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Menschen auf der Straße

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Die Zahl der Einwohner Österreichs steigt, während die Zahl der Wahlberechtigten stagniert. Was bedeutet es, wenn eine immer größere Gruppe von demokratischen Prozessen ausgeschlossen ist?

Von einem der vielen Plakatsujets, die derzeit das Land verschönern, lächelt Alexander Van der Bellen verschmitzt herunter. Darunter steht: "Unser Präsident." Diese Zuschreibung zielt nicht nur auf das Faktische ab - dass dieser Mann seit sechs Jahren in der Hofburg seinen Amtsgeschäften nachgeht, steht außer Frage -, sondern formuliert auch einen Anspruch. Dieser Mann will auch in einem ideellen Sinne unser aller Präsident sein.

Aber wer ist eigentlich "wir" und "unser"? Bei der letzten Präsidentenwahl 2016 fielen 53,8 Prozent der gültigen Stimmen auf Van der Bellen, so lautet das offizielle Endergebnis. Doch nur 38,6 der Wahlberechtigten stimmten damals für ihn, trotz relativ hoher Wahlbeteiligung. Und nur 33 Prozent der in Österreich lebenden Personen über 16. Bei der bevorstehenden Wahl könnte das Ergebnis ähnlich ausfallen.

Das Problem: Die Bevölkerung in Österreich wächst seit Jahren, aber die Zahl der Wahlberechtigten bleibt aufgrund restriktiver Einbürgerungspolitik in etwa gleich. Immer mehr Menschen, die in Österreich leben, arbeiten und Steuern zahlen, aber nicht die österreichische Staatsbürgerschaft haben, sind vom demokratischen Prozess weitgehend ausgeschlossen.

"Frustrierend"

"Es ist so, wie wenn ich sage, ihr dürft zwar zahlen für die Party, aber ihr dürft nicht mitbestimmen, welche Musik gespielt wird. Das ist für die meisten sehr frustrierend", sagt Hans Arsenovic. Der Unternehmer sitzt als Wirtschaftssprecher für die Grünen im Wiener Gemeinderat und ist dort der einzige Volksvertreter mit Wurzeln im ehemaligen Jugoslawien. Dabei leben Hunderttausende ursprünglich aus den Balkanländern stammende Menschen in Wien, viele von ihnen mit ausländischer Staatsbürgerschaft - und daher ohne Wahlrecht bei den Landtags,- Nationalrats- oder Bundespräsidentenwahlen.

"Es bestimmt immer wer anderer über dein Leben. Und das zieht sich weiter bis ins Parlament. Ich bin im Wiener Landtag von 100 Menschen der einzige mit einem '-ic' im Namen. Das repräsentiert überhaupt nicht die Bevölkerung, die hier lebt. Dabei wollen wir ja eigentlich, dass die Leute sich in Österreich engagieren und nicht woanders. Ein Mensch, der politisch aktiv sein möchte, aber es hier nicht darf, wendet sich dann vielleicht der Politik in seinem Heimatland zu. Und wir tragen nicht dazu bei, dass sich das ändert."

Genau 1.382.503 Personen über 16 Jahren, die als ausländische Staatsbürger in Österreich leben, sind bei der Bundespräsidentenwahl am 9. Oktober nicht wahlberechtigt. Das sind etwa 18 Prozent der Personen im wahlfähigen Alter. Mit großen regionalen Unterschieden. In Städten wie Wien, Salzburg oder Innsbruck dürfen rund ein Drittel nicht zur Wahl, die westlichen Bundesländer Vorarlberg, Tirol und Salzburg liegen mit knapp 20 Prozent im Bundesschnitt. Jede oder jeder Sechste hat in Österreich also kein Wahlrecht und wird damit politisch nicht gehört.

Welche Interessen kommen dadurch zu kurz? Wie würde Österreich aussehen, wenn die Menschen, die hier leben, auch mitbestimmen dürften?

Mehr Junge, mehr Arbeiter

Über die Gruppe der nicht Wahlberechtigten in Österreich ist wenig bekannt, sagt der Politologe Peter Filzmaier. Fest steht jedenfalls, dass die Gruppe der Menschen, die ohne österreichischen Pass in Österreich leben, sehr divers ist. Rund die Hälfte von ihnen stammen aus EU-oder EFTA-Staaten, die andere Hälfte aus Drittländern. Das Bildungsniveau reicht von sehr hoch bis sehr niedrig, die Einkommensunterschiede sind groß. Mutmaßungen darüber, ob und wie sich das politische System in Österreich verändern würde, wenn mehr von ihnen zur Wahl zugelassen wären, sind entsprechend unsicher. Die meisten Politikwissenschaftler gehen davon aus, dass sich keine groben Verschiebungen in der Parteienlandschaft ergeben würden.

Die Annahme, linke Parteien würden von einer Liberalisierung des Wahlrechts profitieren, hält Filzmaier beispielsweise für falsch. Es sei eher so, dass das Wahlverhalten in den migrantischen Gruppen ähnlich sei wie jenes der Menschen, die seit Geburt die österreichische Staatsbürgerschaft haben. In Wien zum Beispiel, wo die SPÖ stark ist, werde auch von Personen mit Migrationshintergrund eher die SPÖ gewählt, in Niederösterreich eher ÖVP.

Aber: Es gibt auch Unterschiede zwischen den 6,3 Millionen, die bei Wahlen in Österreich derzeit zugelassen sind, und den 1,4 Millionen, die es nicht sind. Migranten sind zum Beispiel durchschnittlich zehn Jahre jünger als der Rest der Bevölkerung. Und von den rund 950.000 in Österreich beschäftigten Ausländerinnen und Ausländern, die die Sozialversicherung im August 2022 auswies, waren knapp 600.000 Arbeiter und nur 350.000 Angestellte und Beamte. Insgesamt stehen österreichweit aber 1,5 Millionen Arbeiter 2,5 Millionen Angestellten und Beamten gegenüber.

Beide Aspekte könnten für den politischen Diskurs in Österreich eine Rolle spielen, wenn das Staatsbürgerschaftsrecht liberalisiert würde, meint Filzmaier. "Bei der jetzigen Wählerstruktur sind Pensionisten mit Abstand die größte Wählergruppe, wenn wir Pension als Berufsgruppe zählen. Das würde sich aber verlagern und der Fokus mehr auf die Interessen der Erwerbstätigen gerichtet werden. Und auch die Berufstätigen im öffentlichen Dienst, die jetzt stark sehr im Mittelpunkt stehen, würden dann als Wählergruppe weniger zählen."

Polemisch formuliert: Eine künstlich klein gehaltene Gruppe diktiert die Regeln, nach der eine immer größer werdende Gruppe von Menschen leben muss.

Weniger Teilhabe

"Wenn man sehr viel Migration, zugleich aber ein sehr restriktives Staatsbürgerschaftsgesetz hat, wie das in Österreich der Fall ist, provoziert man auf Dauer, dass ein großer Teil der Bevölkerung vom politischen Prozess ausgeschlossen ist", sagt Laurenz Ennser-Jedenastik, Politikwissenschaftler an der Universität Wien. "Das geht auf Dauer nicht gut. In den Städten wird das am schnellsten auffallen, weil dort die meisten Menschen ohne Wahlrecht leben. Man wird auf einmal einen politischen Prozess haben, der an der Hälfte der Wohnbevölkerung vorbeigeht. Ich glaube, wir sind noch nicht an dem Punkt, wo es zu ganz dramatischen Verzerrungen führt, aber es geht in eine Richtung, in der parlamentarische Mehrheiten durch ganz kleine Minderheiten der Wohnbevölkerung zustande kommen."

Nicht nur, weil die Schere zwischen Einwohnern und Wahlberechtigten immer größer wird, sondern auch, weil die Wahlbeteiligung seit Jahrzehnten sinkt.

Ein strukturell wichtiger Faktor dafür, meint Ennser-Jedenastik: "Das organisierte gesellschaftliche Leben, das früher diese Norm, dass man wählen geht, vermittelt hat, wird schwächer. Der Einfluss von Gewerkschaften, Kirchen oder politischen Parteien geht zurück, die Individualisierungsprozesse werden stärker und viele - vor allem jüngere -Menschen kriegen in ihrem sozialen Umfeld nicht mehr mit, dass es normal ist, zur Wahl zu gehen."

Der jüngste "Demokratie Monitor" des Sora-Instituts kommt zu dem Schluss, dass die Zustimmung zur Demokratie als bester Staatsform zwar unverändert hoch ist, das Vertrauen in die Politik aber spürbar gelitten hat. Besonders groß ist der Vertrauensverlust im unteren Einkommensdrittel. Bei jenen Menschen also, die laut Studien ohnehin schon an den Rand des politischen Systems gedrängt sind. Denn, so zeigen Studien, in sozioökonomisch benachteiligten Gegenden ist auch die Wahlbeteiligung besonders niedrig. Am Beispiel Wien: Bei der Nationalratswahl 2019 lag die Wahlbeteiligung in der bürgerlichen Josefstadt bei 80,4, im Arbeiterbezirk Favoriten nur bei 64,7 Prozent.

Einen einfachen Weg, enttäuschte oder entfremdete Wählerinnen und Wähler wieder in den demokratischen Prozess zurückzuholen, gebe es nicht, sagt Politikwissenschaftler Ennser-Jedenastik. "Das sind gesellschaftlich sehr komplexe Prozesse, die man nicht durch irgendeine politische Maßnahme leicht verändern kann."

"Tabu-Diskussion"

Aber es gäbe die Möglichkeit, das Staatsbürgerschaftsrecht zu liberalisieren und damit neue Wähler zuzulassen. Eine Frage, über die in Österreich allerdings nicht ernsthaft debattiert wird. Weil sie mit den Worten des Politikwissenschaftlers Peter Filzmaier "eine politische Tabu-Diskussion" ist, "die sofort entlang der Parteilinien sehr unsachlich diskutiert wird und für die es damit in absehbarer Zeit nicht die nötige Zweidrittelmehrheit geben wird".

Dabei spräche einiges dafür, den Zugang zur österreichischen Staatsbürgerschaft und damit zum Wahlrecht zu erleichtern. "Das Hauptargument lautet, dass diese Menschen ja trotzdem da und von der Politik betroffen sind, auch wenn ich sie nicht mitwählen lasse", sagt Filzmaier. "Die Frage ist, was sie mit ihren politischen Meinungen machen, wenn sie diese nicht durch die in der österreichischen Demokratie vorgesehenen Beteiligungsoptionen artikulieren können. Artikulieren sie die dann in zweifelhaften Vereinen? Im Extremfall sogar in nicht demokratischen Formen? Mache ich sie damit anfälliger für politische Rattenfänger, vielleicht auch aus dem Ausland?"

Wählen ohne Pass

Der Wiener Viktor-Adler-Markt an einem Abend im September. Im Kulturzentrum 129 findet ein Konzert syrischer, iranischer, türkischer und österreichischer Musiker statt. Vor dem Eingang hat SOS Mitmensch eine Pass-egal-Wahlkabine aufgebaut. Seit einigen Jahren lädt die Menschenrechtsorganisation auch ausländische Staatsbürger zur Wahl, symbolisch zwar, aber immerhin. An diesem Abend hält sich der Andrang in Grenzen, es sind noch Wochen bis zur Wahl, deren Ergebnis ohnehin schon festzustehen scheint. Aber ein paar Menschen finden sich ein, die in der mobilen Wahlkabine ihr Kreuzerl machen wollen.

Der 33-jährige Kajin aus Syrien zum Beispiel. In seinem Heimatland habe er nie gewählt, erzählt er, "weil das keine fairen Wahlen waren. Das Ergebnis stand schon vorher fest. Das hat mich nicht interessiert. Aber in Österreich würde ich sehr gerne wählen."

"Das Wahlrecht ist einer der Faktoren, warum sich Leute überhaupt einbürgern lassen wollen", erklärt der Soziologe Kenan Güngör. "Ungefähr 50 Prozent möchten am politischen Geschehen teilhaben, die andere Hälfte interessiert es nicht. Das ist bei österreichischen Staatsbürgern auch nicht anders, ich würde also davor warnen, sofort an Radikalisierung zu denken. Ich glaube aber schon, dass das Gefühl der Ablehnung und die innere Emigration begünstigt werden, wenn sich Gruppen insgesamt nicht anerkannt fühlen. Und das kann natürlich auch Community-intern instrumentalisiert werden. Nach dem Motto: Schaut, die wollen euch noch nicht, weil ihr Muslime, Türken, Serben etc. seid, das sieht man auch daran, dass ihr nicht mitentscheiden oder wählen könnt."

Güngör plädiert dafür, auch Doppelstaatsbürger wählen zu lassen, zumindest für einen gewissen Zeitraum, bis eine der beiden Staatsbürgerschaften erlischt. Und dafür, die traditionelle Denkweise generell zu ändern. "In Studien wird oft nach Entweder-oder-Kategorien gefragt. Fühlen Sie sich als Türke oder als Österreicher? Aber wir merken, dass wir sehr interessante Ergebnisse bekommen, wenn wir Optionen des Sowohl-als-auch zulassen. Zum Beispiel: Wie sehr fühlen Sie sich als Türke oder Serbe? Dann kommt vielleicht die Antwort 'zu 70 bis 80 Prozent'. Und wenn wir dann nachfragen:'Wie sehr fühlen Sie sich als Österreicher?', kommt vielleicht '50 bis 60 Prozent'. Mehrfach-Zugehörigkeit ist viel eher unsere Realität als dieses 'Nur hier oder nur dort'."

Wie auch immer das Ergebnis einer Diskussion über die Liberalisierung des Staatsbürgerschaftsrechts ausgeht, geführt gehört sie, meint Peter Filzmaier. "In einem geradezu Pawlow'schen Reflex kommt von ÖVP und FPÖ, dass Ausländer unseren Staat übernehmen, und im ebenso Pawlow'schen Reflex von der SPÖ, Grünen und Neos, die schwarz-blaue Meinung sei sowieso undemokratisch oder gar rassistisch. Auf dieser Basis muss man gar nicht weiterdiskutieren. Ich befürchte, dass sich das immer mehr verfestigt, bis es irgendwann als radikalisiertes Konfliktthema aufbricht."

Bundesländeranteil an nicht Wahlberechtigten

Ungefähr jede sechste in Österreich lebende Person über 16 darf hier nicht wählen, weil sie nicht die österreichische Staatsbürgerschaft hat. Besonders groß ist die Gruppe in den städtischen Ballungsräumen, etwa in Wien, Salzburg oder Innsbruck. In einzelnen Wiener Bezirken sind mehr als 40 Prozent der Bevölkerung vom Wahlrecht ausgeschlossen. Im Bundesländervergleich fällt auf, dass neben Wien auch die westlichen Bundesländer Vorarlberg, Tirol und Salzburg relativ viele nicht Wahlberechtigte aufweisen. Während die Bevölkerung Österreichs seit einiger Zeit konstant wächst, stagniert die Zahl der Wahlberechtigten. Bei der Präsidentschaftswahl 2010 waren sogar etwas mehr Menschen wahlberechtigt als bei der Wahl 2022.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News-Magazin Nr. 38/2022.

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