Bei einigen schaut er nur hier und da vorbei, bei anderen ist er ein - wohlgemerkt ungebetener - Dauergast. Die Rede ist von Schmerz. Wie hält man ein Leben mit permanenten Schmerzen aus? Und können wir allein mit der Kraft des Geistes Schmerz besiegen. Prof. Dr. Michael Bach über die psychischen Hintergründe von Schmerz.
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Welche Rolle spielt unsere Psyche bei der Entstehung von Schmerzen?
Die offizielle Definition der Internationalen Schmerzgesellschaft, kurz IASP, definiert Schmerz als "ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis". Schmerz ist also einerseits ein sensorischer, körperlicher Vorgang, so wie auch Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen, und andererseits ein emotionaler, psychischer Vorgang, vergleichbar mit Angst, Trauer oder Wut. Folglich haben wir es beim Schmerz immer mit einem psycho-somatischen Gesamtphänomen zu tun. Die alte Aufteilung in körperlichen und psychischen Schmerz müssen wir heute daher fallen lassen. Wenn wir nun davon ausgehen, dass Schmerz immer gleichzeitig körperlich und psychisch ist, dann spielen psychische Faktoren klarerweise auch bei der Entstehung von Schmerzen eine entscheidende Rolle.
Während einige Menschen relativ selten unter Schmerzen leiden, trifft es andere häufiger. Woran liegt das?
Schwerwiegende psychische Belastungen und Konflikte, emotionale Krisen und Traumata können eine Person schmerzanfälliger machen. Ebenso psychische Störungen wie Depressionen oder Angststörungen. Das lässt sich heute auch neurobiologisch erklären: Schmerzen entstehen im Gehirn. Über aufsteigende Nervenbahnen empfängt unser Gehirn Informationen aus dem Körper, die zu Schmerzerfahrungen umgewandelt werden. Gleichzeitig hält ein absteigendes schmerzhemmendes System, also Nervenbahnen, die vom Gehirn in den Körper führen, die einströmenden Nervenimpulse in Schach. Normalerweise befinden sich die aufsteigenden Schmerzimpulse und die absteigenden schmerzhemmenden Impulse im Gleichgewicht. Durch starke emotionale Prozesse im Gehirn werden die absteigenden Bahnen aber geschwächt. Dadurch gewinnen die aufsteigenden Bahnen Überhand und das Gehirn wird mit Schmerzinformation überflutet.
Können wir unser Schmerzempfinden allein mit der Kraft der Gedanken steuern?
Ja. Wie bereits gesagt, entsteht der Schmerz erst im Kopf. Das neuronale Netzwerk, das hier für die Schmerzverarbeitung zuständig ist, besteht im Wesentlichen aus drei Teilen: dem körperlichen-topographischen, dem emotionalen und dem kognitiven System. Das körperlich-topographische System befindet sich in der Großhirnrinde. Es verarbeitet die räumliche und zeitliche Dimension des Schmerzes und liefert quasi Antworten auf Fragen wie: Wo tut es weh? Wie stark tut es weh? Und: Ist der Schmerz eher schneidend, stechend, ziehend oder klopfend? Das emotionale System ist im limbischen System angesiedelt. Es gibt Auskunft über die Qualität des Schmerzes: Ist er quälend, störend, lähmend, vernichtend? Das kognitive System liegt im Präfrontalcortex, also im Stirnlappen. Es verarbeitet unsere Bewertung und Einstellung dem Schmerz gegenüber. Fühle ich mich hilflos und ausgeliefert? Oder ist der Schmerz bewältigbar? Vielleicht sogar eine Herausforderung zum Wachsen und Reifen? Fakire haben gelernt, die Schmerzinformation soweit zu verändern, dass sie sich von ihr distanzieren können. Der Schmerz ist zwar noch da, er stört aber nicht mehr. Im Rahmen einer schmerzpsychotherapeutischen Behandlung kann man Techniken erlernen, mit denen man die Schmerzwahrnehmung steuern und verändern kann. Dabei erfolgt eine Veränderung im kognitiven und emotionalen System.
Welchen Einfluss hat Stress auf unser Schmerzempfinden?
Akuter Schmerz ist eine Stressreaktion, ein Alarmzeichen, das uns signalisiert, dass etwas auf körperlicher, emotionaler oder gedanklicher Ebene nicht stimmt. Stressoren können das Schmerzempfinden also verstärken. Umgekehrt können akute Schmerzen zu einer verstärkten Stressreaktion führen. So entsteht ein Teufelskreis aus Stress, Muskelverspannungen und Schmerzen, die zu noch mehr Stress, Verspannung und Schmerz führen.
Um den Teufelskreis zu durchbrechen, sollte ich also Stress reduzieren. Oft ist uns aber gar nicht bewusst, was genau uns stresst. Wie kann man das herausfinden?
Wir unterscheiden zwischen dem Eustress und dem Distress. Der Eustress umfasst zeitlich begrenzte, gesunde Stressreize, die uns herausfordern, anspornen und zum Wachsen einladen. Diese Form des Stresses tritt zum Beispiel bei Wettkämpfen auf. Beim Distress handelt es sich um ein längerfristiges Ungleichgewicht zwischen Belastungen und Ressourcen, das schließlich zu Überlastung und Überforderung führt. Im Rahmen einer Psychotherapie oder klinisch-psychologischen Behandlung kann man eine Stressorenanalyse machen. So kann man herausfinden, wo die individuellen Belastungsmomente liegen.
Mit welchen Methoden kann ich Stress reduzieren?
Mithilfe von erlernbaren Selbstkontrolltechniken. Darunter fallen Entspannungsübungen, Achtsamkeitsübungen, Meditationstechniken, Emotionswahrnehmungs- und Körperwahrnehmungsübungen, Atemtechniken, soziales Kompetenztraining wie Konfliktmanagement und kognitive Techniken. Bei Letzteren geht es um das Erkennen und Verändern ungünstiger Einstellungen und Bewertungen, wie es zum Beispiel der Fall ist, wenn wir etwas katastrophisieren.
Für viele Menschen ist Schmerz ein täglicher Begleiter. Wie kann man das aushalten?
Durch ein Schmerzbewältigungstraining im Rahmen einer Psychotherapie oder einer klinisch-psychologischen Behandlung kann man lernen, den Schmerz zu kontrollieren anstatt sich von ihm kontrollieren zu lassen. Weiters kann durch eine gezielte Auseinandersetzung mit zugrundeliegenden schmerzhaften Erinnerungen aus der eigenen Biographie die psychologische Funktion des Schmerzes entschlüsselt werden. Der Schmerz wandelt sich nach und nach vom übermächtigen Monster zum nörgelnden, lästigen Begleiter, der gezähmt und beherrscht werden kann.
Wie Sie bereits erläutert haben, hat Schmerz eine gewisse Schutzfunktion. Kann Schmerz auch gefährlich werden?
Schmerz, insbesondere chronischer Schmerz, ist in der Regel nicht gefährlich. Man stirbt nicht daran. Im Gegenteil: Man ist dazu verurteilt, mit dem Schmerz zu leben und sich mit ihm auseinanderzusetzen. Allerdings haben Menschen mit chronischen Schmerzen ein leicht erhöhtes Suizidrisiko. Wenn es nicht gelingt, sich konstruktiv mit dem Krankheitsgeschehen auseinanderzusetzen und den Schmerz zu bewältigen, kann er im Einzelfall auch lebensgefährlich werden.
Welche Vor- und Nachteile hat der Einsatz von Schmerzmitteln?
Schmerzmedikamente können die Schmerzverarbeitung auf unterschiedlichen Ebenen günstig beeinflussen und die Schmerzen damit reduzieren oder auch kurzfristig komplett unterdrücken. Ein schmerzfreies Leben ist allerdings nicht realistisch und daher auch kein Therapieziel. Wer wiederholt oder andauernd Schmerzen hat, ist gefordert, sich damit selbständig auseinanderzusetzen und die Schmerzen beziehungsweise die zugrundeliegende körperliche und/oder psychische Problematik zu bewältigen. Diese Aufgabe kann dem Patienten kein Medikament und kein Arzt auf dieser Welt abnehmen! So gesehen können Ärzte Schmerz nicht eliminieren. Schmerz gehört zum Leben dazu. Er rüttelt auf, stellt Fragen und fordert Antworten heraus.
Weitere Informationen zum Umgang mit Schmerzen finden Sie im Online-Kurs auf selpers.
Schmerzen verstehen
Schmerztagebuch: Schmerzen verstehen und loswerden!
Achtsamkeit und Schmerz: Stress, Schlafstörungen, Stimmungsschwankungen und Schmerz wirksam lindern
Wenn Sie Suizidgedanken haben oder sich um jemanden sorgen, kontaktieren Sie bitte die Psychiatrische Soforthilfe unter 01/31330. Sie bietet rund um die Uhr Rat und Unterstützung im Krisenfall. Die österreichweite Telefonseelsorge ist unter 142 ebenfalls jederzeit gratis zu erreichen.
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