Das Faszinierende war, wie schnell sich die Ereignisse um den Intendanten der Wiener Festwochen entwickelten. Eben noch zur diskreten Durchwinkung in die zweite Amtsperiode bestimmt, verändert er sich plötzlich, ein Jahr vor Ablauf der ersten, ins heimatliche Brüssel. Der Abschiedsschmerz sei kaum zu ertragen, aber die "Headhunter" hätten ihm keine Wahl gelassen! In Wahrheit waren es eher die Wiener Kritiker, die mehrheitlich Begehren nach Christophe Slagmuylders Kopf verspürten. Als die Ausschreibungsfrist schon fast abgelaufen war, wurden seine künstlerischen und wirtschaftlichen Resultate öffentlich (News hat veröffentlicht): Für die diffus programmierten Hops- und Performance-Wochen wurden, bei unveränderter Subvention, weniger Karten aufgelegt als je zuvor, doch die Begehrlichkeit des Publikums hielt sich in gleichfalls rekordverdächtigen Grenzen.
Seither wird (endlich) über die Ausrichtung der Festwochen gesprochen. Gigantische Zeiten waren das, als hier Harnoncourt mit Monteverdi- und Mozart-Opern die Aufführungsgeschichte umschrieb. Später erlebte man dank Peter Brook, Ariane Mnochkine, Claus Peymann, Peter Konwitschny, Patrice Chéreau, Peter Zadek, Andrea Breth, Bob Wilson, Christoph Schlingensief oder Luc Bondy Weltkongresse szenischer Exzellenz, vor denen selbst das (damals noch bemerkenswerte) Berliner Theatertreffen verblasste. Auch Markus Hinterhäuser setzte während seiner beiden Intendantenjahre markante Zeichen.
Ja, aber, liest man nun, die Zeit der Bühnengiganten sei eben vorbei, und das Verbleibende habe man in Wien an jedem Theater. Hat man eben nicht! Sonst wäre das Publikum nicht so unzufrieden, wie die aktuellen Auslastungszahlen etwa der "Burg" und des Volkstheaters es belegen. Dass die Schicksale der dort amtierenden Intendanten noch in Besiegelung mit ungewissem Ausgang sind, hat nach meiner Wahrnehmung einzig damit zu tun, dass ihnen keine geschlossene mediale Ablehnung wie Mijnheer Slagmuylder entgegenschlägt. Offenbar hat es der Belgier verabsäumt, sich in einer engen Kritikerblase mit genügend Freizeit für Jury-Aktivitäten einzurichten. Wie es dem aus Dortmund rekrutierten Volkstheaterdirektor Kay Voges gelingt, der bei leergespielter Hütte die abenteuerlichsten Ehrungen lukriert.
Slagmuylder fehle es an Wokeness, hört man, er sei ein mürrischer Alleinentscheidungsfinder. Das allerdings könnte ihn mir fast sympathisch machen: Ein Intendant soll gern entscheiden, für nichts anderes wird er bezahlt. Und wenn er dann Resultate wie Slagmuylder vorlegt, soll er gehen. Dieses Profil ist mir lieber als das des Volkstheaterdirektors, der in seiner Eigenschaft als Charme in Person ein halbwegs beliebtes Ensemble guillotiniert hat (die Folgen sind geläufig).
Wie also könnten künftige Festwochen beschaffen sein? So wie die von früher. Die Chancen eines Wiener Theatertreffens sind intakt wie nie, so wie das Berliner Original zum Obskurantenkongress verkommt. Man müsste sich nur etwas über Dortmund hinaus orientieren. Vielleicht nach Paris? Von dort kamen die einzig herausragenden Gastspiele der vergangenen Festwochen mit den Wunderschauspielerinnen Isabelle Huppert und Adèle Haenel. Oder nach London? Von dort ist gerade David Hares "Straight Light Crazy" zum Gastspiel nach New York aufgebrochen, mit Ralph Fiennes in der Rolle eines kapitalistischen Monsters. So wie die Festwochen ausstoßarm mit Geld zugeschüttet werden, sollte das leistbar sein. Oder nach Berlin, an die Schaubühne unter Thomas Ostermeier? Dort sieht man, am Akademietheater diskret in der Unbesuchtheit versenkt, Christian Krachts "Eurotrash" mit Angela Winkler und Joachim Meyerhoff (die wir an der "Burg" leider nicht mehr verfügbar haben). Lars Eidinger spielt an der Schaubühne seit Ewigkeiten "Hamlet" und "Richard III", die schon überall, nur nicht in Wien gezeigt wurden. Gegen die aber jeder in Wien gebotene Shakespeare zur Eskapade verblasst. Eidinger wütet sich auch durch einen Einmann-"Peer Gynt". Ist er von den Festwochen schon angefragt? Wurde der andere charismatische Solist, Philipp Hochmair, schon zur Koproduktion eingeladen? Oder Paulus Manker, der einst für die Festwochen "Alma" erfunden hat? Kann es sein, dass er seine "Letzten Tage der Menschheit" NICHT in Wien herausgebracht hat? Tatsächlich, das war in Wiener Neustadt: Scheint die große Theaterwelt auch unerreichbar, die Hoffnung auf Wiener Neustadt lebt. Oder auf St. Pölten? Nikolaus Habjan, von der "Burg" an die "Josefstadt" vertrieben, hat dort Elfriede Jelineks "Königsweg" erstaufgeführt, nach Ansicht der "New York Times" eine der zehn Aufführungen des Jahres 2019 in Europa. Derzeit sieht man am nämlichen Aufführungsort Habjans und Paulus Hochgatterers "Blendung" nach Canetti. Das wäre etwas für die Festwochen gewesen!
Sollten Sie nun das Gemeinsame zwischen all dem Erwähnten suchen: Es nennt sich Theater, das uns aufwühlt und empört, ein Fest der Sprache und der Schauspielkunst, dem Werk, nicht dramaturgischer Autopädagogik verpflichtet. Das andere darf sich gern nach Brüssel verändern.
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