Die Welt wundert sich. Bis zur "Washington Post" hat sich das "unerwartete" Ergebnis einer österreichischen Regionalwahl durchgesprochen: Stimmenmehrheit für die Kommunistische Partei in Graz. Schockierender Linksruck? Turbulente Wählerdynamik im Zuge der Coronapandemie, wie der US-Nachrichtendienst Bloomberg vermutet? Oder ein Modell dafür, wie linke Politik im Jahr 2021 erfolgreich sein könnte? Letztere Lesart erfreut sich in Österreich, wo man weiß, dass nun nicht die marxistische Weltrevolution made am Plabutsch droht, einer gewissen Beliebtheit.
"Friedliche Koexistenz"
Fast 29 Prozent der Stimmen, stärkste Partei, den Bürgermeisterinnenposten in Griffweite, diese Erfolgsgeschichte regt die Fantasie an. Lässt sich hier lernen, wie es geht? Könnte die notorisch - und insbesondere auch bei den jüngsten Wahlen in Graz und Oberösterreich - enttäuschende SPÖ nach dem Vorbild der Grazer KPÖ neue Lebenskraft gewinnen?
Vorgeschichte
Das steirische Kommunalwahlwunder, über das die Welt spricht, hat eine lange Vorgeschichte. "1989/90, als die sogenannten sozialistischen Staaten zusammengebrochen sind, war natürlich auch die KPÖ in einer Krise, und wir mussten uns überlegen, wie wir weiterarbeiten", erzählt Manfred Eber, bisher Klubobmann der KPÖ im Grazer Gemeinderat und künftiger dritter KPÖ-Stadtrat. In der Steiermark, und nur dort, kamen die Kommunisten zu dem Schluss, sich fortan auf Kommunalpolitik und Betriebsarbeit konzentrieren zu wollen, und begaben sich damit auf einen Sonderweg, der, heute wahlsieggekrönt, nicht immer und bei allen gut ankam. Eber spricht höflich von "friedlicher Koexistenz" mit den Genossinnen und Genossen aus anderen Bundesländern. Die Grazer Kommunisten waren auch nicht mehr im KP-Bundesvorstand vertreten, "weil wir gesagt haben, es ist vergebene Liebesmühe und wichtiger, in Graz vor Ort etwas zu machen". Erst in den letzten Monaten habe es wieder eine Annäherung gegeben.
Bodenständigkeit
"In Graz vor Ort etwas machen": In diesen sechs unscheinbaren Wörtchen verbirgt sich ein Politikkonzept mit ungeheurer Kraft. Es war der frühere Grazer KP-Stadtrat Ernest Kaltenegger, der das Thema Wohnen in den Mittelpunkt seines Wirkens stellte und mit großem Engagement half, wo Hilfe nötig war. Es war auch Kaltenegger, der damit begann, einen beträchtlichen Teil seines Gehalts für karitative Zwecke zur Verfügung zu stellen. Eine Mietnachzahlung hier, eine neue Waschmaschine dort. Eine Entwicklung, die Elke Kahr, Stadträtin seit 2005, glaubwürdig fortsetzte. Eber subsumiert: "Fakt ist, dass wir schon seit vielen Jahren -oder schon fast Jahrzehnten -sehr konsequente und bodenständige Politik betreiben. Das heißt, wir sind immer sehr nahe an den Menschen dran und habe offene Büros für alle Anliegen der Grazerinnen und Grazer."
Konsequenz und Wohnen
Zwei Aspekte hält KPÖ-Klubobmann Eber selbst an der Erfolgsgeschichte der Grazer KPÖ für entscheidend: die Konsequenz, mit der seit den 80er-Jahren auf ein Thema -das Thema Wohnen -gesetzt wurde. Und die Politik der offenen Türen. Elke Kahr, deren Handynummer öffentlich zugänglich ist, habe im Jahr "Tausende persönliche Kontakte, wo Leute zu ihr kommen und ihre Probleme schildern", beschreibt Eber. Eine ungeheuer umtriebige Ombudsfrau im Dienste der Bedürftigen. "Das ist natürlich auch umgekehrt wichtig, weil wir so oft erst auf Probleme draufkommen, die wir politisch lösen müssen."
Eine Vorgehensweise, die linken Parteien zu empfehlen wäre? "Ich würde sogar sagen, das ist die Grundvoraussetzung, wenn man linke Politik machen und letztendlich auch erfolgreich sein möchte. Aber ich habe den Eindruck, dass vielen oft auch die Geduld und die Ausdauer fehlen. Wie gesagt, es war intensive Arbeit über Jahrzehnte, die jetzt in dem überraschenden Ausmaß belohnt worden ist. Das geht nicht von heute auf morgen."
Protestwähler
Ein magisches Erfolgsrezept? Nicht ganz. Lehren aus einem Kommunalwahlkampf sind schwer zu verallgemeinern, und im Grazer Wahlkampf 2021 kamen ganz spezielle Themen-und Stimmungslagen zusammen, die dazu führten, dass die KPÖ auch in bürgerlichen Kreisen breit reüssieren konnte. Bei Wählerinnen mit christlich-sozialem Weltbild etwa, die, von der sozial unterkühlten ÖVP enttäuscht, ihr Kreuzerl diesmal ganz links machten. "Ich glaube, dass das gar nicht wenige sind", sagt KP-Mann Eber. "Viele Leute haben uns im Wahlkampf gesagt, sie sind sicher keine Kommunisten und haben schon oft die ÖVP gewählt, aber sie sind mit diesem Bürgermeister und mit dieser Orientierung nicht zufrieden und schenken der KPÖ diesmal aus Protest das Vertrauen."
Trotz aller Schwierigkeiten, die konkreten Umstände zu verallgemeinern, zeige der Fall Graz eines klar, sagt der auf die Erforschung der Grazer KPÖ spezialisierte Politikwissenschaftler Manès Weisskircher: "Strategien und politischer Einsatz können langfristig einen Unterschied machen. Österreich war lange Zeit von der starken Rolle der FPÖ geprägt, aber das ist kein Naturgesetz. Der Fall zeigt, dass Akteure mit effektiven politischen Ansätzen trotz widriger Kontextbedingungen einen großen Unterschied machen können, auch wenn das oftmals ein langfristiger Prozess ist. Er zeigt auch, dass kurzfristige Schwerpunktsetzungen vielleicht weniger ausschlaggebend sind als langfristige politische Ansätze und das Erarbeiten von Glaubwürdigkeit." Politische Nachhaltigkeit statt hochglanziger Schnellschussaktionen also. Mehr Sein als Schein. Glaubwürdigkeit und Kontinuität statt hohler Versprechungen, die gerade einmal bis zum nächsten Wahltag reichen.
Parteiloyalitäten schwinden
Der Politologe Anton Pelinka nennt zwei Lehren, die etablierte Parteien aus der Grazer Wahl plus KPÖ-Erdrutsch ziehen können. Zum einen, dass der Begriff "kommunistisch" in Graz offenbar seinen Schrecken verloren habe. "Zum anderen bedeutet es, dass Parteiloyalitäten immer stärker zerbrechen. Diejenigen, die in Graz KPÖ gewählt haben, werden sicherlich nicht für die nächsten Jahre KPÖ-Anhänger bleiben. Das heißt, die KPÖ als Partei wäre falsch beraten, würde sie glauben, sie kann jetzt gleichsam durchmarschieren. Aber für die anderen Parteien heißt das zugleich, sie können sich nicht mehr darauf verlassen, dass das hält, was sie haben."
Das ist insbesondere für die SPÖ eine schlechte Nachricht. Eine Partei, die seit Jahren in den Seilen hängt und sich, von internen Querelen aufgerieben, zu keinem entschlossenen Neubeginn aufraffen kann. "Die SPÖ", analysiert Pelinka, "hat von den im Nationalrat vertretenen Parteien sicherlich am wenigsten prinzipielle Gegner, aber sie hat auch am wenigsten prinzipielle Freunde. Sie ist blass geworden. Die Sozialdemokratie braucht erkennbare Farbtupfer. Signale, die sie ausschickt, und da wäre ja das erste Signal die Person der Parteivorsitzenden, aber auch sie hat die Chance nicht genutzt." Die Sozialdemokratie müsse, meint Pelinka, wie die KPÖ in Graz auf lokaler Ebene, "ein mächtiges Signal aussenden. Ich glaube nicht, dass man das eins zu eins auf die Bundesebene übertragen kann, aber irgendetwas muss die SPÖ tun, um positiv aufzufallen."
Unrealistisch, dass SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner - wie Elke Kahr in Graz -Mietprobleme löst und die defekten Waschmaschinen ihrer Wählerinnen austauscht. Aber es brauche, sagt der Politologe, einen großen ideologischen Wurf. "Die SPÖ müsste sich als die Partei aufstellen, die massiv für Bildung eintritt und die massiv international agiert, stattdessen geht es immer nur um Kleinkram. Kleinkram kann man in der Lokalpolitik diskutieren. Auf nationaler Ebene braucht man, was Bruno Kreisky, Willy Brandt oder Tony Blair, der letzte große Wahlsieger der europäischen Sozialdemokratie, hatten: einen großen Entwurf, ein große Botschaft, ein zentrales Narrativ. Das hat Frau Kahr lokal hinbekommen."
Müsste sich die SPÖ klarer auf die Seite der Armen stellen, wie es die KPÖ macht? "Ja, die Frage ist nur: Wer sind die Armen? Das sind ja hauptsächlich Menschen, die nicht österreichische Staatsbürger sind und trotzdem in Österreich leben.,Für unsere Leute', das ist das Thema der FPÖ. Die Frage ist, wie kann die SPÖ erreichen, dass man soziale Bedürftigkeit nicht mit Fremdenfeindlichkeit verbindet. Das sollte die SPÖ diskutieren, wagt sich aber nicht daran. Man darf sich nicht immer verschrecken lassen vom nächsten Wahltermin. Die SPÖ ist stecken geblieben im kurzfristigen Taktieren, es fehlt eine langfristige Strategie. Man muss halt auch in Kauf nehmen können, dass man die oberösterreichische Landtagswahl einmal verliert."
Fokus Wohnen
Wenn der direkte Vergleich auch hinken mag, der Fall der Grazer KPÖ wirft doch ein grelles Schlaglicht auf die Schwächen der Sozialdemokratie. Auf inhaltliche Unentschlossenheit und mangelnde Volksnähe. Hier die bodenständige Elke Kahr, die, aus einem schlecht beleumundeten Grazer Viertel stammend, auch offen darüber spricht, ein Adoptivkind zu sein, dort die gutbürgerlich auftretende SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner.
Dabei hat die KPÖ das alles nicht erfunden. Das Thema Wohnen etwa, erinnert Manès Weisskircher von der Universität Oslo, gehört zum festen Repertoire der erfolgreichen Wiener SPÖ. "Nicht umsonst hat die Partei auch wieder begonnen, kommunalen Wohnungsbau zu forcieren."
Herr hinterfragt SPÖ-Ausrichtung
Die SPÖ-Nationalratsabgeordnete Julia Herr gehört zu jenen, die die Ausrichtung der SPÖ immer wieder kritisch hinterfragen. Sie sagt: "Es war sicher klug von der KPÖ in Graz, ein bestimmtes Ressort stark zu besetzen. Klar ist, es muss eine zentrale, klare Botschaft geben, aber auch das fordere ich unabhängig von der KPÖ schon seit Jahren ein. Ein klares Ziel und eine klare Handschrift sind immer wichtig." Ganz konkret, meint Herr, müsse die SPÖ sich jetzt beim Thema der Finanzierung der Coronakrise stark positionieren. "Wenn wir bei der Frage, wer diese Krise zahlen soll, nicht mutig sind und einen solidarischen Weg aufzeigen, bei dem jeder einen Beitrag leistet, auch die Millionäre und Milliardäre in diesem Land, werden die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler drauf sitzen bleiben. Das darf nicht passieren."
Das Engagement, mit dem Elke Kahr und ihr Team Bürgerkontakt pflegen, sieht Herr auch bei SPÖ-Kommunalpolitikern wie Markus Vogl in Steyr oder Andreas Babler in Traiskirchen. Auch in der Obersteiermark habe es wegen der erfolgreichen Arbeit vor Ort starke Zugewinne gegeben, erinnert sie. "Dass dieser Kontakt wichtig ist, das sehen wir natürlich auch in unseren Gemeinden. Aber um das zu erkennen, hat es nicht die Graz-Wahl gebraucht. Der persönliche Kontakt kann durch Social Media oder Inserate nie ersetzt werden."
Letztendlich interpretiert Julia Herr, Umweltsprecherin ihrer Partei, den Grazer KPÖ-Wahlerfolg als Zeichen, mit linker Politik Erfolg haben zu können. "In Graz hat die KPÖ mit einem de facto sozialdemokratischen Wahlprogramm, einer glaubwürdigen Spitzenkandidatin und einer Umsetzungsoption gezeigt, dass linke Mehrheiten möglich sind. Und das ist natürlich schon etwas, worauf wir hinarbeiten."