Der amerikanische Außenminister Antony Blinken zieht alle Register der Krisendiplomatie, um den Konflikt im Nahen Osten zu entschärfen. Seine Überzeugung, dass den USA eine besondere Verantwortung für globale Krisen zukommt, hängt eng mit seiner Familiengeschichte zusammen.
Am Ende seiner Tour de force durch die Krisenregion im Nahen Osten bemüht sich Antony Blinken um Optimismus. Türkei, Griechenland, Jordanien, Qatar, die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudiarabien. Israel natürlich, Palästina. Bahrain und Ägypten. Zehn Staatsbesuche in sieben Tagen. Bevor es in die USA zurückgeht, steht er auf dem Rollfeld des Flughafens in Kairo und beantwortet Reportern ein letztes Mal Fragen, im schwarzen Anzug, dunkler Krawatte, weniger aufpoliert, glatt gebügelt und aufgehellter als amerikanische Politiker sonst oft aussehen.
Er sei hier gewesen, fasst Blinken zusammen, um sich dafür einzusetzen, dass der Konflikt nicht weiter eskaliert und dass alle Menschen, die humanitäre Hilfe brauchen, Hilfe bekommen. Es sei außerdem notwendig, meint er, schon jetzt über eine langfristige Friedenslösung nachdenken, über einen eigenen Palästinenser-Staat. "Das ist nicht einfach. Es wird nicht über Nacht passieren. Aber es gibt bei vielen Ländern eine große Bereitschaft, an so einer Lösung mitzuwirken."
Was er nicht dazu sagt, aber jeder weiß: Die israelische Regierung unter Premier Benjamin Netanjahu ist für diesen Plan nicht zu haben. Viel Zweckoptimismus, kaum greifbare Aussichten. Wenige Stunden später bombardieren die USA und Großbritannien Stellungen der Houthi-Miliz im Jemen. Der Konflikt, vor dessen Eskalation die Weltgemeinschaft sich seit Monaten fürchtet, ist dabei, sich weiter auszubreiten.
Es ist das vierte Mal in den letzten Monaten, dass US-Außenminister Blinken im Nahen Osten unterwegs ist. Dazu kommen zahllose telefonische Kontakte. Blinkens Twitter-Account gibt einen Hinweis auf ihr Ausmaß. 7. Oktober, der Tag grausamer Hamas-Angriffe auf israelische Zivilisten: Telefonate mit Israels Staatspräsident, dem israelischen Außenminister, dem Palästinenserpräsidenten, dem saudischen Außenminister. 8. Oktober: Gespräche mit Spitzenrepräsentanten Ägyptens, der Türkei, Qatars, Jordaniens, Deutschlands, Italiens, Großbritanniens und der EU. Die diplomatischen Beziehungen laufen auf Hochtouren. Wenig später, am 12. Oktober, reist Blinken zum ersten Mal in dieser Angelegenheit nach Tel Aviv.
Ernsthaftigkeit und harte Arbeit
Fotos, die das Social-Media-Team des State Department in diesen Tagen postet, erzählen eine Geschichte von Ernsthaftigkeit, Fleiß und harter Arbeit. Teambesprechungen. Blinken an seinem Schreibtisch, im Gespräch mit Mitarbeitern, im Hintergrund sieht man Kinderfotos im Bücherregal stehen. Blinken allein in seinem Büro, in Papiere vertieft, aus der Entfernung durch eine halb geöffnete Tür fotografiert.
Sie zeugen von einer diplomatischen Normalität, die jahrelang nicht selbstverständlich war. Unter Donald Trumps Präsidentschaft wurde im State Department, dem US-Außenministerium, massiv ab- und umgebaut. Mitarbeiter kündigten massenhaft oder ließen sich versetzen. Zum ersten Mal seit dem 2. Weltkrieg hatten die USA nicht mehr das größte diplomatische Corps der Welt. Das Ministerium werde von "ahnungslosen Spendern und politischen Kriechern" geführt, befand damals ein demokratischer Abgeordneter.
Das hat sich geändert, seitdem Blinken im Jänner 2020 das Außenamt übernommen hat. Eine Person mit Einblick spricht von einem "Obama-Moment" im State Department. Blinken gilt als intellektuell beschlagen, dennoch höflich und bescheiden. Er habe, sagte eine Wegbegleiterin der "Times","die Fähigkeit, den Menschen harte Dinge auf sanfte Weise mitzuteilen". Und vor allem, im Unterschied zu politischen Günstlingen, die Trumps Außenpolitik prägten: Er kennt sich aus.
Bidens Alter Ego
Blinkens politische Karriere reicht bis in die 1990er-Jahre zurück. Er war, vor seiner Ernennung zum Außenminister, für mehrere Vorgängerregierungen in führenden außenpolitischen Funktionen tätig und fungiert seit 20 Jahren als enger Vertrauter von US-Präsident Joe Biden. Als "Bidens Alter Ego" betrachten ihn viele, oder "als König an Bidens Hof". Biden sehe Blinken fast als Familienmitglied, hält der "New Yorker" in einem ausführlichen Porträt fest. Mehrmals die Woche stimmen sich die beiden zu außenpolitischen Themen ab. Damit auch allen internationalen Partnern klar ist: Wenn Blinken redet, spricht Biden. Trotzdem gab es in der Vergangenheit Differenzen, was ihre außenpolitische Ansichten betrifft. Blinken, urteilen Beobachter, sei interventionistischer und idealistischer als sein Chef. Die USA hätten die Verantwortung, sich international zu engagieren, argumentierte Blinken wiederholt, andernfalls würde ein anderes Land versuchen, das entstehende Machtvakuum zu füllen. "Und das ist nicht gut für uns und in der Regel auch nicht gut für unsere engsten Partner und Verbündeten." Ein starker Kontrast zur "America First"-Doktrin der Trump-Jahre.
Blinkens außenpolitische Überzeugungen haben viel mit seiner Familiengeschichte zu tun. Als Kind jüdischer Eltern in New York geboren -Blinkens Großvater Moritz war 1904 als Kind mit seinen Eltern vor Pogromen aus der Ukraine in die USA geflohen -, zog er als Neunjähriger mit seiner Mutter nach Paris. Die Mutter, eine Kunstmanagerin, und ihr neuer Mann pflegten vielfältige Kontakte, und der junge Blinken kam schon als Jugendlicher in Kontakt mit Größen wie den Grimaldis und Arthur Rubinstein -Nachbarn in der noblen Avenue Foch -, Christo, Catherine Deneuve und Jane Fonda, die seine Frühreife und Neugier in Erinnerung behielten.
Das Paris der 70er-Jahre hielt aber auch bodenständigere Vergnügungen bereit. In einem Interview mit den "Rolling Stones" erzählte Blinken, wie er 1976 als 14-Jähriger mit einem Freund ein Stones-Konzert in Paris besuchte. Als die Show spätnachts vorbei war, fuhren keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr. "Mein Freund und ich gingen durch die ganze Stadt zu Fuß nach Hause. Es war magisch, Paris so zu erleben." Blinken spielte später in mehreren Bands, tritt nach wie vor als Musiker auf und hat erst kürzlich drei Songs auf Spotify hochgeladen. Aber nicht nur die Liebe zur Musik und die Sprache -Blinken spricht angeblich fast akzentfrei französisch -blieben ihm aus den Pariser Jahren, sondern auch ein komplexes Verständnis für die Rolle der USA. "Tony war ein Amerikaner in Paris", erzählte ein früherer Schulfreund der "Financial Times". Er war sich dessen sehr bewusst, dass er ein Amerikaner war und glaubte an amerikanische Werte. Aber er verstand auch, wie amerikanische Politik den Rest der Welt beeinflusst, weil er auf der anderen Seite des Atlantiks lebte und merkte, wie andere die USA sehen."
Noch stärker prägte Blinkens politisches Selbstverständnis sein Stiefvater Samuel Pisar, der zweite Ehemann seiner Mutter Judith. Ein "Jet-Set-Anwalt", wie der "Spiegel" 1980 schrieb, der u. a. den französischen Präsidenten Valery Giscard d'Estaing beriet und als Jugendlicher den Holocaust überlebt hatte. Seine Erzählungen müssen den jungen Tony stark beeindruckt haben. Nachdem sein Stiefvater in den letzten Kriegstagen einem Todesmarsch entflohen war, erzählte Blinken vor ein paar Jahren bei einem Wahlkampfevent in Florida, versteckte er sich im Wald. Plötzlich hörte er ein Rumpeln und Dröhnen, ein amerikanischer Panzer näherte sich. Pisar stürzte darauf zu, fiel auf die Knie und sagte die einzigen Worte, die er auf Englisch konnte: 'God Bless America'. "Ein schwarzer amerikanischer Soldat hob ihn in den Panzer, in die Freiheit, nach Amerika. Mit dieser Geschichte bin ich aufgewachsen - darüber, was unser Land ist, was es darstellt und was es bedeutet, wenn die USA engagiert sind und führen."
Auch bei seiner Ernennung zum Außenminister machte Blinken klar, woher er kommt und wofür er steht: "Unter meinen Eltern und Großeltern sind Einwanderer, Flüchtlinge, ein Holocaust-Überlebender. Amerika war ihre letzte Hoffnung. Ihre Geschichten haben mich dazu inspiriert, in den Staatsdienst zu gehen."
Harte Verhandlungen
Am 12. Oktober 2023, wenige Tage nach den Angriffen der Hamas-Terroristen, spricht Blinken vor Zuhörern im israelischen Verteidigungsministerium. Er versichert Israel die volle Unterstützung der USA und sagt: "Ich stehe nicht nur als Außenminister der Vereinigten Staaten vor euch, sondern auch als Jude. Ich verstehe auf einer ganz persönlichen Ebene, welchen erschütternden Nachhall die Hamas-Massaker für israelische Juden und, tatsächlich, für Juden überall haben."
Noch in derselben Nacht rekonstruiert das "Time Magazine" in einer Cover-Story vom Jänner 2024, versuchte Blinken Israels Regierungschef Netanjahu in langen, zähen Verhandlungen davon zu überzeugen, Hilfe für die Menschen im Gazastreifen zuzulassen. Erst die Aussicht auf eine persönliche Israel-Reise Bidens, eine wichtige symbolische Geste für Israel, ermöglichte gegen drei Uhr in der Früh einen Kompromiss. Dieser Balanceakt bestimmt die amerikanische Nahost-Politik seitdem. Die USA stellen sich hinter Israel und versuchen zugleich - und das immer deutlicher -, auf eine Linderung der humanitären Probleme in Gaza zu drängen. Mit eingeschränktem Erfolg: Die Anzahl der erwirkten Feuerpausen und Hilfslieferungen sei völlig unzureichend, räumt Blinken gegenüber "Time" selbst ein. "Aber irgendwo muss man ja anfangen."
Auf dem Spiel steht viel. Umfragen zeigen, dass Joe Bidens Nahost-Politik ihn seine Wiederwahl kosten könnte: 75 Prozent der unter 18-29-jährigen Wählerinnen und Wähler sind demnach der Meinung, dass die Demokraten den Konflikt nicht gut managen. Ebenso viele finden, dass Israel nicht genug tue, um zivile Opfer zu vermeiden.
Es handelt sich aber auch um eine Kraftprobe auf internationaler Ebene. Die globalen Machtverhältnisse verschieben sich, der mögliche Wahlsieg Donalds Trumps hängt wie ein Schatten über den letzten Monaten der Biden-Regierung, vor allem europäsche Partner sind verunsichert. Und die Zweifel mehren sich, dass die USA noch stark genug sind, um einen Konflikt von dieser Sprengkraft zu moderieren. Aber wenn's einer kann, auch darin sind sich viele Beobachter einig, dann Antony Blinken, der Brückenbauer, der unermüdliche Superdiplomat, der nicht für eine friedliche Lösung im Nahen Osten kämpft, sondern auch für seine ganz persönliche Vision der Vereinigten Staaten von Amerika.
Dieser Beitrag erschien ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 3/2024.