Ganz wichtig zu wissen: Wir alle und vor allem Verantwortungsträger verfügen über eine gehörige Portion an Narzissmus. Es gibt also eine gute, gesunde Form und eine maligne, entartete Form von Narzissmus ebenso wie Graustufen zwischen dem Narzissmus im grünen und jenem im gar nicht mehr grünen, also im zappendusteren, gefährlichen Bereich. Wie schon Paracelsus sagte, macht auch hier die Dosis das Gift. Und narzisstische Eigenschaften zu haben, sich selbst wichtig zu nehmen und durchsetzungsfähig zu sein, bedeutet keineswegs automatisch, ein krankhafter Narzisst zu sein, also nach der internationalen Klassifikation psychiatrischer Erkrankungen an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung zu leiden.
Maligne, bösartige, auch krankhaft genannte Narzissten sind äußerst kränkbar, sadistisch und paranoid. Auch ausgeprägte Narzissten im noch nicht krankhaften Bereich verfügen meist über ein hundsmiserables Selbstwertgefühl und schlagen bei Kritik oftmals rachsüchtig und blindwütig zurück. Sie sind machthungrig und kaum frustrationstolerant. Bei jedweder Kritik entziehen sie sich jenen, die an ihnen zu laborieren haben. Und die häufig nicht mit ihnen, aber auch nicht ohne sie können.
Zum Wohlergehen des Kollektivs
Der gesunde Narzissmus zeichnet sich mithin dadurch aus, dass die Handlungen nicht nur im Eigeninteresse, sondern zum Wohlergehen des Kollektivs geschehen. Und, was wohl der wichtigste Unterschied zur Krankheit ist: Der gesunde Narzisst ist empathiefähig. Während Trump oder Erdoğan ganz klar zu rücksichtslosen malignen Narzissten erklärt worden sind, hat das tadellose Image von Sebastian Kurz erst seit Kurzem an Strahlkraft eingebüßt. Der Heilsbringer unter Narzissmus-Verdacht. Aber ist das noch gesund? Beziehungsweise: Woran ist zu erkennen, ob er es wirklich ernst meint mit seiner Liebeserklärung an die Heimat im Sinne von "Austria First"?
In einem solchen Dilemma befindet sich derzeit Österreich. Und jetzt? Fragen wir uns nach der Entstehung eines Phänomens wie jenes von Sebastian Kurz. Wie konnte ein Student beim Staat Österreich "so gern landen"? Um das zu begreifen, schauen wir uns an, auf welchen Boden das Samenkorn fiel: in eine emotional unterernährte und visionär brachliegende Steppe eines fossilen Systems, das nichts dringender als junge Keime brauchte. Und eben diese längst fällige Frischzellenkur, das politische Facelift und das romantische Wachküssen der Nation versprach der Jüngling und gleichsam Märchenprinz, der Österreich wieder zum historischen Glanz einer Habsburgermonarchie zurückzubringen schien.
Latente Größenfantasien
Endlich! Lichtgestalt und Mister Right. Und alle Hoffnungen, Erwartungen und Wünsche kumulierten in ihm, mit ihm und durch ihn schon religiös in einer säkularisierten Welt, der es an Identifikationsfiguren und Werte vermittelnden Vätern und Müttern mangelt. Der dem Geilomobil entstiegene Deus ex Machina traf auf etwas, das ihn im jugendlichen Narzissmusrausch nur beflügeln konnte: auf eine fast schon an Massenhysterie grenzende kollektive Idealisierung seiner Person. Er wurde vom Popstar zum Mythos. Endlich war der Messias da, auf den man gewartet hatte. So viel zur tiefenpsychologischen Sicht auf die Bedürfnislage in einem Land, das an chronischer Kastrationsangst leidet. Zum Zwergenstaat zurechtgestutzt, sind in Österreich latente Größenfantasien abgespeichert: Erwartungen von Superlativen und dem neuen Kaiser.
Er kam, sah und regierte
Und Kurz? Kam, sah und regierte nach dem Motto "Kurz kann Kanzler". Naturgemäß braucht es eine ordentliche Portion gesunden Narzissmus, um das zu schaffen. Er ist ein begnadeter Stratege und äußerst suggestiv. Sein knabenhaftes Pokerface lässt keine Emotionen lesen, die Körpersprache imponiert perfekt einstudiert, aber eben so perfekt, dass es schon natürlich wirkt. Und dann sein Switching zwischen zwei Attitüden. Einmal ist er "einer von uns". Dann ist er unantastbar. Man unterwirft sich, um sich nicht schuldig zu fühlen und die Hoffnung nicht einzubüßen, dass alle romantischen Weissagungen sich erfüllen. Psychologisch gesehen wünschen wir uns nichts sehnlicher als einen Jüngling reinen Gemütes, der uns bevatert. Uns sagt, wo es langgeht, uns auf den rechten Weg führt und uns in Sicherheit bringt. Diese Nachbeelterung wünschen sich die meisten mehr, als ihnen bewusst ist. Kurz gibt den perfekten Übervater, gerade weil oder wenngleich er jung und erstaunlich ist.
Entzauberung der Realität
Alle menschlichen Seiten mit Fehlern und Schwächen werden vom kollektiven Traum vom Messias überblendet. Ob hier ein gesunder Narzissmus wirkt oder nicht, wird das künftige Verhalten zeigen. Die aktuelle Strategie ist wohl eine Art Lazarus-Phänomen oder auch die Wiederauferstehung des Totgesagten. Und das ist zweifellos perfekt inszeniert innerhalb der fast schon hypnotischen Wirkung des jungen unkaputtbaren Steuermannes, der stoisch aller Kritik zum Trotz die Titanic über den Eisberg hinwegsteuern will. Das Traurige ist die Co-Abhängigkeit: Wir brauchen frisches Blut, um dem Fluch der Stagnation zu entrinnen. Es geht jetzt um eine kollektive Ernüchterung. Eine Entzauberung der Realität, der wir gewachsen sind. Oder eben nicht.
Prof. Mag. Dr. Monika D. Wogrolly, Philosophin und Psychotherapeutin
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