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Hat Österreich tatsächlich ein Tschetschenen-Problem?

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©Bild: News/Ricardo Herrgott
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Bandenkriminalität, Schlägereien, Waffen: Keine andere Volksgruppe hat in Österreich ein derart schlechtes Image wie die Tschetschenen. Was sind die Ursachen? Eine Spurensuche in der Community. Dieser Artikel erschien ursprünglich "News" Nr. 06/2017

Die Männer tänzeln barfuß, ihre Blicke haften aneinander, die Hände sind vor dem Körper zu Fäusten geballt. Dann tritt Arbi Agujev zu. 77 Kilo Muskelmasse, 1,83 Meter groß, Schultern wie ein Schrank. Er ringt seinen Gegner zu Boden. In der Szene nennt man ihn "Monster".

Sport hat mir geholfen, dass ich nicht schlimm werde

Ein Keller im 20. Wiener Gemeindebezirk, es riecht nach Schweiß und Ledersäcken. Die Fenster sind abgedunkelt, der Boden mit Gummimatten ausgelegt. Hier trainiert die tschetschenische Kampfkunst-Elite. Die Disziplin, in der Agujev Profi ist, heißt Mixed Martial Arts (MMA). Ein moderner Nahkampf-Mix aus Ringen, Boxen und Thaiboxen, der wegen seiner minimalen Regeln als besonders brutal gilt. "Kampfsport bedeutet alles für mich. Ich war als junger Mensch ein bisschen aggressiv, Sport hat mir geholfen, dass ich nicht schlimm werde", sagt der 29-Jährige.

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Sein Kampfname lautet "Monster": Arbi Agujev, MMA-Profi aus Wien-Brigittenau

 © News Ricardo Herrgott

Um zu verstehen, was der Hilfsarbeiter mit "schlimm" meint, reicht ein Blick in die Nachrichten. Samstag vor einer Woche: Die Polizei nimmt 22 Tschetschenen auf der Donauinsel fest. Die WEGA findet eine Uzi-Maschinenpistole, einen Ceska-Revolver und Munition. Aus Polizeikreisen dringt durch, dass offenbar weitaus mehr Waffen und Tschetschenen vor Ort waren, die jedoch flüchteten. Beteiligt soll außerdem ein Mann gewesen sein, der schon 2009 als Randerscheinung auffiel: Damals war der Tschetschene Umar Israilov in Wien-Floridsdorf auf offener Straße erschossen worden. Ende Dezember: Massenschlägerei zwischen Tschetschenen und Afghanen am Wiener Westbahnhof, 14 Anzeigen. Kommenden Mittwoch: Strafprozess gegen drei Jugendliche, die einem Mädchen in Wien-Kagran den Kiefer gebrochen und die Attacke gefilmt haben sollen. Das Video landete auf Facebook. Einer der mutmaßlichen Täter ist Tschetschene.

"Soko Gambit"

Einem älteren Bericht des Bundeskriminalamtes zufolge stellen tschetschenische Gruppen die größte Herausforderung für die Strafverfolgungsbehörden dar, "da sich ihre kriminellen Strukturen im Bundesgebiet immer stärker verfestigen". Es gehe um Bandenkriminalität und Schutzgelderpressungen. Sogar eine Sonderkommission wurde eingerichtet: die sogenannte "Soko Gambit". Ursprünglich im Fokus: organisierte Kriminalität tschetschenischer Tätergruppen. Inoffiziell heißt es: Sorge bereite auf jeden Fall die tschetschenische Affinität zu Faustfeuerwaffen, denn annähernd jeder im Milieu sei bewaffnet. Was sich aber gezeigt habe: Tschetschenen stünden innerhalb der mafiösen Strukturen nur in der zweiten und dritten Reihe: Sie gelten als ausführende Organe, also Geldeintreiber. Nicht als Auftraggeber. Und genau deswegen kümmert sich die Soko auch längst nicht mehr ausschließlich um Tschetschenen, sondern mittlerweile um multikulturell organisierte Kriminalität.

Das kriminelle Image

Trotzdem hat kaum eine Bevölkerungsgruppe in Österreich einen derart schlechten Ruf wie die Tschetschenen. Warum polarisieren sie so? Haben wir ein "Tschetschenen-Problem"?

Schätzungen des Innenministeriums legen nahe, dass sich etwa 30.000 Tschetschenen in Österreich aufhalten. In keinem anderen westeuropäischen Land leben mehr als hier. Exakte Zahlen kann auch die Statistik Austria nicht liefern. Tschetschenen werden nämlich als Staatsbürger der Russischen Föderation geführt, dazu zählen neben Russen auch andere kaukasische Bevölkerungsgruppen. Ein Gewaltproblem ist aus der Kriminalstatistik nicht abzulesen. Es kann auch hier nur vermutet werden. Im Jahr 2015 waren von knapp 93.000 ausländischen Tatverdächtigen 3.008 Angehörige der Russischen Föderation. "Ich kenne keine Studie, wonach Tschetschenen feindlicher wären als andere Völker, und ich bin erstaunt, wie schlecht ihr Ruf hier ist. Diese pauschale Hetze habe ich woanders nie erlebt", sagt Maynat Kurbanova. Die 42-jährige Journalistin gilt seit ihrer Berichterstattung während der Tschetschenien-Kriege als verfolgt und lebt im Wiener Exil: "Es ist nicht angenehm, Tschetschenin in Österreich zu sein."

Der Exilpolitiker Huseyn Iskhanov, der früher im Parlament in der Hauptstadt Grosny saß und heute in Wien lebt, übt hingegen Kritik an seinen kriminellen Landsleuten. "Sie verschmutzen unseren Ruf. Vor allem die, die nie im Krieg gekämpft haben, prahlen mit falschem Stolz."

Kämpfen und Stolz: Das sind die Knackpunkte. Beide scheinen tief verwurzelt in der kulturellen Seele des Landes. Typisch sind Gewalteskalationen, die sich an vermeintlichen Banalitäten entzünden. "Wenn du zu einem Tschetschenen 'du Schwuchtel' sagst, hast du ein Problem", sagt Arbi "Monster" Agujev. Die Journalistin Kurbanova bestätigt: Das tschetschenische Gemüt tendiere zur Überreaktion. "Bei gewissen Witzen, die woanders ignoriert würden, wird dann direkt zugeschlagen."

Einer, der seit Jahrzehnten tschetschenische Mandanten vertritt, nämlich Strafverteidiger Rudi Mayer, hat einen Erklärungsansatz für dieses Verhalten: falsch verstandenes Ehrgefühl. "In unserem Strafrecht verteidigen wir Freiheit, Vermögen, Leben - aber nicht die Ehre, sie ist kein notwehrfähiges Gut." Bei Tschetschenen aber stehe sie über allem: "Wenn du keine Ehre mehr hast, bist du in deren Augen wertlos. Lieber stehend sterben als kniend leben." Geständnisse vor Gericht erlebe er auffällig selten.

Woher dieser Hang zur ewigen Selbstverteidigung des tschetschenischen Stolzes? Ein Blick in die Geschichte: 400 Jahre Krieg, bis heute. "Es gab nie zumindest 50 Jahre Frieden. Es ging immer ums Überleben", sagt die Journalistin Kurbanova. Man finde quasi keinen Mann, der nicht gekämpft hätte. Wie der Exilpolitiker Iskhanov, 61 Jahre. Seine erste Frau starb unter Bomben, ihr Grab hat er tagelang gesucht. Zweimal geriet er in russische Gefangenschaft. Die Narbe auf seiner Wange erinnert ihn jeden Tag an die Gewalt: "Es gibt keine tschetschenische Familie, der so etwas nicht widerfahren ist."

Ehre ist alles

Die Kriegstraumata werden an die nächste Generation weitergegeben, auch an die, die den Krieg nur via Youtube aus dem Ausland mitverfolgen. "Die Jugendlichen wachsen in dem Bewusstsein auf, dass überall der Feind lauert und dass du stark sein musst", erklärt Maynat Kurbanova. "Die Geschichte hat uns Misstrauen gelehrt: untereinander und gegenüber dem Staat." Ein tschetschenisches Sprichwort laute: "Versuche, die Polizei nicht zu sehen -und nicht von ihr gesehen zu werden." Die Journalistin ist selbst davon überrascht, wie ausgeprägt der Kampfsport unter den Landsleuten ist, besonders unter Jugendlichen. Strafverteidiger Mayer wundert das nicht: "Sie kommen aus einem repressiven Staat mit der jahrhundertelang geprägten Einstellung von Unterdrückung: Nur der Starke setzt sich durch."

Zurück auf den Gummimatten. Der gebürtige Tschetschene Adam Bisaev hat die Einrichtung "Latar Do" in Wien-Brigittenau gegründet. Er spricht nicht von Kämpferei, sondern nennt es "Zentrum für Bildung und Sport". Hierher kommen junge Tschetschenen, um zu beten, zu kochen oder zu nähen. Und natürlich, um zu trainieren. Was unterscheidet sie von anderen Jugendlichen? "Monster"-Kämpfer Agujev meint: "Probleme lösen wir zum Beispiel nicht immer über die Polizei. Wenn es zu einem Streit kommt, klären wir das mit der Scharia." Die archaische islamische Gesetzesgrundlage wird insbesondere zwischen Familienclans angewandt. Auch am vergangenen Wochenende könnte es auf der Donauinsel um eine Familienfehde gegangen sein. Möglicherweise auch um einen kleineren Waffendeal. Das Landeskriminalamt hält sich bedeckt. Den Grund für die Versammlung kenne man bisher nicht, die Beteiligten verweigerten die Aussage.

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Adam Bisaev sieht den Kampfverein als Bildungszentrum

 © News Ricardo Herrgott
Die Schere zwischen dem, wie es wahrgenommen wird, und dem, was tatsächlich passiert, geht weit auseinander

Das ausgeprägte Ehrgefühl, die Clanstruktur, das Misstrauen gegenüber dem Staat, die unverarbeiteten Kriegstraumata, Kämpfen als Nationalsport - macht das die Tschetschenen nun besonders kriminell? Nein, sagt der Chef der Wiener Abteilung für Straßen-und Bandenkriminalität des LKA, Oberstleutnant Robert Klug. "Das Thema wird in der Bevölkerung hochstilisiert. Die Schere zwischen dem, wie es wahrgenommen wird, und dem, was tatsächlich passiert, geht weit auseinander." Gesamtkriminalistisch könne von keiner Bedrohung gesprochen werden. Eine Auffälligkeit gebe es jedoch schon: Straßenraub. Der liege fast ausschließlich in der Hand von Jugendlichen aus dem kaukasischen Raum.

"Jeder Problemjugendliche träumt in Wahrheit davon, etwas auf die Beine zu stellen", erklärt Maynat Kurbanova, "ihre Aggression basiert auf Hilflosigkeit, nicht gewollt zu werden, und fehlenden Perspektiven." Exilpolitiker Iskhanov sieht das ähnlich: "Sie wollen Helden sein, aber das kannst du hier als 18-Jähriger nicht." Die Aussicht auf die eigene Zukunft mache es zudem schwer, sagt eine Frau, die weiß, wovon sie spricht. Manuela Synek, 57, ist Sozialarbeiterin in der mobilen Jugendbetreuung "Back Bone" im 20. Bezirk: "Nur mit Zielen kann ich Perspektiven entwickeln. Wenn ich keinen Job finde, steigt der Frust."

Und so ergibt eines das andere. Das "Pickerl" vom bösen Kämpfer-Tschetschenen, der sofort zuschlägt, paart sich mit einer aggressiv aufgeladenen Stimmung bei den Jugendlichen selbst. Aber krimineller als andere scheinen Tschetschenen deswegen laut Polizei dennoch nicht.

Haben wir jetzt also ein "Tschetschenen-Problem" oder kommt es auf den Blickwinkel an? Ist es das Problem einer Gruppe, der Integration weit schwerer fällt als anderen im Lande? Oder das einer Gesellschaft, die ihnen misstrauischer begegnet, als sie vielleicht müsste? Die Tschetschenen jedenfalls reagieren so, wie sie es schon immer gewohnt waren: mit Selbstverteidigung. Verbal, wie die Zitierten in diesem Text. Oder mit Fäusten und Waffen. Sie kämpfen.

Wie MMA-Profi Arbi "Monster" Agujev im "Latar Do" trainiert:

© Video: News.at

Dieser Artikel erschien ursprünglich "News" Nr. 06/2017

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