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Was wir fühlen, wenn wir sterben

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Licht am Ende des Tunnels

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Eine neue US-amerikanische Studie stellt all das infrage, was man bisher glaubte, über das Sterben zu wissen. Warum unser Gehirn länger aktiv ist als angenommen und was das für Intensiv- und Notfallmedizin bedeutet

Sogar wenn unser Herz zu schlagen aufhört, kann unser Gehirn Anzeichen von Bewusstsein zeigen - und das in manchen Fällen bis zu 60 Minuten nach einem Herz-Kreislauf-Stillstand.

Zu diesem Resultat kommt eine neue Studie des britischen Kardiologen Sam Parnia von der New York University. In einer aufwendigen Analyse an mehr als 25 Krankenhäusern in den Vereinigten Staaten und Großbritannien ist es dem Forscherteam gelungen, drei Jahre lang Menschen während eines Herzstillstands zu untersuchen.

Zwischen Mai 2017 und März 2020 wurde der Zustand von 567 Personen nach einem solchen Stillstand analysiert: Etwa zehn Prozent der Patienten überlebten, 28 konnten über ihre Erfahrungen und Erinnerungen befragt werden. Um mögliches Bewusstsein festzustellen, untersuchte das Forscherteam sowohl die Sauerstoffsättigung als auch die Gammawellenaktivität im Gehirn mittels EEG während des Herzstillstands, während parallel die Reanimationsmaßnahmen liefen. Zudem spielten die Forscher den Patienten während der Behandlung Audioinhalte (das konsequente Wiederholen der Begriffe Banane, Birne und Apfel) vor, um zu überprüfen, ob diese Reize wahrgenommen wurden und ob nachher noch eine Art Erinnerung vorhanden war. Zusätzlich wurden 126 Personen, die außerhalb eines Krankenhauses einen Herzstillstand erlitten, zu ihren Erfahrungen während der Reanimation befragt.

Zwischen Traum und Realität

Die verblüffenden Ergebnisse: Befragten die Forscher die überlebenden Patienten im Nachhinein zu ihren Erinnerungen, gaben mehr als 40 Prozent an, sich über den Ernst ihrer Lage im Klaren gewesen zu sein. 20 Prozent konnten außerdem konkrete Erinnerungen an das Gefühl des Sterbens protokollieren. Selbst der Audioinhalt konnte in einem Fall in der korrekten Reihenfolge wiedergegeben werden.

Wenn der Tod sich nähert, laufen einige Teile unseres Gehirns auf Hochtouren. Realität, Erinnerungen, Gefühle, Sinneseindrücke und Träume werden vermischt. Jürgen Sandkühler, Hirnforscher und Professor an der Medizinischen Universität Wien: "Bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand wird die Blutversorgung des Gehirns unterbrochen und der Kreislauf steht still. Das Gehirn ist aber kein Computer, der, wenn man den Stecker zieht, einfach gar nicht mehr funktioniert." Unser Blut transportiert konstant Sauerstoff und Glukose sowie andere wichtige Stoffe ins Gehirn und versorgt es mit Energie, um den hohen Aufwand der Gehirnzellen zu decken, erklärt der Forscher. "Werden Sauerstoffund Glukoseversorgung unterbrochen, kann das Gehirn die delikate Balance zwischen Erregung und Hemmung nicht mehr aufrechterhalten. Einige Gehirnareale und Typen von Nervenzellen reagieren empfindlicher auf Energieentzug, auf Sauerstoffmangel als andere Bereiche." Gleichzeitig werden durch die Blutzirkulation Stoffwechselprodukte aus dem Gehirn abtransportiert. Der Kreislaufstillstand verursacht eine plötzliche Abschaltung dieser lebensnotwendigen, im Körper ablaufenden Systeme. "Dieser Prozess läuft aber nicht nach einem sinnvollen Plan ab. Welche Bereiche zuerst schwächeln, hängt auch vom Energiebedarf ab: Einige Areale schalten nach etwa 180 Sekunden ab, andere früher oder später. Das ist auch ganz individuell abhängig von der Vorgeschichte des Patienten", so Sandkühler.

Erinnerung an Reanimation

Die britisch-US-amerikanische Studie belegt nun, dass sich das Gehirn sich nach einem "Shutdown" länger wieder vollständig erholen kann als bislang angenommen. Zudem verhält sich das Gehirn während des Sterbens durchaus paradox: "Man konnte feststellen, dass in der ersten Phase, wenn es zum Kreislaufstillstand kommt, eine Übererregbarkeit in vielen Gehirnarealen ausgelöst wird, weil die Hemmungsmechanismen gestört sind", erklärt Sandkühler. "Was eigentlich paradox ist: Die Energie fehlt plötzlich und dennoch wird das Gehirn überaktiv. Mit EEG-Messungen konnte man zeigen, dass die Wellen mit besonders hohen Frequenzen auftauchen, was sonst nur bei kognitiven Prozessen der Fall ist."

Areale, die für Gedächtnisleistungen oder die Verarbeitung von Sinneseindrücken verantwortlich sind, laufen dann unkontrolliert im Hochbetrieb, so der Forscher. Das erkläre auch, weshalb vielen Patienten mit Herz-Kreislauf-Stillstand plötzlich die verstorbene Großmutter oder längst verdrängte Erinnerungen unterkommen. In Parnias Studie konnten einige der befragten Patienten vor allem konkrete Ereignisse der Reanimation wiedergeben. Erinnerungen an einen Druck auf der Brust, an das Defibrillieren, an Schmerz oder Geräusche wurden am häufigsten genannt: "Ich erinnere mich, dass jemand Elektroden an meiner Brust befestigte. Ich erinnere mich an den Schock", so ein Proband über die Erfahrung des Defibrillierens. Andere wiederum fühlten sich beinahe schwerelos: "Ich war nicht mehr in meinem Körper. Es war, als würde ich über meinem Körper schweben und die Situation im Krankenzimmer beobachten."

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ERINNERN ANS STERBEN. "Ich stand neben dem Bett und habe die Situation beobachtet", so ein Proband der Studie. Auch verstorbene Familienmitglieder traten während der Reanimationsversuche häufig ins Bewusstsein der Patienten

© 2019 HandintheBoxinc/Shutterstock

Sandkühler vergleicht solche Sinneseindrücke mit jenen, die auch Epilepsiepatienten vor einem Anfall erleben. "In so einer Situation läuft eine hohe, unkoordinierte Erregung ab, weil die Gehirnfunktionen gestört sind. Ähnlich wie bei einem epileptischen Anfall. Viele Epilepsiepatienten berichten beispielsweise häufig davon, dass sie vor dem motorischen Anfall eine Aura mit besonderen Wahrnehmungen haben, dass sie Flimmerlichter sehen. Oder sie berichten von anderen Geschmacks- und Geruchswahrnehmungen."

Ethische Lehren

Wie der Forscher der MedUni Wien ausführt, ist das menschliche Gehirn aber prinzipiell nicht darauf ausgelegt, Sterbeerlebnisse objektiv verarbeiten zu können. Fälschlicherweise werden in diesen Extremsituationen Tunnelblicke, Wahrnehmungen und Erinnerungen eingespielt: "Diese werden im wahrsten Sinne wach und vermischt mit Fantasie - ähnlich wie in einem Traum. Das Gehirn produziert real aussehende Ereignisse, die ganz skurril oder eben real in Form von Erinnerungen sein können. Es handelt sich dabei aber nicht um Erlebnisse, die wirklich in diesem Moment des Herz-Kreislauf-Stillstands passieren, sondern eben um Eindrücke, die im Gehirn produziert werden."

Eine andere Interpretation hat der Studienautor Sam Parnia zur Hand. Die Hypothese seines Forscherteams lautet: Das Gehirn bekommt während des Sterbens vollumfänglichen Zugang zum gesamten Bewusstsein. So eben auch zu Inhalten, die für gewöhnlich ausgeschaltet werden, um das Gehirn in seiner Aufnahmefähigkeit nicht zu überfordern. In der Esoterik, auch in der Religion wird das als "reines Bewusstsein" bezeichnet. Immer häufiger wird dies auch wissenschaftlich diskutiert: So wurden ähnlich intensive Gehirnaktivitäten auch bei meditierenden Mönchen gemessen. Areale, die gewöhnlicherweise im Ruhemodus sind, könnten durch das Sterben plötzlich aktiv werden und der sterbenden Person Zugang zur Gesamtheit ihres Bewusstseins verschaffen. "Wir wissen noch nicht, was der evolutionäre Nutzen daraus ist, aber es scheint, als würde der Mensch so auf den Übergang vom Leben in den Tod vorbereitet werden", argumentiert der NYU-Forscher.

Was auch immer der Grund sein mag: Sowohl Scientific Community als auch Notfallmedizin sollten aus Studien wie dieser Lehren ziehen. "Es gibt ja schon längst Richtlinien für Mediziner, wie man mit Patienten in komatösen Zuständen umgeht: Dass das äußere Erscheinungsbild des Patienten - regungslos, nicht ansprechbar - beispielsweise nicht immer darauf hindeutet, dass die Person keine Wahrnehmung mehr hat", so Jürgen Sandkühler.

Ein weiteres Learning sollte sein, dass man Patienten nicht zu früh aufgeben sollte, nur weil die Atmung für einige Minuten ausgesetzt hat

Jürgen Sandkühler

Ein respektvoller Umgang mit Patienten hat oberste Priorität, betont der Forscher der MedUni, und der Patient muss so behandelt werden, wie man ihn auch im wachen Zustand behandeln würde: "Mit Würde, Respekt, eben wie einen Erwachsenen mit Rechten und den Fürsorgepflichten, die die Medizin ihm gegenüber ja hat." Dasselbe gelte nicht nur für Nahtoderfahrungen, sondern auch im operativen Umfeld, mahnt der Forscher. "Viele Patienten berichten davon, dass sie in der Einleitungs- oder Ausleitungsphase der Narkose Sinneswahrnehmungen erlebt haben. Diese Wahrnehmungen vermischen sich oft mit traumhaften Erlebnissen und können für den Patienten sehr verstörend sein. Ob Operation oder Reanimation: Es handelt sich hier um extreme Belastungssituationen. Wenn man nicht angemessen spricht oder sich verhält, kann das für Patienten fatale traumatisierende Auswirkungen haben und zu Gedächtnisinhalten führen, die nie mehr vergessen werden können."

Nicht zu früh aufgeben

Weiteres sollte die Medizin aus dieser Studie mitnehmen, dass Patienten nach einem Herz-Kreislauf-Stillstand nicht zu früh aufzugeben seien, mahnt Sandkühler. "Gerade junge Patienten oder Kinder können auch nach längerer Zeit noch erfolgreich reanimiert werden. Das gilt auch für unterkühlte Personen: Man hat beispielsweise herausgefunden, dass der Energiebedarf eines unterkühlten Körpers geringer ist und so Reanimationsmaßnahmen auch später noch erfolgreich sein können."

Jedoch könnten Studien wie diese auch zu falschem Optimismus führen, erklärt der Wissenschaftler. "In manchen Fällen gibt es einfach keine Hoffnung mehr. Beispielsweise dann, wenn jemand in einem schweren Koma ist, keinerlei Gehirnaktivitäten mehr messbar sind und nur mehr das Herz schlägt. Man muss der medizinischen Fachwelt auch vertrauen und den klaren Indikatoren, beispielsweise nekrotisch gewordenen Hirnarealen."

Den Tod zu akzeptieren, ist schwer. Eine würdevolle Umgebung für Patienten zu schaffen, sollte aber immer möglich sein - ob mit oder ohne Bewusstsein.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 40/2023 erschienen.

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