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Schlaglichter aus Chicago

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Peter Sichrovsky

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Illinois wird zum Abtreibungszentrum der USA.

Chicago, die drittgrößte Stadt der USA, macht den Eindruck einer Metropole am Meer. Sie liegt am Lake Michigan, einem der fünf großen Seen an der Grenze zu Kanada, die größte Süßwasserfläche weltweit. Steht man am Strand, mitten in der Stadt am Ende der Einkaufsmeile 'Michigan Avenue', sieht man das gegenüberliegende Ufer nicht. Mit den Vororten leben im Großraum Chicago etwa zehn Millionen Menschen. Chicago ist nicht die Hauptstadt von Illinois, sondern Springfield, die Heimat des ehemaligen Präsidenten Abraham Lincoln. In Springfield residiert J. B. Pritzker von der Demokratischen Partei, der Gouverneur von Illinois, aus der Pritzker-Dynastie, einer der reichsten Familien der USA.

Bundesstaaten

In Illinois haben die Demokraten traditionell die Mehrheit, im Gegensatz zu den umliegenden Bundesstaaten Wisconsin, Indiana, Iowa, Kentucky und Missouri, wo die Republikaner regieren. Auf einer Karte mit der klassischen Färbung – rot für Republikaner und blau für Demokraten – ist das blaue Illinois völlig eingeschlossen von zwei Ringen roter Bundesstaaten mit strikten Abtreibungsgesetzen. Da es keine Grenzen zwischen den Bundesstaaten gibt und Abtreibung legal ist, wenn der Eingriff in einem anderen Bundesstaat vorgenommen wird, ist Illinois mit mehr als einem Dutzend moderner Kliniken heute ein wichtiges gynäkologisches Zentrum in der geografischen Mitte der USA. Die Regierung in Washington kooperiert mit demokratisch regierten Bundesstaaten und finanziert diese Einrichtungen.

"Die Biden Administration reagiert auf die absurden Bestimmungen von Trump mit der Finanzierung und dem Ausbau der Titel-X-Familienplanung", erklärte Gouverneur Pritzker nach den Verschärfungen der Bestimmungen in den umliegenden Bundesstaaten. Das 'Titel X'-Programm wurde 1970 von Präsident Nixon beschlossen, um Frauen mit einer gebührenfreien Abtreibung zu helfen. 21 Bundesstaaten – mit Republikanern in den Regierungen – stoppten bereits dieses Projekt.

Mississippi

Für ein zwölfjähriges Mädchen in Mississippi kam selbst das Angebot aus Illinois zu spät. Nach einer Vergewaltigung im Garten des eigenen Wohnhauses verheimlichte das Mädchen den Zustand wochenlang. Als es fast zu spät war, versuchten die verzweifelten Eltern eine Zusage für eine Beendigung der Schwangerschaft von den lokalen Behörden zu bekommen. Diese wurde verweigert. Es bestünden keine gesundheitlichen Gefahren für Mutter und Kind. Chicago war neun Stunden mit dem Auto entfernt. Die Familie konnte die Kosten für die Fahrt nicht aufbringen und mehrere Tage vom Arbeitsplatz fernzubleiben, war ebenfalls nicht möglich. Letzte Woche gebar das jetzt 13-jährige Mädchen einen Sohn und konnte wochenlang nicht zur Schule gehen. Die Eltern müssen zusätzlich zu den vier Kindern jetzt noch ein Enkelkind versorgen.

Früher konnten Bewohner von Mississippi nach Memphis fahren, das nur 90 Minuten entfernt liegt. Inzwischen gilt auch dort das Verbot. Mississippi hat seit dem Ende der Abtreibungen eine Müttersterblichkeitsrate von 45 pro 100.000 Einwohnern. Das Niveau eines Entwicklungslandes. In Chile liegt sie bei 22, in Deutschland bei 4 und in Australien bei 2.

Waukegan

Natalee Hartwig arbeitet als Krankenschwester in Waukegan, einer Kleinstadt 20 Kilometer südlich der Grenze zwischen Wisconsin und Illinois. "Ich fahre jeden Morgen zwei Stunden mit dem Auto über die Grenze nach Illinois", sagte sie in einem Interview, "die Klinik, in der ich viele Jahre gearbeitet hatte und nur zehn Minuten entfernt war, wurde geschlossen." Nach der Entscheidung des U.S. Supreme Court gegen das Recht auf Abtreibung aktivierte die Regierung von Wisconsin eine 173 Jahre alte Verordnung, die einst Abtreibungen verboten hatte. Das betrifft auch Vergewaltigung und Inzest.

Jetzt arbeitet Hartwig in der Waukegan Clinic, 60 Prozent der Patientinnen dieser Klinik kommen von außerhalb Illinois, sind sogenannte "out-of-state patients". Die Waukegan Clinic wurde erst vor zwei Jahren eröffnet und ist eines der Dutzend Zentren, die mit Geldern der Regierung nahe den Grenzen zu umliegenden Bundesstaaten eröffnet wurden. Neben Hartwig arbeitet ein medizinisches Team von Ärzten und Ärztinnen, die zum Teil aus Wisconsin kommen. Viele haben ihre Patientinnen mitgebracht, arbeiten als Gynäkologen in Wisconsin und verlagern notwendige Eingriffe in die Kliniken in Illinois. Die aufgelassenen Zentren in den umliegenden Bundesstaaten organisierten "Hotlines", über die Frauen nicht nur erfahren, in welchen Kliniken Behandlungsplätze frei sind, sondern wo Ärzte und Ärztinnen aus ihrer Heimatstadt arbeiten.

Carbondale, eine bisher kaum beachtete Kleinstadt im Süden von Illinois nahe der Grenze zu Missouri, hat jetzt drei moderne Abtreibungskliniken und Patientinnen aus einem halben Dutzend Bundesstaaten. Auch hier wie in anderen Orten konzentrierten Abtreibungsgegner und Gegnerinnen in ihren orangenen Overalls ihre Aktivitäten vor den Kliniken, um Patientinnen abzuschrecken, bis Sicherheitskräfte sie in einen Sicherheitsabstand zurückdrängten.

Kristen Schultz, die Leiterin der Illinois Kliniken für "Planned Parenthood" sagte in einem Interview: "Wir bekommen Patientinnen von elf verschiedenen Bundesstaaten, manche fahren zwei bis drei Tage mit dem Auto, um uns zu erreichen, wir haben eine Verantwortung, und die werden wir erfüllen."

Die Sprecherin der größten "Anti-Abortion Group", Amy Gehrke, kündigte an, alles dafür zu tun, um Illinois zu verbieten, Patientinnen von außerhalb des Bundesstaates aufzunehmen. Das Modell von Illinois, an den Grenzen zu Nachbarstaaten Kliniken einzurichten, die Bestehenden auszubauen und zu modernisieren, um Patientinnen unabhängig vom Wohnort Hilfe anzubieten, ist auf großes Interesse gestoßen. Von etwa 45.000 Abtreibungen 2020 in Illinois entfiel ein Drittel auf "out-of-state"-Patientinnen. Die Zahl erhöhte sich von Jahr zu Jahr. Im ersten Halbjahr 2023 stieg die Anzahl der "out-of-state"-Patientinnen im Vergleich zum Vorjahr um 30 Prozent.

Hotline

Im Jänner 2023 reagierte Gouverneur Pritzker auf die Drohungen der Nachbarstaaten, Frauen per Gericht zu verfolgen, die in Illinois Unterstützung suchen. Er unterzeichnete das Dokument HB4664, das Frauen, unabhängig von ihrem Wohnort, das Recht garantiert, in Illinois eine Klinik aufzusuchen. Damit schützte er die "out-of-state"-Patientinnen und auch das medizinische Personal, das aus anderen Bundesstaaten in Illinois arbeitet.

"Wir verstehen das Recht auf Abtreibung als Teil der Gesundheitsversorgung, als eine medizinische Entscheidung zwischen Arzt und Patientin, niemand sonst sollte sich einmischen und eine Entscheidung treffen können“, erklärte Pritzker bei der Unterzeichnung des Gesetzes.

Die Regierung von Illinois finanziert einen sogenannten Abortion Navigator – erreichbar im ganzen Land mit einer gebührenfreien Telefonnummer –, der Informationen anbietet für Termine, finanzielle Unterstützung und Organisation der Anreise für "out-of-state"-Patientinnen.

Präsidentenwahl

Die unterschiedlichen Gesetze in den Bundesstaaten könnten einen Einfluss auf die Präsidentschaftswahlen 2024 haben. Während Frauen der "Black Community" und "Hispanics" traditionell mehrheitlich die Demokraten wählen, sind die "weißen" Frauen die große Unbekannte der nächsten Wahlen. Bei der letzten Präsidentenwahl wählten 55 Prozent von ihnen Trump. Die Abtreibungsdiskussion gefährdet diese sichere Mehrheit unter "weißen" Wählerinnen für die Republikaner. Sie könnten einen Teil an die Demokraten verlieren.

Die Mehrheit der Frauen – unabhängig von Herkunft und politischer Überzeugung – unterstützt das Recht auf eigene Entscheidung. Der Verlust von "weißen" konservativen Wählerinnen könnte den Republikanern die Präsidentenwahl kosten. Bereits 2022 sagte Biden über die für die Demokraten erfolgreichen Senats- und Kongresswahlen: "Die Republikaner haben in diesem Land eine mächtige Kraft aufgeschreckt – die Frauen."

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