covid-Impfung nun bewertet. Die ÖÄK nämlich bietet bis heute in der Akademie der Ärzte eine Reihe von Diplomlehrgängen für sogenannte alternativmedizinische Methoden an. Mehrere europäische Studien zeigen jedoch, dass praktizierende Ärzte mit alternativmedizinischer Zusatzausbildung offenbar grundsätzlich kritischer gegenüber Impfungen eingestellt sind als ihre Kollegen, die zu 100 Prozent schulmedizinisch vorgehen. Anschaulich gemacht hat das eine Befragung von Kinderärzten in Deutschland. Die Studienautoren verglichen dabei die persönliche Einstellung und das ärztliche Verhalten von Pädiatern mit und ohne homöopathischer Zusatzqualifikation. Dabei stellte sich heraus, dass fast vier Prozent der homöopathischen Kinderärzte so überzeugt von den Nachteilen des Impfens waren, dass diese angaben, ihren Patienten (bzw. deren Eltern) aktiv davon abzuraten. Unter Kinderärzten ohne Zusatzausbildung kam dies gar nicht vor. Annähernd ein Drittel der befragten Homöopathen bezeichneten sich als "stark" bis "eher" impfablehnend.
Lieber Ärzte statt Schamanen
Wie ist also zu erklären, dass Österreichs Ärztevertretung ihre Pflichtmitglieder einerseits zur Wissenschaftlichkeit mahnt, andererseits im eigenen Fortbildungsprogramm den Boden der Wissenschaftlichkeit verlässt und sogar noch Diplome dafür ausstellt?
Was man von außerhalb jedenfalls sagen kann: Die Interessen von 48.000 Mitgliedern und -zumindest mittelbar -annähernd neun Millionen Patienten gleichzeitig unter einen Hut zu bekommen, ist fast unmöglich. Denn die Nachfrage nach alternativmedizinischen Angeboten ist zweifellos vorhanden.
Die Kammer versucht deshalb eine Gratwanderung. Zunächst wäre da die Begrifflichkeit. So spricht die ÖÄK nicht von Alternativ-, sondern von Komplementärmedizin. Unwissenschaftliche Praktiken dürften keinesfalls statt, sondern höchstens neben Schulmedizin zum Einsatz kommen. Persönlich wollte man uns zwar nicht Rede und Antwort stehen, in einer schriftlichen Stellungnahme teilte die Kammer jedoch mit, dass "qualitätsgesicherte komplementäre Therapien durchaus gute ergänzende Therapien sein können".
Und auch wenn diese nach dem aktuellen Stand der Forschung objektiv wirkungslos sind: In der Kammer ist man der Meinung, dass Homöopathie &Co. trotzdem gut in den Händen von Schulmedizinern aufgehoben sind. Nur Ärzte, so das Argument, seien per Gesetz dazu verpflichtet, nach dem Stand der Wissenschaft zu handeln. "Sollte ein Arzt auf die Idee kommen, beispielsweise schwerwiegende Krankheiten ausschließlich mit Globuli behandeln zu wollen, trägt er die disziplinarrechtlichen Konsequenzen."
Doch was genau ist eigentlich gemeint, wenn es um sogenannte alternativ- oder komplementärmedizinische Methoden geht? Wir haben uns das aktuelle Angebot der Akademie der Ärzte angesehen und zusammengefasst:
- Akupunktur: Bei ihr ist sich die Wissenschaft uneins. Die Lehre von Yin und Yang sowie der durch den Körper ziehenden Meridiane wirke bestenfalls als Placebo - sagen die einen. So manche Behandlung wirke aber dennoch, sagen andere und Patienten. Warum, das ist umstritten und Gegenstand der Forschung.
- Anthroposophische Medizin: Gegründet vom Waldorf-Pädagogen Rudolf Steiner. Diese Richtung sieht sich als Erweiterung der Schulmedizin und behandelt die Harmonie zwischen dem physischen Körper sowie Astral- und Ätherleib. Ohne wissenschaftliche Evidenz.
- Chinesische Diagnostik und Arzneitherapie: Lehrziel ist die Anwendung von Arzneimitteln der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM). Punkt 2.3.2.9 aus dem Lehrplan: "Rezepte, die Qi regulieren". Viele TCM-Methoden sind laut Schulmedizin wirkungslos. Bei anderen werden durchaus auch Erfolge berichtet (z. B. Akupunktur). Warum, ist selten zu erklären.
- Diagnostik und Therapie nach F. X. Mayr: Die Franz-Xaver-Mayr-Kur soll der Entschlackung von Körper und Darm dienen. Wissenschaftliche Belege für die Wirksamkeit fehlen.
- Funktionelle Myodiagnostik: Laut Kritikern ein Euphemismus für angewandte Kinesiologie. Durch Beobachtung der Reaktion der Muskeln auf Reize sollen gesundheitliche Störungen erkannt und damit erst therapierbar werden. Manche schwören darauf, die Initiative für wissenschaftliche Medizin in Österreich nennt die Methode jedoch eine "Scheinmedizin".
- Homöopathie: In Europa wohl die beliebteste und bekannteste Alternativmedizin. Dabei werden Giftstoffe in kaum mehr nachweisbaren Dosen in kleine Zuckerkügelchen zur Einnahme verarbeitet. Der wissenschaftliche Nachweis der Wirkung der sogenannten Globuli fehlt. Die Homöopathie hat sich zu einem beachtlichen Wirtschaftszweig entwickelt.
- Orthomolekulare Medizin: Im Prinzip behandelt die Methode die hochdosierte Einnahme von Vitaminen und Mineralstoffen. Wissenschaftlichkeit fehlt. Bei dauerhafter Überdosierung kann sie gefährlich sein.
Abgehalten und organisiert werden die Diplomlehrgänge in der Regel nicht von der Kammer selbst, sondern von privaten Fortbildungseinrichtungen und Instituten, die sich bei der Akademie der Ärzte registrieren lassen müssen. Sie unterrichten anschließend nach einem von der ÖÄK genehmigten Lehrplan.
Teure Kurse, private Honorare
Nach diesem Modell entstand in den vergangenen Jahren ein durchaus beachtlicher Markt für Ärztefortbildung und die dazugehörigen Diplome. Die meisten von ihnen in der Tradition von Wissenschaft und Schulmedizin, einige jedoch (siehe oben) auch im Graubereich zur Evidenzfreiheit. Laut Statistik hielten Österreichs Ärzte mit Jahresbeginn 2021 bundesweit 7.212 gültige Diplome für alternativmedizinische Methoden. Um ein solches zu bekommen, muss man als Arzt für die Kurse mit Kosten von 5.000 bis 15.000 Euro rechnen. Für die Diplome zum Aushängen in der Ordination sind im Anschluss noch 113,47 Euro Ausstellungsgebühr an die Akademie der Ärzte zu überweisen. Dafür bekommt man dann eine Urkunde zur bestandenen Prüfung zum Homöopathen, die vom Kammerpräsidenten und dem Präsidenten des wissenschaftlichen Beirats der Akademie unterschrieben ist.
Mit zweierlei Maß
Wie schwer sich die ÖÄK tut, die Nachfrage nach unwissenschaftlichen Praktiken in der Medizin mit dem Ärztegesetz unter einen Hut zu bringen, zeigt eine Episode aus dem vergangenen Sommer. Während die eigene Akademie nämlich alternativmedizinische Diplome ausstellte, empörten sich Spitzenvertreter damals öffentlich über Konkurrenz aus dem Apothekenumfeld. Was war geschehen?
Über einen Blog wurde bekannt, dass die Präsidentin der Apothekerkammer, Ulrike Mursch-Edlmayr, in ihrer Apotheke "quantenphysikalisch informierte Salzlösungen" gegen Impf-Nebenwirkungen vertrieb. Mehr brauchte es nicht. Ärztechef Szekeres zeigte sich "enttäuscht, dass die Apothekerkammer hier den evidenzbasierten Boden verlässt". Sein Stellvertreter, Johannes Steinhart, war "fassungslos" und sagte: "Wir brauchen keine Geschäftemacherei, sondern solide Medizin."
Wo ist die Ethik?
Genau solche Geschäftemacherei vermutet Ulrich Berger jedoch auf Seiten der Ärztekammer. Berger ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Wiener Wirtschaftsuniversität und Vorsitzender der Gesellschaft für kritisches Denken (GkD). Er selbst betreibt den Blog "Kritisch gedacht" und beschreibt dort regelmäßig Phänomene aus dem Bereich der Pseudowissenschaften.
Berger sagt, dass Interessenvertretungen üblicherweise dann besonders stark seien, wenn es um finanzielle Interessen gehe. Und Alternativmedizin sei zweifellos für alle Beteiligten ein Geschäft.
Dabei hätten Skeptiker wie er kein grundsätzliches Problem damit, wenn Patienten zusätzlich zur Schulmedizin auch an "unwissenschaftliche Pseudotherapien" glauben würden. Problematisch sei jedoch, dass eine Institution wie die Ärztekammer "mit der Vergabe durch Diplome die Scharlatanerie adelt". Denn auch wenn der Placebo-Effekt wissenschaftlich wirkungsloser Methoden manchmal durchaus beachtlich sei: Ethisch sei das nicht.
Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News 49/2021.